Nordpol : 15.45 UTC — In der Straßenbahn Linie 11 sitzen zwei junge Männer. Sie sehen hin zum Fluss. Da ist ein Weg zu sehen, der gepflastert ist. Hier hat man die Juden entlang zu einer Halle geführt, sagt einer der jungen Männer. Dort haben sie gewartet und dann wurden sie in Züge gesetzt und nach Osten transportiert. Deportiert! — wiederholt der andere junge Mann und sieht hin zu dem Weg, über den die Menschen damals gingen. Sie trugen Koffer, nehme ich an, setzte der junge Mann fort, der zunächst von dem Weg und den unsichtbaren Menschen auf dem Weg erzählte. Es waren viele Juden, sagte er, es waren 10.000 oder vielleicht ungefähr 40.000 Juden. Er machte eine Pause. Es sagte dann: Ich kann mir die Zahl nicht merken. — stop
Aus der Wörtersammlung: ast
gramm
charlie : 15.01 UTC — Folgendes: Chinchilla. Name: Darwin . Alter: 8 Jahre 2 Monate . Wartet seit: 6 Monaten . Gewicht: 822 Gramm . Größe: 18 cm . Geschlecht: männlich . Kastriert: Ja . Standort: Lebt noch bei Besitzer . Status: Reserviert . Letzte Änderungen: 07.04.2019 / stop — Nichts weiter. — stop
apollo
himalaya : 22.08 UTC — 28. Juli, ein sehr warmer Tag. Die Fenster sind geöffnet, Rollos weisen das Licht der Sonne zurück. Ich liege auf dem Sofa und beobachte mit einem Auge einen Käfer, der sehr langsam die Südwand meines Arbeitszimmers entlangspaziert. Man könnte sagen, der Käfer kommt auf mich zu, vielleicht wünscht er sich mit mir zu unterhalten, vielleicht wünscht er nachzusehen, was dieser Herr seit Stunden tut, warum er auf seinem Sofa ruht, Computerschreibmaschine auf seinem Bauch, Kopfhörer in den Ohren, fast bewegungslos, eine bekleidete Statue, ein um 50 Jahre gealterter Junge, der in einer Zeitkonstruktion ohne Schnitt, die Annäherung der Astronauten der Apollo 11 Mondlandemission beobachtet. Was für ein wunderbarer Tag. Von Zeit zu Zeit hole ich etwas zu trinken, dann wieder vor dem Bildschirm, die Stimmen dreier mutiger Männer in den Ohren, die mich ein Leben lang begleiteten, als wäre ich geboren worden, Zeuge zu sein, rechtzeitig, um 8 Jahre später ausreichend alt geworden zu sein, um zu verstehen, was sich ereignen wird. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von drei Jahren auf warmem Land liege, das atmet. Bald fliege ich durch die Luft, schwebe über dem Bauch meines Vaters und lache, weil ich gekitzelt werde. Meine Stimme, meine kindliche Stimme. Und da sind eine hölzerne Eisenbahn, das Licht der Dioden, dampfendes Zinn, Lochkarten einer Computermaschine und die Geheimnisse der Algebrabücher, die der Junge von sechs Jahren noch nicht entziffern kann. Aber ein Forscher, wie der Vater, will er schon werden, weshalb er die Schneespuren der Amseln, der Finken, der Drosseln in ein Schulheft notiert. Zu jener Zeit drifteten Menschen bereits in Geminikapseln durch den Weltraum, um das Sternreisen zu üben. Nur einen Augenblick später waren sie schon auf dem Mond gelandet, in einer Nacht, einer besonderen Nacht, in der ersten Nacht, da der Junge von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch der Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, in genau derselben besonderen Nacht, saß zur gleichen Minutenstunde irgendwo im Süden der Dichter Giuseppe Ungaretti vor einem Fernsehgerät in einem Sessel und deutete in Richtung des Geschehens fern auf dem Trabanten auf der Bildschirmscheibe, auf einen Astronauten, wie er gerade aus der Landefähre klettert, oder habe ich da etwas in meinem Kopf verschoben? Sicher ist, auf jenem Fernsehgerät, vor dem Ungaretti Platz genommen hatte, waren drei weitere, kleinere Apparate abgestellt. Alle zeigten sie dieselbe Szene. Echtzeit. Giuseppe Ungaretti war begeistert, wie wir begeistert waren. Ja, so ist das gewesen, wie heute, viele Jahre später. – stop
