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lichtauge

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india : 22.12 UTC — Unter dem Dach im Zim­mer mei­nes Vaters stand ein Tisch, des­sen Plat­te leuch­te­te, sobald man einen Schal­ter umleg­te, der sich am rechen Vor­de­ren der Bei­ne des Tisches befand. Es war sehr hel­les Licht, wel­ches dem Tisch inne­wohn­te, es war hel­ler als das Licht des Him­mels, hel­ler als der Schein mei­ner Taschen­lam­pe bei Nacht, es war des­halb viel­leicht in mei­ner Erin­ne­rung ein außer­or­dent­lich strah­len­des Licht, weil ich mich über die­ses Licht wun­der­te, dass es über­haupt exis­tier­te, weil doch der Tisch kei­ne Lam­pe, son­dern eben ein Tisch gewe­sen war. Manch­mal saß mein Vater dort vor die­sem Tisch und arbei­te­te, indem er Dia-Foto­gra­fien in das Licht des Tisches leg­te. Er saß ganz still, tief über die glä­ser­ne Plat­te des Tisches gebeugt und betrach­te­te sei­ne Foto­gra­fien mit­tels einer Lupe, die er dicht an den Tisch her­an­ge­führt hat­te. Sein lin­kes Auge war geschlos­sen, sein rech­tes Auge indes­sen klein gewor­den, indes­sen er durch das geschlif­fe­ne Glas hin­durch jene Welt betrach­te­te, die er auf­ge­nom­men hat­te. Die­ses beob­ach­ten­de Auge mei­nes Vaters, das er auf mich rich­te­te, sobald er mich kom­men hör­te, war ein selt­sa­mes Wesen, hell, als ob es etwas von dem Licht des Tisches in sich auf­ge­nom­men haben wür­de, um nun selbst zu einer Lam­pe gewor­den zu sein. — stop

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auf der lokomotive

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oli­mam­bo : 22.07 UTC — Im Füh­rer­stand einer alten Dampf­ma­schi­ne hock­te in einem Käfig ein Vogel auf einem Äst­chen. Der Vogel schlug hef­tig mit sei­nen Flü­geln, ein Fink oder Sper­ling war das gewe­sen. Lang­sam beweg­te sich der Zug vor­wärts. Und ich dach­te im Traum dar­über nach, wie das mög­lich sein konn­te, dass die­ser zier­li­che Vögel jenen schwe­ren Trieb­wa­gen zu bewe­gen ver­moch­te. — stop
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gespensterwesen

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romeo : 22.07 UTC — Wie­der die Fra­ge wes­halb ich die Bewe­gung mei­nes Her­zens in der Brust nicht zu spü­ren ver­mag? — Umge­ben­de Wör­ter: Sinus­kno­ten Lager­be­we­gung Tha­la­mus. Herz­flim­mern. Rasen­der Still­stand. ~ Ein Gespens­ter­we­sen, Russ­land, mei­ner Kind­heit ist zurück­ge­kehrt. Gedan­ken, wie zur Beru­hi­gung, an Lew Sino­wje­witsch Kope­lew, Jele­na Geor­gi­jew­na Bon­ner, And­rei Dmit­ri­je­witsch Sacha­row, Anna Ste­pano­wa Polit­kows­ka­ja, Dmi­t­ri Mura­tow, Ljud­mi­la Ulitz­ka­ja. — stop
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reis

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oli­mam­bo : 18.08 UTC — Nicht einen Tee­löf­fel voll Reis zäh­len, son­dern eine Tas­se voll Kör­ner, die ich mir ein­schenk­te vor zwei Wochen noch. Ein­mal also an einem Abend still sit­zen und zäh­len, solan­ge zäh­len, bis ich die Tas­se geleert haben wer­de, nicht stun­den­wei­se zäh­len, son­dern mit einem Anfang und einem voll­stän­dig aus­ge­zähl­tem Ende im Mor­gen­grau­en. — stop

