nordpol : 6.02 — Ob ein Mann, der schreibt, gut oder schlecht schreibt, ist gleich ausgemacht, ob aber einer, der nichts schreibt und stille sitzt, aus Vernunft oder aus Unwissenheit stille sitzt, kann kein Sterblicher ausmachen. G.C.Lichtenberg. Ich vergesse, obwohl ich ihre Bewegungen mit den Augen verfolge, meine Hände, sobald ich schreibe. — Warum?
22 Uhr 1
ulysses : 22.01 — Seit einer halben Stunde das Wort Hibiskusbahn in meinem Gehör. Leichter Regen. — stop
ai : VIETNAM
MENSCH IN GEFAHR: „Die vietnamesische Anwältin und Menschenrechtlerin Lê Thu Hà wurde am 16. Dezember festgenommen. Kurz zuvor am selben Tag war auch der bekannte Menschenrechtsanwalt Nguyễn Văn Đài festgenommen worden. Bisher durfte sie keinen Besuch von anderen Aktivist/innen erhalten. Sie läuft Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. / Die Rechtsanwältin Lê Thu Hà soll am 16. Dezember inhaftiert worden sein, als Sicherheitskräfte die Wohnung des Menschenrechtsanwalts Nguyễn Văn Đài in der Hauptstadt Hanoi durchsuchten. Der Anwalt war am Morgen desselben Tages festgenommen worden. Weitere Informationen zu seinem Fall finden Sie in UA-292/2015. Lê Thu Hà ist Mitglied der von Nguyễn Văn Đài gegründeten Organisation “Bruderschaft für Demokratie” (Brotherhood for Democracy). Sie befindet sich derzeit im B14-Gefängnis in Hanoi in Untersuchungshaft. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits angeklagt wurde./ Lê Thu Hà war bereits am 23. September festgenommen worden, gemeinsam mit vier weiteren Mitarbeiter/innen des unabhängigen YouTube-Kanals “Lương Tâm TV” (“Gewissens-TV”). Sie war als Englisch-Übersetzerin für den Sender tätig gewesen, der seit August 2015 auf YouTube kurze Clips über die Menschenrechtslage in Vietnam ausstrahlt. Alle fünf waren bis spätabends von der Hanoier Sicherheitspolizei festgehalten worden. Im April hatten die Behörden den Reisepass von Lê Thu Hà eingezogen, kurz bevor sie von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt fliegen und von dort aus einen Flug ins Ausland nehmen wollte. / Am 20. Dezember versuchten einige Aktivist/innen, Lê Thu Hà im B14-Gefängnis zu besuchen, durften sie jedoch nicht sehen. Sie läuft Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. Verteidiger/innen der Menschenrechte, gegen die in Vietnam strafrechtliche Vorwürfe erhoben worden sind, werden während der Untersuchungshaft bzw. in der Ermittlungsphase häufig unmenschlich behandelt.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Februar 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
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st.ive
propellerzunge
tango : 2.01 – Wieder der Versuch, den Klang menschlicher Stimmen vorzustellen, wie sie sich unter einer Wasseroberfläche artikulieren. Eine schwierige Aufgabe, insbesondere deshalb, weil ich einerseits annehme, ein authentisches Sprechgeräusch, welches sich unter Wasser ereignet, in meinem Kopf jederzeit erzeugen zu können, andererseits jedoch über keinerlei Wörter verfüge, dieses Geräusch angemessen zu beschreiben. Ein Problem der Übersetzung scheint vorzuliegen, ein Raum zwischen geistigem Hören und dem annähernd korrekten Ausdruck in der Sprache meines Mundes oder meiner Hände auf Tastaturen, der auch in dieser Nacht, nach Jahren intensiver Versuche, nicht zu überwinden ist. Ich nehme an, Phoneme, die eine ausgedehnte Öffnung des Mundes erfordern in der Sprache unter der Wasseroberfläche sprechender Lungenmenschen, werden im Laufe der Jahrhunderte seltener werden, Artikulation indessen mittels gespitzter Lippen, pfeifende Laute, eine Entwicklung in diese Richtung, das ist denkbar. — Leichter Regen. — stop
transfer
