romeo : 22.02 — Atemlos eine Kameraluftreise der jungen Filmemacherin Anna Ditges beobachtet. Zwei Jahre lang filmte sie ihre Begegnungen mit Hilde Domin. Als ich meine Fernsehmaschine ausschaltete, war ich voll Glück und Freude, und ich dachte, dass ich mich vermutlich verliebt habe, in den Film, in die junge Filmemacherin, oder nein, ich glaube, ich habe mich in Hilde Domin verliebt. Und wie ich diese Zeilen gerade schreibe, denke ich, dass Hilde Domin, sollte sie mir über die Schulter sehen, vielleicht sagen würde: Aber das geht doch nicht, das ist unhöflich, so nah heranzukommen. – Ich saß im Park am Nachmittag, folgte einer Spinne, die auf Buchseiten turnte und las in Hilde Domins Gedichten: Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / dass der Wind / hindurchfährt. Ihre von der Zeit gezeichnete Hand, die im Film genau diese Zeilen mit einem Bleistift auf ein Blatt notierte. Wie sie sagt zur jungen Frau hinter der Kamera: Wir sehen uns gerne an, weil wir uns mögen. — stop
Aus der Wörtersammlung: träume
lufträume
echo : 6.08 — Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. — Warum, fragte ich, will der Mann das tun? — Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. — Er ist gelähmt. — Und der Affe? — Der Affe nicht. — Was geschieht mit dem Kopf des Affen? — Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon.
yanuk : xin
~ : yanuk le
to : louis
subject : XIN
date : mar 18 09 10.52 a.m.
Seit gestern Abend ist es wieder möglich, zu notieren, weil ich meine Schreibmaschine zurückerhalten habe. Mein lieber Louis, so vergehen nun die Tage wieder schneller, als die Tage zuvor noch ohne Schreibmaschine, da ich auf meiner Plattform Höhe 510 wartete, dass Xin, – so nenne ich das Mädchen, das mich meines Schreibgerätes beraubte -, sie mir zurückgeben würde, auch Bleistifte, Hefte und meinen Fotoapparat, die sie eines Nachts, während ich schlief, mit sich genommen hatte. Es ist seltsam, wenn man so sitzt und denkt und doch über keine Werkzeuge verfügt, aufzuschreiben, was man dachte, wird man müde. Natürlich habe ich in erprobter Weise, Zeichen in den Baumstamm hinter mir geritzt, aber während ich an ihnen arbeitete, wusste ich doch in jeder Sekunde, dass ich sie zurücklassen, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde. Ja, man wird müde, wenn man denkt, ohne notieren zu können, als würde man in lauwarmem Wasser liegen, im Halbschlaf alle diese feinen, vergeblichen Stimmen im Kopf. — Ich nehme an, Du hast Dich um mich gesorgt, weil ich keine Nachricht sendete. Vor wenigen Stunden noch hörte ich das Geräusch eines Flugzeuges, das sehr langsam den Himmel dort oben durchkreuzte. Natürlich bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch nur ein Wunschgeräusch hörte. Das fliegen leichte Mädchen Xin jedenfalls schien nichts gehört zu haben. Sie verharrt wieder in meiner Nähe, hängt an einem Arm über dem Abgrund, schläft und spricht träumend in ihrer merkwürdigen Sprache leise vor sich hin. Ich wünschte, ich könnte sie verstehen. Morgen werden wir aufbrechen, werden weiter aufwärts steigen. Nach wie vor ist nicht zu erkennen, woher das Licht kommen mag, das uns so angenehm flatternd bestrahlt. Cucurrucu – Yanuk
eingefangen
20.58 UTC
1805 Zeichen
MELDUNGEN : YANUK LE TO LOUIS / ENDE
minutenwartezeit
echo : 2.12 — Zwei Männer erinnert, die in Madrid zu je 30000 Jahren Haft verurteilt wurden, weil sie im März 2004 einhundert einundneunzig Menschen mittels von Ferne gezündeter Bomben getötet hatten. Eine dramatische Zeitstrafe, Ausdruck menschlicher Ohnmacht vor einem ungeheuren Verbrechen. — stop
lilimambo
echo : 0.08 — Die Stille zwischen zwei Wörtern.
