Aus der Wörtersammlung: sichtbar

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im juli

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echo : 0.10 UTC — Ein­mal, vor einem Jahr prä­zi­se, ging ich im Haus der alten Men­schen her­um. Da waren geöff­ne­te Türen, und da schau­te ich hin­ein in die Zim­mer. Ich beob­ach­te­te einen alten Mann, der vor sei­nem Roll­stuhl knie­te, und eine alte Dame mit schloh­wei­ßem Haar, die lag wie ein Mäd­chen, mit weit von sich gestreck­ten Armen und Bei­nen im Bett wie in einer Som­mer­wie­se. An einem wei­te­ren Tag beob­ach­te­te ich ein Bett, in des­sen Kis­sen­tie­fe ein klei­ner Mensch ruhen muss­te. Nur Hän­de waren von ihm zu sehen, die sich beweg­ten, die Schat­ten war­fen, die spiel­ten oder mit der Luft spra­chen, Stun­de um Stun­de, Tag für Tag. — Und jetzt ist ein Jahr spä­ter gewor­den, es ist Novem­ber, es ist Zeit zu berich­ten, dass der klei­ne unsicht­ba­re Mensch im August gestor­ben ist. Viel­leicht ist er an den Wir­kun­gen der Zeit gestor­ben oder aber in sei­nem Bett an den Fol­gen eines ohren­be­täu­ben­den Lärms, der auf ihn ein­wirk­te mona­te­lang, weil man das Haus über ihm um ein Dach­ge­schoss erwei­ter­te, wäh­rend er noch immer in sei­nem Bett lag. Aber das ist natür­lich nur eine Ver­mu­tung öder eine Befürch­tung oder eine Behaup­tung, nichts wei­ter. — stop

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san zaccaria

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nord­pol : 23.01 UTC — Cla­ra, ein Nas­horn, wel­ches vor lan­ger Zeit als leben­des Schau­stück durch Euro­pa reis­te, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Kar­ne­vals auch in Vene­dig zu sehen gewe­sen sein. 1720 bereits wur­de das Café Flo­ri­an am Ran­de des Mar­kus­plat­zes eröff­net. Man stel­le sich ein­mal vor, wie das aus­ge­wach­se­ne Nas­horn wie­der­käu­end in einem der mit Fein­gold ver­zier­ten Kaf­fee­haus­ab­tei­le steht und etwas vom Heu nascht, wäh­rend es begafft wird. Man kann leich­ter Hand sehr vie­le Geschich­ten erfin­den, wenn man mit Was­ser­bus­sen selbst­ver­ges­sen durch Vene­dig reist, man könn­te die ein oder ande­re Wirk­lich­keit mit einer wei­te­ren Wirk­lich­keit ver­we­ben. An einem Nach­mit­tag folg­te ich einer Grup­pe betag­ter Chi­ne­sin­nen durch jene Gäss­chen, da sich Glas­wa­ren­mo­ti­ve tau­send­fach repro­du­zie­ren. Ich dach­te noch, ich sei von Vögeln umge­ben, zwit­schern­de Stim­men. Plötz­lich deu­te­te eine der alten Frau­en, sie trug gel­be Turn­schu­he und schloh­wei­ßes Haar auf dem Kopf, nach einem Schrift­zug, der auf der Rück­sei­te einer Minia­tur­thea­ter­mas­ke von Plas­tik zu lesen war: Made in Chi­na, die­se Freu­de. Wie wun­der­bar die Küchen der Zwerg­kö­che, deren Räu­me da und dort sicht­bar wer­den in der Dun­kel­heit schma­ler Gas­sen. Ein­mal begeg­ne­te ich an einem spä­ten Abend einem Mäd­chen, das leuch­te­te. — stop

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in der straßenbahn

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nord­pol : 15.02 UTC — Fol­gen­des. Wenn ich mich schrei­bend mit deut­schen Men­schen aus­ein­an­der­set­ze, die über­zeugt sind, afri­ka­ni­sche Men­schen, die sich auf die Flucht nord­wärts nach Euro­pa bege­ben, sei­en selbst schuld, wenn sie im Meer ertrin­ken, man soll­te Ihnen nicht hel­fen oder nur im Not­fall, wenn jemand da ist, also wenn Hil­fe unver­meid­bar ist, wenn sie dem­zu­fol­ge nicht unsicht­bar und unge­hört zu ertrin­ken dro­hen, stel­le ich mir immer wie­der ein­mal vor, was die­se Men­schen an die­sem schö­nen Sonn­tag wohl gefrüh­stückt haben? Ich fra­ge mich, ob sie gut geschla­fen haben und wie sie woh­nen, ob sie glück­li­che Men­schen oder eher unglück­li­che Men­schen sind? Haben die­se Men­schen Kin­der? Wür­de ich sie in einer Stra­ßen­bahn sit­zend erken­nen? Also sit­ze ich etwas spä­ter in einer Stra­ßen­bahn. Und plötz­lich spü­re ich einen Blick auf mir las­ten, der nicht freund­lich ist. — stop

