sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop
Aus der Wörtersammlung: welt
ai : SUDAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Zwei Mitglieder der presbyterianischen Kirche im Südsudan, Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen, sind am 1. März auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs in acht Punkten unter Anklage gestellt worden. Zwei der ihnen zur Last gelegten Straftaten können die Todesstrafe nach sich ziehen. Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen waren am 21. Dezember 2014 bzw. am 11. Januar 2015 vom sudanesischen Geheimdienst (NISS) festgenommen worden und wurden bis zum 2. März 2015 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Sie wurden am 1. März auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs von 1991 unter Anklage gestellt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten sind “gemeinsame Handlungen zur Planung einer kriminellen Handlung”, “Unterwanderung der verfassungsmäßigen Ordnung”, “Krieg gegen den Staat”, “Spionage gegen das Land”, “Enthüllung und Erhalt von Informationen und offiziellen Dokumenten”, “Schüren von Hass zwischen religiösen Gruppen”, “Störung des öffentlichen Friedens” und “Beleidigung von religiösen Überzeugungen”. Auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs können die Straftatbestände “Krieg gegen den Staat” und “Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung” mit der Todesstrafe geahndet werden, während die übrigen sechs Straftatbestände eine Prügelstrafe nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass die beiden Geistlichen wegen ihrer religiösen Überzeugungen festgenommen und angeklagt wurden. Der NISS hielt die Gefangenen bis zum 2. März ohne Kontakt zur Außenwelt fest. An diesem Tag wurden sie ins Gefängnis Kober in Khartum verlegt, und man gestattete ihnen erste Familienbesuche.Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen traten am 28. und 29. März zwei Tage in den Hungerstreik, um gegen ihre fortgesetzte Inhaftierung und die Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeiständen zu protestieren. Sie werden derzeit von einem pro bono tätigen Anwaltsteam vertreten. Am 19. und am 31. Mai haben bereits Anhörungen im Fall der beiden Geistlichen stattgefunden. Am 15. Juni soll ihre Verfahren fortgesetzt werden. Amnesty International betrachtet Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen als gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung festgenommen, inhaftiert und angeklagt wurden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 21. Juli hinaus, unter »> ai : urgent action
schlafwelt
alpha : 5.02 — Sie ist eine fragile Welt, die Schlafwelt der Nachtmenschen, sobald sie in Städten nahe der Tagmenschen leben. In dieser Welt ist es ein wenig so, als würde man mit einem Holzstöckchen bewaffnet in einem Wald unter rasenden Wölfen leben. — stop
vom fangen
sierra : 6.52 — Eine merkwürdige Website existiert im Internet, man kann dort nämlich Wörter oder Sätze in eine Maske transferieren, nur um Sekundenbruchteile später angezeigt zu bekommen, wie viele Normseiten diese oder jene eingegebene Zeichenfolge in der papierenen Welt bedecken würde. Ich stellte mir vor, wie Texte in genau dem Moment, da sie von einer Autorin oder einem Autor in die vorgegebene Maske geschüttet werden, mittels einer Datenbank festgehalten sind, fraglos, heimlich, lautlos, um sie eventuell einer weiteren Verwendung zuzuführen, Gedanken, ungewöhnliche Formulierungen, Einsichten, Erzählungen, Romane, Gedichte. Es könnte sich demzufolge um eine Webseite handeln, die sich in der Art und Weise der Ansitzjäger verhält. Wir sollten das beobachten. — stop
am radio
zoulou : 0.08 — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryanair, einer Fluggesellschaft, sollen die Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des Fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von sich selbst mordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war gestern. — stop
chicago
tango : 6.05 — Im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiert in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
ai : KONGO
