3.15 – Kaum drei Minuten zurück, überquerte sehr langsam, Stelzschritt für Stelzschritt, eine Spinne von enormer Größe meinen Schreibtisch. Sie kam von rechts über die Tischkante, also von Westen, und marschierte auf einer schnurgeraden Linie ostwärts. Als sei ich schon immer hier gewesen, der Tisch, der mein Tisch ist, zwei Bücher, die meine Lesebücher sind, meine Schreibmaschine, meine Hände und meine großen Augen, kletterte sie an einem Mann vorüber, der die Luft anhielt, der Fluchtinstinkte zähmte, der sich sagte, dass diese Spinne, eine sehr entscheidende Spinne darstellte, dass, wenn er die Gegenwart dieser Spinne nicht ertragen könnte, er, der ganze Mann, für Urwald jeder Art nicht geeignet sei. — Haben Spinnen dieser Größe einen persönlichen Geruch? — Könnte ich je eine Spinne verzehren? — Ist es möglich, einen Gedanken zu erfinden? — stop
Aus der Wörtersammlung: art
kartäusernelke
2.30 — Unter dem Begriff Kartäusernelke notiert Walter Benjamin, dass dem Liebenden der geliebte Mensch immer einsam erscheine. – Ein seltsamer, ein geheimnisvoller Gedanke. – stop
zyklope
20.33 — Einmal, vor zwei oder drei Jahren, erzählte mir ein junger Medizinmann einen merkwürdigen Traum. Folgendes, sagte der Mann. Stell dir einen Wartesaal vor, einen Bahnhof. Reisende sitzen dort auf hölzernen Bänken. Sie rauchen und plaudern miteinander. Unweit einer Schaltergalerie kauern unbekleidete Zyklopen von schneeweißer Haut zu einem Kreis auf dem Boden, tauschen Herzen und Gehirne und Beine und Arme von Menschen. Sie rauchen gleichwohl und scherzen in einer Sprache, die nicht zu verstehen ist. Ich erinnere mich, meinen eigenen Kopf gesehen zu haben. So lange reichen sie ihn herum, bis jeder der Zyklopen ihn ein Mal in Händen gehalten und von allen Seiten her betrachtet hat. — An dieser Stelle machte der junge Mann eine Pause. — Wolkenloser Nachthimmel mit Mond. Der Eindruck, es würde regnen. — stop
sekundengeschöpfe
20.14 — Im Haus sind alle Fernsehgeräte ausgeschaltet. Eine beinahe geräuschlose Welt. Aber da ist die Stimme einer indischen Frau in meinem Kopf, wie sie vor dem Meer stehend nach ihren Kindern ruft. Eine lange Zeit ist das her, das Meer und diese Frau. Ich scanne uralte Fotografien der Stadt Paris : Steine : Metalle : Wolken : Mäntel : schwarz und weiß und grau. Das summende Geräusch der Maschine, sobald Fotografien aus der Welt des Zelluloids in die Welt der digitalen Speicherung wandern. Ein Mann, der in der geöffneten Tür eines Metrowaggons unter Artgenossen steht. Eine junge Frau. Der Indische Ozean. Sie kniet jetzt. Sekundengeschöpfe. — stop
büchermenschen
15.02 — Ich hörte mich von Büchermenschen erzählen, von Büchermenschen, jawohl. Das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden‑, und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. — stop