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faden

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oli­mam­bo : 15.12 UTC — Ein­mal ent­deck­te ich das Wort Spinn­fa­den. Ja, dach­te ich, der­art fein soll­ten Erzäh­lun­gen aus­ge­dacht sein, dass sie sich wie an einem Spinn­fa­den ent­lang bewe­gen, der jeder­zeit rei­ßen könn­te. Nicht tele­fo­nie­ren. Nicht spa­zie­ren. Nicht Radio hören. Nicht atmen. Einer, der schweigt, soll­te gut geschla­fen haben. — stop
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kabinenlicht

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romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schla­fe, wache ich immer wie­der ein­mal auf, wäh­rend mei­ne Hän­de wei­ter­schla­fen. Das ist selt­sam, mei­ne Hän­de wachen zur­zeit ein wenig spä­ter auf als ich selbst. Ich tre­te ans Fens­ter. Manch­mal ist frü­her Mor­gen. Es ist noch dun­kel. Stra­ßen­bah­nen que­ren den Platz weit da unten. In ihrem Kabi­nen­licht sit­zen Men­schen mit Mas­ken vor Mund und Nase. Es sind die­sel­ben Per­so­nen, wie mir scheint, die ich ges­tern am Abend bereits durch mein Opern­glas beob­ach­tet habe. Sie wer­den ver­mut­lich für das Umher­fah­ren bezahlt. Zwei Tau­ben sit­zen tief unter mir auf einer Stra­ßen­la­ter­ne, sie schla­fen wie mei­ne Hän­de, die nun lang­sam wach wer­den, weil ich mit ihnen schrei­be. Guten Mor­gen! — stop

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tram

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echo : 8.16 UTC — Seit einem Jahr nun sehe ich Stra­ßen­bah­nen zu, wie sie mich pas­sie­ren in der einen oder ande­ren Rich­tung, ohne sie je betre­ten zu haben. Stra­ßen­bah­nen sind anwe­send, aber nicht ver­füg­bar, weil ich das so ent­schie­den habe. Das hat es in mei­nem städ­ti­schen Leben noch nie zuvor gege­ben. Ein­mal war­te­te ich vor einer Ampel, als ein Wag­gon der Linie 16 neben mir hielt. Ich dach­te, sie war­tet wie ich. Im Wag­gon saß eine jun­ge Frau. Sie schau­te mich an und lächel­te. Die jun­ge Frau trug kei­ne Mas­ke, ihr Mund war knall­rot geschminkt. Sie schien begeis­tert zu sein. Ihre Augen strahl­ten. Sie hat­te etwas Ver­rück­tes an sich in die­sem Moment, etwas Tri­um­phie­ren­des. — stop
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geburtstage

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marim­ba : 0.18 UTC — Vaters und Mut­ters Geburts­ta­ge set­zen sich fort. Todes­ta­ge sind hin­zu­ge­kom­men. Manch­mal fällt Schnee, wenn Geburts­ta­ge wie­der­keh­ren, manch­mal scheint sehr warm die Son­ne, wenn wir Todes­ta­ge erin­nern. Ich tas­te mit klei­nen inne­ren Hän­den nach Gefüh­len zu die­ser Beob­ach­tung. — stop
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von einer walzenspieldose

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nord­pol : 22.58 UTC — Vor Jah­ren, zur Som­mer­zeit, an der Sei­te einer schwer­mü­ti­gen Frau durch trop­fen­den Wald nahe eines Kran­ken­hau­ses spa­ziert. Es hat­te gereg­net, eine Sint­flut, das Kleid der Frau, von dem sie erzähl­te, dass es sich um ein bren­nen­des Kleid han­de­le, kleb­te an ihrem Kör­per fest. Schmal war sie gewor­den, zer­brech­lich, fast durch­sich­tig die Haut ihrer Hän­de, ihrer Wan­gen, ihres Hal­ses. Ich erin­ne­re mich, dass ich ihr Libel­len zeig­te, sie jag­ten dicht über den damp­fen­den Boden hin, Wald­erd­bee­ren, einen Frosch. Ich frag­te nach ihren Gedan­ken, aber ich konn­te sie nicht errei­chen, auch mit mei­nen Bli­cken nicht, weil sie mich nicht anse­hen woll­te, son­dern vor sich hin starr­te, indem sie vor­sich­tig ihre Schrit­te setz­te, als wür­de der Boden unter ihren Füßen nicht wirk­lich exis­tie­ren. Ihr fei­nes Gesicht, ich erin­ne­re mich, ihre hel­len Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer lan­gen Zeit des Schwei­gens sag­te, nie­mand kön­ne ver­ste­hen, wie sie sich füh­le, kein Mensch, das sei schreck­lich, und das Atmen, die Angst, die Lee­re, der Ein­druck zu fal­len, und dass sie nicht wis­se, wann das alles wie­der­kom­men wür­de, wenn es doch ein­mal auf­ge­hört haben soll­te. In einer ihrer Hän­de barg sie eine Spiel­do­se. Manch­mal hielt sie die klei­ne Maschi­ne vor ihr Gesicht und dreh­te an einer Kur­bel. Sie neig­te dann den Kopf zur Sei­te, und für einen Moment schien der Schmerz nach­zu­las­sen, eine Ahnung im Som­mer­re­gen, eine Erfah­rung größ­ter Fer­ne und Hilf­lo­sig­keit inmit­ten zir­pen­den, pfei­fen­den, rau­schen­den Lebens. — Ich habe von die­ser Begeg­nung im Wald bereits ein­mal erzählt. Weil ich heu­te über was­ser­fes­te Wal­zen­spiel­do­sen notier­te, erin­ner­te ich mich. — stop

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ai : CHINA

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MENSCH IN GEFAHR : “Die Bür­ger­jour­na­lis­tin Zhang Zhan (张展) ist von der Poli­zei in Shang­hai inhaf­tiert wor­den und wird zur­zeit im Gefäng­nis des neu­es Bezirks Pudong fest­ge­hal­ten. Sie ist will­kür­lich inhaf­tiert, weil sie ihr Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung aus­ge­übt hat. Die­se Recht ist in Arti­kel 19 der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te (AEMR) ver­an­kert. / Zhang Zhan reis­te im Febru­ar 2020 nach Wuhan, um über den Aus­bruch von Covid-19 zu berich­ten. She berich­te­te über die Inhaf­tie­rung unab­hän­gi­ger Reporter_innen und die Schi­ka­ne der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen der Betrof­fe­nen. Am 15. Sep­tem­ber wur­de sie ange­klagt, “Streit ange­fan­gen und Ärger pro­vo­ziert” zu haben (寻衅滋事罪). Dar­auf ste­hen bis zu fünf Jah­re Haft. Ihr droht die­se Haft­stra­fe nur auf­grund ihrer Bericht­erstat­tung über einen Sach­ver­halt von öffent­li­chem Inter­es­se. / Zhang Zhan trat in den Hun­ger­streik, um gegen ihre Inhaf­tie­rung zu pro­tes­tie­ren und ihre Unschuld zu beto­nen. Obwohl sie die Absicht hat­te, den Hun­ger­streik fort­zu­set­zen, sol­len Gefäng­nis-beam­t_in­nen ihr gegen ihren Wil­len Nah­rung ver­ab­reicht haben. Sie muss dar­über­hin­aus Fuß­fes­seln tra­gen und ihre Hän­de sind seit über drei Mona­ten Tag und Nacht gefes­selt. Die­se Maß­nah­men ver­sto­ßen gegen das abso­lu­te Ver­bot der Fol­ter und ande­rer grau­sa­mer, unmensch­li­cher oder ernied­ri­gen­der Behand­lung oder Stra­fe und stel­len eine Ver­let­zung der Ver­pflich­tun­gen Chi­nas unter inter­na­tio­na­len Men­schen­rechts­nor­men dar. Die Aus­wir­kun­gen die­ser Maß­nah­men auf den Gesund­heits­zu­stand von Zhang Zhan geben Anlass zu gro­ßer Sor­ge. Ihr Zustand hat sich seit Sep­tem­ber sehr ver­schlech­tert. - Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

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der kleine august

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ulys­ses : 16.55 UTC — Ich spre­che zu schnell, dach­te August, ich spre­che zu schnell, zu häu­fig und zu lang. Ich wer­de von nun an lang­sa­mer spre­chen und sel­te­ner und lei­se. Er hat­te sich, noch ein Kind, vor­ge­nom­men lang­sa­mer und deut­li­cher zu spre­chen, weil sei­ne Freun­de und sei­ne Eltern und sei­ne Leh­rer immer wie­der ein­mal bemerkt hat­ten, dass er viel zu viel spre­chen wür­de. Du sprichst, lie­ber August, zu lang und zu schnell. Wenn er sich erin­ner­te, ent­deck­te er zahl­rei­che Wochen, Mona­te, Tage sei­nes kur­zen Lebens, da er ver­such­te, stil­ler zu wer­den. Er war durch­aus erfolg­reich gewe­sen, aber immer nur so lan­ge er sich selbst zuhör­te und sich in Gedan­ken sag­te, lang­sam spre­chen, August, lang­sam spre­chen, jetzt hörst du auf zu spre­chen. Du sagst ein­mal zehn Minu­ten lang nichts. August sah auf sei­ne Uhr. Mut­ter frag­te ihn, wie es in der Schu­le gewe­sen war, aber August sag­te nichts, sah auf die Uhr und war­te­te. Warst du denn in der Schu­le, frag­te Mut­ter. Natür­lich, war ich in der Schu­le gewe­sen, dach­te August, ich erin­ne­re mich, gera­de eben bin ich zurück­ge­kehrt. Er sah auf die Uhr und war ganz still und er fühl­te sich wohl und dann waren zehn Minu­ten Zeit der Stil­le des klei­nen August ver­gan­gen. Kaum waren zehn Minu­ten Zeit ver­gan­gen, war August schon in den Gar­ten gerannt. Mut­ter saß im Gras in der Son­ne und schäl­te Kar­tof­feln. Heu­te habe ich kaum etwas gesagt in der Schu­le, erzähl­te August. Er sprach sehr lang­sam. Ich war ganz still, sag­te August, fast bin ich ein­ge­schla­fen. Dann habe ich etwas gesagt, aber ich war wie­der viel zu schnell. Da hab ich dann geschwie­gen, habe nur die Hälf­te erzählt von dem, was ich erzäh­len woll­te. Da bin ich dann ein­ge­nickt. Und als ich wach wur­de, habe ich die­se furcht­ba­re Stim­me gehört. — stop