MENSCHEN IN GEFAHR: „Zahlreiche Menschenrechtsverteidiger werden in der Demokratischen Republik Kongo seit dem 15. März ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Sie hatten im Eloko-Makasi-Jugendzentrum in der Hauptstadt Kinshasa eine Pressekonferenz gegeben, die von Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst wurde. / Am 15. März stürmten Sicherheitskräfte eine Pressekonferenz im Eloko-Makasi Jugendzentrum in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Sie nahmen etwa 30 Personen fest, darunter Mitglieder der kongolesischen Jugendorganisation Lutte pour le Changement (LUCHA), der senegalesischen Bewegung Y’en a Marre, der burkinischen Gruppe Balai Citoyen, sowie einen US-amerikanischen Diplomaten und anwesende Journalist_innen. Die Pressekonferenz wurde im Anschluss an einen Workshop über die Beteiligung von Jugendlichen an politischen Prozessen im Vorfeld der anstehenden Wahlen im Land abgehalten. Veranstalter waren die örtlichen NGOs la Jeunesse pour une Nouvelle Société (JNS), le Forum National de la Jeunesse pour l’Excellence (FNJE) und Lutte pour le Changement (LUCHA). / Amnesty International liegen Informationen darüber vor, dass einige Personen während der Festnahme von den Sicherheitskräften misshandelt wurden. Ein Augenzeuge berichtete, dass Personen von den Sicherheitskräften schikaniert und grob behandelt wurden, bevor man sie an unbekannte Orte verbrachte. Der US-amerikanische Diplomat und die ausländischen Journalist_innen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen, die senegalesischen und burkinischen Aktivist_innen wurden ausgewiesen. Weitere kongolesische Menschenrechtler_innen befinden sich nach wie vor ohne Kontakt zur Außenwelt an unbekannten Orten in Haft. Ihnen drohen Folter und andere Misshandlungen. / Amnesty International sieht diese Angriffe auf die Meinungs‑, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit mit großer Sorge.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 4. Mai hinaus, unter »> ai : urgent action
00101101
nordpol : 10.28 — Habe heute bemerkt, dass ich eine Fotografie, die ich vor einigen Jahren vergeblich wiederzufinden suchte, nun tatsächlich verloren zu haben scheine. Ich erinnere mich, die Fotografie zeigt die Raumstation MIR in großer Höhe über der Erde schwebend. Ich konnte mich zuletzt noch gut an das farbige Bild erinnern, vielleicht deshalb, weil mich die Aufnahme, als ich sie vor mir auf dem Tisch liegen sah, tagelang berührte. Jetzt, heute, nur noch ein vages Bild, wie ein Entwurf, dem ich nicht trauen kann, aber die Beschreibung der Fotografie, die ich aus der Erinnerung notierte: Ein Bullauge, dort das Gesicht einer Frau, ein ernstes Gesicht, Ahnung, Schatten, Züge einer russischen Kosmonautin, die Monate alleine auf der MIR-Station lebte. Sie beobachtet die äußerst behutsame Annäherung eines Raumschiffes der NASA, in dem sich Menschen befinden, die vermutlich bereits Kontakt aufgenommen haben: Wir sehen Dich! — Da war das tiefe Schwarz des Weltalls im Hintergrund, ein absolut tödlicher wirkender Raum, der sich zwischen den beiden Raumkörpern erstreckte. — stop
vor neufundland 18:22:58 uhr : webstimme
alpha : 22.01 — Fiebertage. Ich meine, stürmischen Wind vor den Fenstern zu hören. Ein helles Geräusch weiterhin in meinem Kopf, leise, zu jeder Zeit. Einmal stehe ich auf, schalte meine Computermaschine an, entdecke eine Nachricht Noes. Tag 1498 im Taucheranzug vor Neufundland, Tiefe 84 Meter. ANFANG 18.22.58 | | | > ich höre das ticken einer uhr. s t o p ich könnte die zeit zählen. s t o p weitermachen. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p solange ich lache ist leben in meinem gehäuse. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p ich stelle mir vor ich arbeitete im weltraum. s t o p grandiose idee. s t o p da ist etwas das nicht stimmt. s t o p eine menschliche stimme in meiner nähe. s t o p eine warme menschliche stimme so nah dass ich den luftzug spüre der sie webt. s t o p < | | | ENDE 18.24.28
marin
echo : 16.02 — Das sehr Besondere an der Gattung der Marinkäfer ist, dass sie blau sind, von einem tiefen, vornehmen Blau, nicht nur von Außen her betrachtet, sondern auch dann, wenn man sie öffnet, wenn man ihre Augen, ihr Gehirn, ihr Herz im Innern beobachtet, alles blau im Käfer, Faser für Faser. Seit Tagen bereits, da ich ihre Gattung entdeckte, denke ich darüber nach, wie sie das machen, das Blausein, ob das überhaupt möglich ist und woher sie kommen und wovon sie sich ernähren. Stunde um Stunde, das ist gesichert, Tag und Nacht, senden sie genau ein Milligramm ultramarines Pigment in die Welt, aber nur dann, wenn ich zärtlich zu ihnen spreche, wenn ich sie mit meinen Gedanken berühre. — stop