kofferzimmer
echo : 2.18 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Sogleich weiter gedacht. Seltsame Kerne leise in meinem Kopf hin und her bewegt, jene von den Schlafwaben zum Beispiel, von Kofferzimmern, in welchen erwerbslose Menschen dämmernd lagern. Wie ihnen schmerzlos die Zeit vergeht, wie sie, von besseren Zeiten träumend, Blutkonserven aus ihren Knochen destillieren. Kaum hatte ich aufgeschrieben und mich gewundert über das, was ich dachte, stand ich wieder in der Küche, aß eine weitere Banane und einen Pfirsich zum Nachtisch. Dann, endlich, bemerkte ich Geraldines Sommerhut, sein Schaukeln auf atlantischen Wellen. Ungeheure Stille. Absolute Stille. In dieser namenlosen Stille, ein Hut allein auf dem Meer. Kein Schiff. Kein Land. Aber einhundert Seemeilenkreise von Stille in einem Bild, das ich niemals mit Augen sehen, sondern immer wieder nur denken werde. stop. Guten Morgen!
mauritius
~ : louis
to : Mr. lichtenberg
subject : MAURITIUS
Mein lieber Lichtenberg, wie unermesslich meine Freude, seit ich weiß, dass Sie lesen, was ich notiere. Noch immer bin ich wie benommen, sitze herum und überlege, ob sich nun meine Schreibwelt möglicherweise wesentlich verändern wird. Nicht leicht, für einen kleinen Schriftsteller, wie ich einer bin, zu wissen, wer von oben her zusieht, ohne sofort alle Unbefangenheit zu verlieren. Nehme an, Sie haben einen vollständigen Blick auf mich, auf meine Person, nicht nur auf Zeichen und Bilder. Ganz sicher beobachteten Sie deshalb meinen Luftsprung gestern, kurz nachdem ich das Postfach geöffnet hatte. Ihr Brief, das wunderbar kräftige und raue Papier des Couverts, ein Stempel auf einer blauen Marke. Eine Mauritius, nicht wahr? Ich habe, nein, nein, ich habe sie nicht übersehen und wenn ich mich nicht irre, ausgesorgt, mit Ihrer Hilfe bis an mein Lebensende. Jetzt frage ich mich natürlich, schreiben Sie denn noch mit der Hand dort oben? Sitzen Sie auf Stühlen oder schweben sie herum und denken sich alles nur aus und sofort aufs Papier? Wird noch Nacht und Tag oder ist immerzu das richtige Licht, so wie Sie’s gerade brauchen? Ob sie mir wohl manchmal zuhören, verzeichnen, was ich spreche, wenn ich träume? — Ihr Louis, mit herzlicher Freude!