von pfirsichen
echo : 10.26 UTC — Wie die Briefe langsam sterben, ihre Umschläge, Papiere, Postwertzeichen, welche Flugzeuge und Schmetterlinge zeigen, die gleichfalls seltener werden. Wenn die Briefe langsam sterben, dann auch jene, die Briefe schreiben für andere Menschen, die nicht lesen können. Ich stellte mir einen älteren Herrn vor, der in einem Büro von Holz in London sitzt, letzter seiner Zunft, dutzende Kollegen haben schon vor Jahren ihre Arbeit eingestellt, haben ihre hölzernen Schreibabteile und ihre Schreibmaschinen verlassen, da werden jetzt Lampen verkauft oder Schmuck oder Telefone oder Kartons mit Reis und gebratenen Hühnern. Wie ist solch eine Vorstellung möglich, werden Sie vielleicht fragen. Nun, es ist so, dass ich mir dachte, dass dieser letzte Briefschreiber der Stadt London den Auftrag erhalten hatte, einen unendlichen Brief zu schreiben, weswegen sie zu zweit sind, ein fein gekleideter älterer Herr, der den Brief diktiert, der Auftraggeber, und eben jener ältere Herr, der die Zeichen des Briefes mittels einer Tastatur auf Papierbögen trägt. Sie sind zu einer kleinen Attraktion geworden. Manchmal schlafen sie oder nehmen etwas vom nachbarschaftlichen Reis zu sich, auch Pfirsiche oder Melonen bei großer Hitze. — stop
chronik der gefühle
echo : 4.55 UTC — Spinnen hier oben in meiner Wohnung unter dem Dach sind scheu geworden. Fast möchte ich manchmal meinen, dass sie gar nicht länger existieren in meinen Zimmern, wenn ich nicht da und dort Spuren beobachten könnte, die auf ihre Existenz verweisen, Netzwerke oder ein Häufchen winziger Fliegen, welches noch vor wenigen Tagen auf dem Fensterbrett ganz sicher nicht gewesen ist. An einem Abend, ich hatte die Fenster geöffnet, spazierte plötzlich ein recht umfangreiches Spinnenexemplar über die Wand meines Arbeitszimmers, groß wie die Schale eines Teelöffels. Die Spinne bewegte sich lautlos über mehrere Wände hin, bis sie, ohne eine längere Pause eingelegt zu haben, in der Küche durch ein geöffnetes Fenster meine Wohnung wieder verließ. Kaum eine halbe Stunde war die Spinne in meiner Wohnung gewesen. Und ich dachte, vielleicht hat sie eine Spur, Duftspur oder Faden verlegt, es werden weitere Spinnen kommen, hoffentlich eher kleinere Spinnen, die ich gern zu Gast haben würde, während ich die großen Spinnen doch sehr gründlich fürchte. Ich warte nun seit einigen Tagen bereits. In dieser Zeit des Wartens habe ich unheimliche und präzise erzählte Geschichten Alexander Kluges gelesen und auch gehört, sie sind wundervoll anzuhören. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 734, Luftfahrt — 38, Automobile — 68 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 2, 19. Jahrhundert – 28, 20. Jahrhundert – 1324, 21. Jahrhundert — 7832 ], Trolleykoffer [ blau : 5, rot : 18, gelb : 22, schwarz : 122 ], Seenotrettungswesten [ 7805 ], physical memories [ bespielt — 1, gelöscht : 77 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 3587 ], 1 hölzernes Fernglas ohne Gläser, Brummkreisel : 2, Öle [ 0.77 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 6, Kniegelenke – 32, Hüftkugeln – 56, Brillen – 65 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 33, Größen 38 — 45 : 21 ], Plastiksandalen [ 5325 ], Reisedokumente [ 388 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 765 ], Gasmasken [ 5 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 8 ], Engelszungen [ 155 ] | stop |
vom alltäglichen
echo : 0.20 UTC — Das Radio erzählt von Menschen, deren einzige Aufgabe sei, Tag ein und Tag aus in kürzeren Abständen die Leertasten je einer Rechenmaschine zu drücken, damit diese nicht einschlafen möge. — stop
abend mit fliege no 2
bamako : 22.58 UTC — Denkbar ist, dass ich mir in wenigen Minuten die Gegenwart einer Fliege so sehr wünschen werde, dass mich kurz darauf tatsächlich eine Fliege in der Vorstellung begleiten wird, als wäre sie eine Freundin der Luft, die mir nicht von der Seite weichen möchte. Für Sekunden wird sie wirklich geworden sein. Ich höre sie bereits jetzt, vielleicht weil ich mich, während ich über meinen Fliegenwunsch nachdenke, an Fliegen erinnere, wie sie mir um den Kopf herum brummen oder pfeifen. Kurz darauf, werde ich mich, wie gestern Abend noch geschehen, vor meine Schreibmaschine setzen und eine Geschichte von einer brummenden Fliege schreiben, wie sie mich von einem Zimmer in das Zimmer gehend in Kopfes Höhe fliegend begleitet. In dieser Sekunde, da ich von ihr erzähle, mit den Tasten, wird deutlich, dass sie nicht existiert, und doch kann ich sie hören mit dem Kopf, ein Oszillieren zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, den 14. Buchstabenknoten, seit ich an dieser Stelle notiere. — stop
abend mit fliege no 1
alpha : 22.45 UTC — Seltsam ist das mit den Fliegen geworden, den Faltern, den Käfern. Früher noch an warmen Sommerabenden, sobald ich meine Fenster öffnete, waren unverzüglich, als hätten sie gewartet, dutzende Tiere in meine Wohnung geflogen, saßen auf und in Lampenschirmen, spazierten über Bildschirme der Schreibmaschinen und des Fernsehgerätes, hockten an den Wänden, besuchten meine unbekleideten Beine und Arme, Stirn auch und meine Hände, während sie mit den Tasten arbeiteten. Auch an diesem Abend könnten sie mich besuchen, es scheint jedoch, als wäre niemand da draußen oder nur sehr wenige Käfer, die Marienkäfer sind. Wenn ich an diesem Abend von einem Zimmer ins andere gehen würde, indessen eine Fliege mich in Kopfhöhe begleitete, wäre sie in genau dem Augenblick, da ich ihre Existenz mit meinen Wörtern verzeichne, eine erfundene Fliege. — stop
kandinskyraupe
nordpol : 18.54 — Es existiert ein besonderer Grund, weswegen ich meinen Text von der Kandinskyraupe, den ich vor acht Jahren notierte, an dieser Stelle und an diesem Tag wiederhole. Ich habe, als ich ihn vor wenigen Minuten bemerkte, entdeckt, dass ich mich nicht erinnern konnte, ihn persönlich geschrieben zu haben. Der Text war mir fremd gewesen. Eine seltsame Erfahrung. Nun habe ich mir vorgenommen, in acht Jahren an diese Stelle zurückkehren und zu prüfen, wie es sich mit meinem Erinnerungsvermögen verhalten wird im Jahr 2027. Hier ist Dein Text, lieber Louis: Nach heftigem Gewitterregen habe ich einen Kandinsky entdeckt im Park, eine nasse Raupe von so wunderbarer Zeichnung, dass ich sie in eine Streichholzschachtel setzte und mit nach Hause genommen habe. Sie lungert jetzt auf meinem Schreibtisch herum. Der Eindruck, dass sie nicht sehr begeistert ist, sobald ich mich mit einem Finger oder meinen Augen nähere, vielleicht wegen meines Anblicks oder weil es eigentlich dunkel sein müsste um diese Zeit, da doch Nacht geworden ist. Drohende Haltung, das heißt, gesenkter Kopf, Fühler derart zu mir hin ausgerichtet, als wären sie Hörner eines Stieres. Ihrem Rücken entkommen vier Quasten von gelber Farbe senkrecht einer ledernen Haut, die dunkel ist und zart liniert wie die Handflächen eines Berggorillas. Zarteste Federn, sie blühen feuerfarben an den Flanken des Tieres, aber grüne, sehr kurze Beine, acht links, acht rechts. Manchmal fällt die Kandinskyraupe um. Sie liegt dann recht flach auf der Seite zur Schneckenzeichnung geworden. Ob ich sie mit etwas Banane an mich gewöhnen könnte? Oder mit Cole Porter vielleicht? Zwei Stunden Cole Porter, das sollte genügen. – stop