ping

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am mississippi

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alpha : 16.12 — Ramos erzähl­te ges­tern am spä­ten Abend von einer Metho­de, E‑Mail der­art zu pro­gram­mie­ren, dass sie sich kurz nach ihrem Auf­ruf vor den Augen des Lesen­den selbst zer­stö­ren oder auf­lö­sen wird, weil ihre Zei­chen hel­ler und hel­ler wer­den, bis sie unsicht­bar gewor­den sei­en. Ramos selbst will die­se Mög­lich­keit des Ver­schwin­dens pro­gram­miert haben. Wir notier­ten zur Pro­be einen elek­tri­schen Brief an mich selbst. Ich sen­de­te also einen kur­zen Text, den ich vor fünf Jah­ren bereits auf­ge­schrie­ben hat­te: 6.15 – Wäh­rend ich Stun­de um Stun­de in Ste­wart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobs­ter lese, immer wie­der das Wort Missis­sippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Missis­sippi in der Fort­set­zung der Lek­tü­re nach und nach alle wei­te­ren Wör­ter und Gedan­ken ersetz­ten könn­te. In einem Wort ver­schwin­den. — stop - Sobald die E‑Mail, die mit­tels Ramos’ Pro­gramm notiert wor­den war, auf mei­ner Schreib­ma­schi­ne ein­ge­trof­fen war, öff­ne­te ich sie. Tat­säch­lich, kaum hat­te ich den Cur­sor mei­ner Schreib­ma­schi­ne über den Text hin bewegt, lös­ten sich sei­ne Buch­sta­ben auf, sie ver­blass­ten, waren bald nur noch eine Ahnung auf der Netz­haut mei­nes Auges. Ramos erklär­te, alle Zei­chen, die mit­tels sei­nes Pro­gram­mes ver­schlüs­selt wor­den sei­en, wür­den für eine Minu­te zur Ver­fü­gung ste­hen, man dür­fe den Text der E‑Mail jedoch nicht berüh­ren oder den Ver­such unter­neh­men, einen Screen­shot anzu­fer­ti­gen. Jede bekann­te Metho­de des Fan­gens auf künst­li­chem Wege sei unwirk­sam. Auch eine Foto­gra­fie zu neh­men mit­tels eines gewöhn­li­chen Foto­ap­pa­ra­tes sei nicht mög­lich. Ramos, der höchst begeis­tert wirk­te, woll­te mir nicht erzäh­len, wie die­ses Ver­hal­ten pro­gram­miert sein könn­te. Was bleibt, sag­te Ramos, ist eine E‑Mail die­ser Art aus­wen­dig zu ler­nen, um sie kurz dar­auf auf Papie­ren zu rekon­stru­ie­ren. — stop

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0 Uhr 28

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del­ta : 0.28 — Jede der Schreib­ma­schi­nen, die ich besit­ze, jene in der Küche, jene im Arbeits­zim­mer, jene in mei­nem Ruck­sack oder jene in mei­ner Hosen­ta­sche, könn­te ein sen­si­bles Hör- oder Seh­rohr sein. Als ich ges­tern für eine mei­ner Schreib­ma­schi­nen mit­tels eines Pro­gramm­codes sicht­bar mach­te, wel­che Daten­li­ni­en prä­zi­se von und zu mei­ner Schreib­ma­schi­ne hin sen­dend exis­tie­ren, stell­te ich mir vor, jede die­ser Daten­li­ni­en wäre ein Faden, ich könn­te mich nicht län­ger bewe­gen, ein dich­tes Gewe­be wür­de sich mit wei­te­ren Daten­ge­we­ben vor den Fens­tern ver­knüp­fen. Selt­sa­me Geschich­te. — stop

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von den wörtern

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marim­ba : 14.14 UTC — Mit den Men­schen ver­schwin­den ihre Schrif­ten. Manch­mal ver­schwin­den Schrif­ten vor den Men­schen. Es ist dann, wenn man sich nicht län­ger vor­stel­len kann, die Hän­de der Men­schen wür­den sich je noch ein­mal der­art bewe­gen, dass Buch­sta­ben auf einem Blatt Papier sicht­bar wer­den. Aber die Wör­ter, die nicht mehr geschrie­ben wer­den, könn­ten noch ein­mal for­mu­liert wor­den sein, leuch­ten­de Wör­ter wie das Wort Apfel­stru­del. — stop