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moskau

picping

MELDUNG. In Mos­kau am Bolschoi-Theater,Театральная площадь 1, wer­den am kom­men­den Sonn­tag­abend, 30. Janu­ar 2022, zwei jun­ge Höh­len­frö­sche, Letz­te der Gat­tung nas­ik­a­ba­tra­ch­us bhu­pa­thi, öffent­lich zur Spren­gung gebracht. Zün­dung des männ­li­chen Tie­res um 20 Uhr, Zün­dung des weib­li­chen Tie­res um 20 Uhr 30. Die Vor­stel­lung ist aus­ver­kauft. – stop

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schallbecher

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india : 22.07 UTC — Vor weni­gen Tagen ist im hohen Alter ein Dok­tor gestor­ben, der mein Dok­tor gewe­sen war, als ich noch in kur­zen Hosen im Som­mer her­um­spa­zier­te. Mein Knie, eine Wun­de, war längt ver­sorgt, da hat­te ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Dok­tor kam manch­mal zu mir nach Hau­se, wenn ich Fie­ber hat­te. Er führ­te eine Leder­ta­sche mit sich, in der sei­ne Instru­men­te klim­per­ten. Ich erin­ne­re mich an die Küh­le eines Schall­be­chers, wenn er nach Geräu­schen in mir such­te. Sein Kopf war in die­sen Momen­ten des Lau­schens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Sei­ne sanf­te Stim­me. Lei­se. Ein­mal war er als Pri­vat­mann zu Besuch gekom­men. Anstatt eines Blu­men­strau­ßes für Mut­ter, führ­te er eine Glühspar­lam­pe mit sich, die er in der Art und Wei­se über­reich­te, als wäre sie tat­säch­lich eine fri­sche Blu­me, ein blü­hen­der Zier­lauch, sagen wir, oder eine Kugel­dis­tel. — stop
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pripyat

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echo : 21.08 UTC — Auf mei­nem Fern­seh­bild­schirm sicht­bar üben ukrai­ni­sche Sol­da­ten den Häu­ser­kampf in der win­ter­li­chen Stadt Pri­pyat. Es ist Abend. Ich öff­ne mein Note­book, nähe­re mich in der digi­ta­len Sphä­re jener unheim­li­chen Stadt, Stadt eines Rie­sen­ra­des, ich erin­ne­re mich, ein Rie­sen­rad in die­ser selt­sam ein­sa­men Stadt. Da waren vor vie­len Jah­ren noch Men­schen gewe­sen, sie spa­zier­ten an einem son­ni­gen Tag durch einen Park, gro­ße Men­schen und Kin­der­men­schen kurz nach Hava­rie des nahen Reak­tors. Da waren Blit­ze, Spu­ren star­ker radio­ak­ti­ver Strah­lung, die sich in das Film­ma­te­ri­al, wel­ches von den gro­ßen Men­schen und den Kin­der­men­schen erzählt, ein­ge­brannt hat­te. All das plötz­lich wie­der gegen­wär­tig an die­sem Abend, da ich mei­ne Bild­schirm­rei­se begin­ne. Ich kom­me von Süden, es ist Som­mer. Win­ter­bil­der exis­tie­ren von die­ser nord­ukrai­ni­schen Land­schaft nicht in den Maga­zi­nen der Goog­le Earth Maschi­ne, aber eben som­mer­li­che Spu­ren, zwei Strö­me, Juni 2015 und ein wei­te­rer Strom, der im Som­mer 2020 auf­ge­zeich­net wur­de. Je eine schnur­ge­ra­de Stra­ße kur vor dem Check­point Leliv. Im Juni 2015 kom­men wir an, im Juli des Jah­res 2020 fah­ren wir wei­ter durch die Wäl­der des Sperr­ge­bie­tes kurz vor Tscher­no­byl. Die Stra­ße ist gepflegt, jen­seits der Stra­ße zer­fal­len­de Häu­ser, auch Gebüsch von leuch­ten­dem Grün. Plötz­lich eine klei­ne Stadt, die ich in die­ser Wild­nis nicht erwar­tet hat­te. Häu­ser­blocks. Strom­lei­tun­gen füh­ren über Brü­cken. Men­schen ste­hen in klei­nen Grup­pen am Stra­ßen­rand. Dann wie­der Juni 2015, wir pas­sie­ren das Denk­mal derer, die die Welt geret­tet haben. Da und dort Bir­ken, auch röt­lich gefärb­te Gewäch­se. Und Schil­der, gel­be Schil­der, die vor Strah­lung war­nen. Da und dort Wol­ken him­mel­wärts. — stop
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lichtenbergfalter

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sier­ra : 15.12 UTC — In der ver­gan­ge­nen Woche lern­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne fol­gen­de Wör­ter, die in ihren Prüf­ver­zeich­nis­sen bis­lang nicht zu fin­den gewe­sen waren: Aqua­ri­um­zim­mer . Audia­ci­ty . Body­mind . Bie­nen­schwarm­ma­schi­ne . Boos­ter­imp­fung . Spiel­do­sen­samm­lung . Sel­ber­den­ken . Tau­cher­hand­zei­chen . Tasch­kent . Tag­mensch . Rüs­sel­ro­sen . Sand­wel­len­win­de . Schlaf­duft . Para­bel­bahn . Nas­horn­kä­fer . Nacht­stra­ßen­mu­se­um . Nomad­land . Not­knopf­sei­le . Maki­ta­ge . Mak­isona­re . Licht­fang­ma­schi­ne . Lich­ten­berg­fal­ter . Instanz­na­me . Holz­steg­fe­der . Kie­men­mäd­chen . iMo­vie . Itin­erar . Höh­le­n­acht­bild . Kup­pel­werk . Fla­min­go­bei­ne . Fene­on . Geis­ter­flot­te . Emo­ti­ons­re­gu­la­ti­on . Erzähl­räu­me . Dro­nen­ka­me­ra . Fake­kin­der­wa­gen . Dau­er­schla­fen . Droh­nen­leuch­ten. — stop

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irgendwo nahe mariupol

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del­ta : 14.32 UTC — Auf Luft­bild­fo­to­gra­fien die­ses Win­ters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein die­ses mensch­li­che Wesen. Oder doch viel­leicht sicht­bar im Som­mer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Gar­ten Him­bee­ren pflückt. Es ist ein wil­der Gar­ten gewor­den, weil Olga den Gewäch­sen ihres Gar­tens nicht län­ger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, des­sen Namen ich nicht ken­ne. Er ruht im Wohn­zim­mer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in die­sem Win­ter, 8 Jah­re jün­ger, war das mit dem Gehen bereits schwer gewor­den, weil er von einem Split­ter har­ten Hol­zes in die Hüf­te getrof­fen wor­den war, als eine Gra­na­te in einem Febru­ar im Gar­ten des Nach­barn explo­dier­te. Der Nach­bar lag drei Tage reg­los auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr leb­te. Dann hör­te der Krieg auf. Nein, der Krieg ent­fern­te sich, war jedoch nah genug geblie­ben, dass man ihn hören konn­te und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fens­ter hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Kel­ler gestie­gen ist. Sehr stei­le Trep­pe. Es ist hell da unten, weil eine Kame­ra der alten Frau in den Kel­ler folg­te. Ein Mann trägt die­se Kame­ra auf sei­ner Schul­ter, ein wei­te­rer Mann trägt grel­les Licht, eine Frau stellt Fra­gen, Olga ant­wor­tet: Wenn der Krieg wie­der zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und sei­nen Vater in den Kel­ler tra­gen. Dort wird es ste­hen, genau dort wo die Zwie­beln lie­gen. Hier wer­den wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hän­gen Fäden, auch schnee­weis­se Gebei­ne, Spin­nen, die Olga noch immer fürch­tet, so, stell ich mir vor, könn­te das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kame­ra. Ich betrach­te ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurück­zie­hen kann, weil ich den Film ange­hal­ten habe auf dem Bild­schirm mei­nes Fern­seh­ge­rä­tes. — stop