regenzeit
olimambo : 0.02 — Angenehme Müdigkeit, warm und leicht, eine Versuchung, sagen wir, sofort die Augen zu schließen und nachzusehen, was das Nachtleuchten im Kopf mit mir vielleicht bald unternehmen wird. — Seltsam, wie es ist. — Vor wenigen Stunden noch über das Geräusch des Regens nachgedacht. Nicht einfach nur so über das gewöhnliche Geräusch vom Himmel kommenden Wassers, sondern über ein Regengeräusch, das bis in die Träume eines Schlafenden reicht, sodass er wach wird vom Regen, den er träumte und doch nicht träumte. ping ping ping. Wie er sich aufsetzt, wie er durch ein dunkles Zimmer tastet, wie er auf einem Balkon steht und wie ihm der Regen aufs Gesicht fällt. stop. Ein Uhr zweiundzwanzig auf hoher See vor Lampedusa. — stop
geraldine beobachtet wolken
~ : geraldine
to : louis
subject : WOLKEN
Dieser wundervolle Himmel über mir, Mr. Louis, ich schreibe Ihnen, dass ich glücklich bin. Liege in meinem Stuhl und schaue den Wolken zu, wie sie einmal größer und dann wieder kleiner werden. Ich glaube, sie leben und wenn sie einmal verschwinden, sind sie nicht wirklich verschwunden, sondern nur in andere Wolken getaucht. Ja, so ist das mit all dem Leben, das ich am Himmel sehen kann. Ich liege da und träume und das Schiff brummt unter meinem Rücken und manchmal schaue ich zu meinen kleinen Füssen hin und wackle mit den Zehen. Stellen Sie sich vor, ich habe sie bemalt, nein, ganz sicher, ich habe sie bemalt, und ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch erzählen muss, warum ich sie bemalt habe. Er wird schon noch vorbeikommen, jawohl, ich bin mir sicher, bald wird er nach mir sehen, wird zaghafte Blicke auf meine Füße werfen und sofort werden sie sich erwärmen, nein, glühen werden sie, und ich werde meine Strümpfe und Schuhe in die Hand nehmen und hoffen, dass niemand mich so sehen wird, wie ich neben ihm laufe, barfuß, obwohl doch vor wenigen Tagen noch Eisberge im Wasser trieben. Er kommt gerade, mein kleiner Steward, kommt gerade die Treppe herauf. Ich kenne die Geräusche seiner Schritte. Ich habe Fieber, Mr. Louis, ich habe Fieber, und manchmal denke ich, dass ich all das hier nur träume, das Schiff, die Wolken, meinen tapferen Vater, meine immerzu weinende und ebenso tapfere Mutter, die Eisberge und Delfine, und dass ich verliebt bin, all das nur träume. Aber wer könnte in einem Traum noch so kräftig mit den Zehen wackeln, dass selbst die Möwen von der Reling flüchten? — Ich grüße Sie herzlich! Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 2.02.2009
22.15 MEZ
yanuk : hört zupfende geigen
~ : yanuk le
to : louis
subject : GEIGEN
date : jan 12 09 6.52 a.m.
Dämmerung. Und doch schon warme, weiche, ja schmeichelnde Luft. Werde einige Wochen hier auf Höhe 51O verweilen. Bin glücklich. Mehrfach während eines Tages passiert das Mädchen, von dem ich berichtete, mit einem rasselnden Geräusch, das vielleicht eine Sprache darstellen sollte, unser Habitat. Eine fabelhafte Kletterin! Entweder ist sie leicht wie eine Feder, oder aber sie verfügt über außerordentliche Muskelkräfte. Kein Tag, seit sie auf uns gestoßen ist, an dem sie nicht aus den Schatten der Blätter und Blüten tauchte, um bewegungslos für lange Zeiten mittels eines Armes an einem Ast befestigt vor uns über dem Abgrund zu schweben. Sie scheint in dieser Haltung doch zu schlafen. Ein seltsames Wesen! Gesprochen haben wir bislang noch nicht, kein verständliches Wort kam über ihre Lippen, aber sie lauscht meiner Stimme, indem sie den Kopf zu Seite neigt, wenn ich etwas sage, wenn ich erzähle, zum Beispiel, von Dir erzähle, und dass ich für Dich Gedanken und Beobachtungen notiere aus dem Gebiet der Riesenbäume. Auch in diesen Sekunden, lieber Mr. Louis, ist sie hier bei uns. Sie muss vor Kurzem noch, während eines Jagdausfluges, den Erdboden betreten haben. Der leblose Körper eines Kaninchens baumelt über ihrer linken Schulter. Denkbar, dass wir bald ein Geschenk erhalten werden. Cucurrucu — Yanuk
eingefangen
6.55 UTC
1875 Zeichen