echo : 3.05 – Vor fünf oder sechs Jahren schrieb ich einen Brief an einen verschollenen Freund. Ich erzählte ihm von der Welt der Fährschiffe, wie ich sie erkundet hatte auf der Upper New York Bay. Ich bat ihn, er möge sich um Himmelswillen melden. Vermutlich war ich nicht wirklich überzeugt gewesen, dass meine E‑Mail den verschwundenen Freund erreichen würde, er war zuletzt doch schon sehr verrückt gewesen, er hielt sich für einen anderen, und war seit bereits zwei Jahrzehnten vermisst. Ich notierte also eine Botschaft für einen auch von mir selbst verehrten Schriftsteller, die ihn unmöglich oder sehr wahrscheinlich nicht erreichen würde. Ich sendete mein Schreiben an einen E‑Mail-Dienst im finnischen Turku, der versprach, Schriftsätze an Menschen weiterzuleiten, die verschwunden waren, vielleicht gegen ihren Willen wie vom Erdboden verschluckt oder weil sie sich versteckten. Einige Stunden später wurde der Eingang meiner E‑Mail bestätigt mit dem Versprechen einer Nachricht, sobald die E‑Mail weitergegeben werden konnte. In diesem glücklichen Falle sollte ich 85 Dollar überweisen an ein Postamt eben der Stadt Turku, ein ganz angemessener Betrag, wie ich finde. Vor wenigen Minuten nun erhielt ich meine E‑Mail mit dem Vermerk zurück: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre E‑Mail an Mr. John Dos Passos nicht zustellen konnten. Mit freundlichen Grüßen — stop
von teefliegen
india : 3.22 — Seit Stunden sitze ich wieder einmal im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern nämlich gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, sie schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
piccadilly circus
es ist abend
marimba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von L., die über einem Buch eingeschlafen ist, wie sie an einem Küchentisch sitzt, den Kopf auf ihre Hände gebettet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren wird. Von M., der im Wald über eine Wiese voller Schneeglöckchen spaziert, ein Manuskript in der linken Hand, dessen Sätze er auswendig lernen muss, um sie auf einer Bühne zu sprechen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkennen. Von P., die vor einer Erdmulde unter einer Birke steht. Das Grab der Eltern ist verschwunden, der Hügel voller Blumen, ein Gedenkstein, aber die Birke ist noch da, sie war schon da, als sie geboren wurde, und sie weiß, dass tief da unten auch die Knochen der Eltern noch immer anwesend sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag darüber freut, dass er das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von J., die einen Fotoapparat auf sich selbst richtet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sausen in ihren Ohren plötzlich verschwunden ist, wie sie der Stille lauscht. Von K., die über eine Straße stürmt auf dem Weg zum Tanz, barfuß, ihre roten, flachen Lederschuhe in der rechten Hand, und obwohl es regnet, wirbeln nasse Blätter hinter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwester in Kobanê kämpfte, wie sie schläft. Die Schwester soll N. ähnlich gewesen sein, aber niemand weiß das so genau, weil die Schwester vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht was er will, weil sie nie wieder zurückkehren wird. Von M., die im Dezember noch in den Bergen wanderte auf einer Alm, wo der Schnee Muster auf eine Wiese zeichnete, wie sie auf der Haut der Sommerkühe anzutreffen sind. Von dem kleinen H. aus Aleppo, der sich wundert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gerade Siegeszeichen mit beiden Händen, als der Fotograf seinerseits seine letzte Aufnahme macht. Von K., der mit geschlossenen Augen auf einer Violine spielt, die aus Stirnknochen eines gestrandeten Wales geschnitzt wurde. Von Y., die in einem feinen dunkelblauen Kostüm nahe Columbus Circle im Central Park neben einem Rollkoffer steht und mit einem Eichhörnchen spricht, das mit gespitzten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop