charlie : 0.01 — Während eines Spaziergangs entdeckte ich unlängst im Eingangsbereich einer luxuriösen Wohnanlage eine Regenmaschine. Eine Regenmaschine, werden Sie vielleicht fragen, was ist denn das? Nach Beobachtung, eine halbe Stunde, lässt sich Folgendes notieren. Eine Regenmaschine regnet je für drei Sekunden genau dorthin, wohin ein ordentlicher Regen, der vom Himmel kommt, nicht fallen kann, weil ihn ein Dach, beispielsweise, daran hindert. Eine Regenmaschine hingegen regnet auch unter Dächern oder in Hauseingängen oder in Wohnungen, und auch dann, wenn es gerade einmal nicht vom Himmel regnet, regnet sie im Takt einer Minute. Dieser Regen einer Regenmaschine, wie ich sie vorgefunden habe, ist also ein besonderer Regen, ein Regen, der sich gegen Personen richtet, gegen Straßenbürger, gegen Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Organisierter Regen, sagen wir, Regen gegen den Schlaf und diese Dinge. — stop
Aus der Wörtersammlung: anis
doppelhelix
echo : 0.01 — Eine Fotografie, die James Watson und Francis Crick vor ihrem Modell einer DNA-Doppelhelix zeigt. Der Eindruck, Watson würde einen an der Zimmerdecke lungernden Trompetenkäfer betrachten, dessen Gattung zum Zeitpunkt der Aufnahme sich bereits abzuzeichnen beginnt.
Vielleicht sollte ich sagen, dass Trompetenkäfer rein pneumatische Arbeiter sind, während Posaunenkäfer sowohl pneumatische als auch mechanische Verfahren der Tonerzeugung in sich vereinigen. Drummer knallen elektrisch. Bassisten verfügen über einen Körper von ungewöhnlicher Länge, über ein Gehäuse, welches von feinsten Lamellenknochen ausgebildet sein wird. Gerade diese wohlklingenden Wesen werden eines Tages mit Zigarren leicht zu verwechseln sein. Das Erstaunliche an musizierenden Käferwesen ist, dass sie den Musiker sowohl als auch ein Instrument, das von Menschen erfunden wurde, mit sich führen, dass sie also symbiotische Wesen sind. — stop
nasa
echo : 0.15 — Im botanischen Garten spaziert. Das angenehm rasselnde Geräusch des Regens, die Luft hell vom Wasser, das noch kalt und geruchlos ist. Stöberte in Notizbüchern. Entdeckte folgende Sequenz: Sonntag. Heute ist Schwester Julia wieder im Dienst. Sehe zu, wie sie Marikki vorsichtig wäscht. Behutsame Bewegungen, ja, sehr feine Berührungen, beinahe zärtlich. Sie trägt einen Mundschutz, der sich, wenn sie lacht, wie ein Segel bläht. Sie sagt, dass Marikki uns hören könne, deshalb summe sie und deshalb hört Marikki gerade etwas NASA, während ich in ihrer Nähe sitze und notiere und im Cheever lese, heitere Gespräche der Apollo 14 Besatzung auf dem Flug vom Mond zurück. Habe bemerkt, dass ich die Luft anhalte, wenn ich sie betrachte, dass ich jenseits der amerikanischen Stimmen, die links und rechts ihres zierlichen Kopfes wispernd durch die Häute der gepolsterten Ohrhörer dringen, nach weiteren, beruhigenden Geräuschen suche. 18. Juni 2006
karpfenzungen
18.15 — Ich hörte, eine U‑Bahn-Linie soll einmal vor langer Zeit Europa mit dem nordamerikanischen Kontinent verbunden haben. Sie folgte dem 55. Breitengrad unter atlantischen Gesteinen, nahe Bryant Park, Manhattan, stieg man zu. Dann fuhr man los. Man fuhr zwei Tage und drei Nächte, Zeit, viel Zeit, Geschichten zu erzählen. Wenn Nacht geworden war unter dem Meeresboden, schlief man auf Hängematten gebettet tief und fest, war wieder Tag geworden, saß man plaudernd vor den Fenstern zu den Steinen. Am letzten Abend der Reise endlich wurde getanzt bis spät in die Nacht. Schon mitteleuropäischer Zeit, servierte man über offenen Feuern gebratene Täubchen. Die waren prall gefüllt mit Karpfenzungen. Dann war’s fünf und Morgen über Budapest. Metro Vörösmarty tér stieg man aus und jeder ging seiner Wege. – Zwei Uhr fünfundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
mercè rodoreda
0.02 — Eine wunderbare Geschichte habe ich entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich darf sie rasch notieren: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: — Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
dubrowka – theater
22.15 — Im Café eine Unterhaltung mit einem Ermittlungsbeamten organisierte Kriminalität. Wir kommen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot.
savanne
5.57 — Träumte hochgewachsene afrikanische Frauen, Nachtläuferinnen, die weite Strecken durch Wälder eilten. Unentwegt sprachen sie mit Funkgeräten, aus welchen meterlange, geschmeidige Antennen ragten. — Muss ich die Existenz der Kiemenmenschen in einem Text begründen? Kann ich in der Nähe des Wortes Kiemenmensch, das Wort Froschmann für einen Taucher noch sinnvoll verwenden? — stop
geräuschstempel
15.01 — Welches Geräusch erzeugen zwei Millionen Ameisenbeine, sobald sie in rasender Bewegung einen Baum erklimmen? Existiert vielleicht ein indianisches Wort für dieses spezielle Geräusch? Auf welchem Wege könnte ich von diesem Wort erfahren? Vielleicht einmal eine Geste für das Wort erfinden, sobald ich von ihm gehört haben werde. — stop
herzschlag
2.18 — Von Zeit zu Zeit, wenn ich in einem botanischen Garten sitze beispielsweise, wenn ich mir wünsche, eine der chinesischen Nachtigallen möge von den Bäumen herunterkommen und sich zu mir setzen, halte ich die Luft so gründlich an, dass ich zu einer lautlosen Erscheinung werde unter scheuen Vögeln. – Stunden des Arbeitens, des Wartens. — Das kaum noch wahrnehmbare Brausen einer Stadt jenseits der Bäume, jenseits der Mauern. – Tropfendes Wasser. — Meine Hände, die die Tastatur der Notiermaschine so behutsam berühren, als würden sie Ameisenrücken beschriften. — Weit nach Mitternacht. Es ist so still, dass ich glaube, von fern meinen Herzschlag zu hören. — stop
ilse aichinger
5.38 — Es soll jetzt Tonfilme geben. — Das war ein rätselhafter Satz. Und es war einer von den ganz wenigen rätselhaften Sätzen der Erwachsenen, die mich nicht losließen. Einige Jahre später, ich ging schon zur Schule, sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu meiner Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späten Nachmittag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pianistin, unterrichtete für kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasankino. Es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich, und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. Aber man hat keine Wahl, was ich nicht nur bezüglich des Todes, sondern auch bezüglich der Auswahl der Filme zuweilen bedauere, wenn meine liebsten Filme plötzlich aus den Kinoprogrammen verschwinden. Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe sechs oder siebenmal in denselben Film, wenn in diesem Film Schnee fällt oder wenn die Landschaften von England oder Neuengland auftauchen oder die von Frankreich, denen ich fast ebenso zugeneigt bin. Ilse Aichinger : Mitschrift