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funkendes buch

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zou­lou : 20.02 UTC – Letz­te Nacht träum­te ich von Fran­çoi­se Sagan. Sie stürm­te im Traum wie eine Furie in mein Arbeits­zim­mer, stell­te sich auf einen wacke­li­gen Holz­stuhl und begann in höher gele­ge­nen Rei­hen mei­nes Regals nach einem bestimm­ten Buch zu suchen. Indes­sen zeter­te sie unfreund­lich, die­ser elen­de Roman Ulim Triers fun­ke aus mei­nem Arbeits­zim­mer selt­sa­me Sät­ze, die nun über­all in ihren Roma­nen sicht­bar oder les­bar gewor­den sei­en, als wären sie von ihr, der Sagan, per­sön­lich geschrie­ben. Ich ver­such­te die alte Dame zu beru­hi­gen, über­haupt sah sehr gefähr­lich aus, was sich vor mei­nen Augen ereig­ne­te. Sie trug ein schnee­wei­ßes Hemd­chen, das ihr bis zu den Knien reich­te, spin­del­dürr war sie und zit­ter­te, auch der Stuhl unter ihren Füßen zit­ter­te. Ich flüs­ter­te: Ich ken­ne kei­nen Schrift­stel­ler namens Ulim Trier. Ach, Pap­per­la­papp, ant­wor­te­te Fran­çoi­se Sagan, Sie haben doch über­haupt kei­ne Ahnung von die­sen Büchern, die sich über­all ein­mi­schen. Schla­fen Sie wei­ter. Also schlief ich sofort ein und bin seit­her nicht wie­der wach gewor­den. — stop

ping

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halsposaune

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alpha : 15.12 — Es ist Frei­tag. Seit einer hal­ben Stun­de ver­harrt der Hilfs­po­li­zist Tho­mas Lie­ber­mann an der Zen­tral­sta­di­on vor dem Gleis 8 voll­kom­men bewe­gungs­los, weil ihm ein klei­ner Mann begeg­net war, der über Fähig­kei­ten ver­füg­te, die Herr Lie­ber­mann nicht vor­her­se­hen konn­te. Es war näm­lich so gewe­sen, dass er die­sen klei­nen Herrn kon­trol­lie­ren, das heißt prä­zi­se, den klei­nen Mann aus der Hal­le des Bahn­ho­fes ent­fer­nen woll­te, weil der klei­ne Herr sehr ärm­lich geklei­det war und außer­dem schmut­zig und ver­letzt durch eine Wun­de an der lin­ken Wan­ge, die nicht gut, viel­mehr äußerst schreck­lich wirk­te. Sie beweg­te sich näm­lich, etwas in der Wun­de beweg­te sich. Nun ließ sich der klei­ne Herr, der einen schä­bi­gen, blau­en Kof­fer auf den Boden abge­stellt hat­te, nicht bewe­gen in Rich­tung des Aus­gan­ges zu gehen. Er sah Herrn Lie­ber­mann statt­des­sen mit einem fes­ten Blick ent­ge­gen, weil er der fes­ten Über­zeu­gung gewe­sen zu sein schien, dass er sich nicht oder nicht auf Befehl hin auf den Weg machen wür­de hin­aus in die Käl­te. Kurz dar­auf öff­ne­te der alte Mann sei­nen Mund. In die­sem Augen­blick erkann­te Hilfs­po­li­zist Tho­mas Lie­ber­mann, dass er etwas Außer­ge­wöhn­li­ches erleb­te. Denn in den Rachen des Man­nes tief im Schlund war, nun­mehr sicht­bar, der Klang­trich­ter einer klei­nen Posau­ne ein­ge­las­sen. Von dort her war unver­züg­lich ein sono­rer Ton zu hören, der die Hal­le erbe­ben ließ, sowie Herrn Lie­ber­mann in einen Zustand der Erstar­rung ver­setz­te. Das war vor einer hal­ben Stun­de gewe­sen, aber das erzähl­te ich bereits. Auch drei Tau­ben lie­ßen ihr Leben. — stop
ping

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nachts

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romeo : 5.22 — Es war Nacht und ich hock­te in mei­ner Küche und schäl­te sehr lang­sam einen Apfel. Kurz dar­auf hör­te ich ein rascheln­des Geräusch, des­sen Ursa­che sich in mei­nem Kühl­schrank auf­zu­hal­ten schien. Ich war­te­te eini­ge Minu­ten. Zunächst wie­der Stil­le, dann erneut ein rascheln­des Geräusch. Unver­züg­lich öff­ne­te ich die Tür zum küh­len Raum, der hell beleuch­tet war. Wie ich so auf einem Stuhl im Licht mei­nes Kühl­schran­kes saß und war­te­te, dass sich dort etwas Unbe­kann­tes zei­gen möge, das Geräu­sche ver­ur­sacht, begann ich damit, das sicht­ba­re Gut im Schrank zu befra­gen, die Mar­me­la­de zum Bei­spiel, ein Gläs­chen voll Apri­ko­sen­ge­lee, ob es denn mög­lich wäre? Oder der Senf, die Fei­gen in ihrer Fei­gen­box, But­ter­wa­ren. Aber auch das ita­lie­ni­sche Brot rühr­te sich nicht. Ich erin­ner­te mich in die­sem Augen­blick der Kühl­schrank­be­ob­ach­tung an ein Kind, das immer wie­der ein­mal die Tür eines längst ver­schwun­de­nen Eis­schranks auf­riss, um nach der Dun­kel­heit zu sehen, die angeb­lich ver­läss­lich ein­tre­ten soll­te, sobald die Tür des Kühl­schran­kes geschlos­sen wur­de. Ich leg­te mich dann wie­der ins Bett. — stop



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