charlie : 8.01 UTC — Die seltsame Sprache der modernen Welt im alltäglichen Gebrauch. Einer sagt, nachdem er sich verliebte, er werde mutig in Gefühle investieren. Ein anderer trifft sich mit Freunden und spricht am Telefon davon, sich gerade in einem Meeting zu befinden. Vor zwei Tagen wurde ich von einer Freundin gebrieft, sie habe sich von ihrem Mann getrennt. Ein Cluster von Komplikationen verhinderte die Zulassung seines Sohnes zur Prüfung am MIT, berichtet ein guter Bekannter. Er schreibe ein Memo, verspricht ein Nachbar, ich weiss nicht worüber. Unlängst war ich versucht, folgendes zu sagen: Ich arbeite in der erzählenden Informationsverarbeitung. Ich sagte dann: Ich schreibe Geschichten. — stop
Aus der Wörtersammlung: charlie
nuevo mundo
lima : 12.15 UTC — Ich stelle mir einen Film vor, ein mediales Arche Noah Prinzip, jedes Lebewesen unseres Planeten wäre darauf verzeichnet, jede Pflanze, auch das mikroskopisch Kleinste, Mikroben, Bakterien, Viren. In kürzeste Schnittfolgen müßte dieser Film zerlegt sein, um in menschlicher Lebenszeit je betrachtet werden zu können. Welches Lebewesen könnte auf dem letzten verfügbaren Bild des Filmes zu sehen sein? — stop
im aufzug : zwei hände
charlie : 10.02 UTC — Die plötzliche Langsamkeit meines Denkens im Gespräch mit Menschen, die die Sprache meines Denkens nicht oder nicht wirklich gut verstehen. Unverzügliche, intensive Suche nach Möglichkeiten einfacher Darstellung, oder gar die Erfindung einer individuellen, einer in diesem Moment des Verständigungsversuches wirksamen Zeichensprache, Radare, die anstrengend sind wie Springseiltraining an Ort und Stelle. Einmal begegnete ich einem Mann in einem Aufzug. Sein Gesicht war entstellt, er mochte mich nicht ansehen, er schimpfte lautstark mit seiner Hand. Plötzlich hörte ich Sätze, die an mich gerichtet waren. Als ich dem scheuen Mann antwortete, sprach ich, eine vorsichtige Geste, gleichwohl in die Richtung meiner eigenen rechten Hand, so dass unsere Hände zu Telefonen wurden. — stop
am fenster
charlie : 22.01 UTC — Es ist Samstagabend geworden. Ich habe an diesem Tag lange Zeit Eichhörnchen beobachtet, wie sie blattlose Bäume vor meinen Fenstern untersuchten, als wären diese Bäume gerade erst gewachsen, unbekannte Orte also, die zunächst inspiziert werden mussten. Ich winkte von Zeit zu Zeit, die Eichhörnchen blieben dann für einen Augenblick still sitzen, ich glaube, sie haben mich beäugt, haben möglicherweise darüber nachgedacht, ob sie sich an mich erinnern, und wenn ja, welche Erfahrung sie mit mir saammelten. Vermutlich werden sie gedacht haben, diesen Vogel dort drüben am Fenster kennen wir, er ist nicht gefährlich, er flattert nur mit seinen Flügeln, er kann nicht fliegen. — stop
schokolade
charlie : 3.05 — In der Straßenbahn berichtete ein älterer Herr, er erinnere sich immer wieder einmal zur Weihnachtszeit an das Wort Panzerschokolade. Das sei Schokolade gewesen, die für kämpfende Soldaten mit der angstlösenden Substanz Pervitin versetzt worden sein soll. Er könne nicht mit Sicherheit sagen, ob er als Kind jemals einen Nikolaus von Schokolade geschenkt bekommen habe, ihre Gestalt jedoch, ihre roten, blauen und golden glänzenden Metallmäntel unserer Tage rufen unausweichlich das Wort Panzerschokolade in ihm hervor. Ob ich wüsste, fragte er, dass Pervitin Crystal Meth ähnlich sei, dass man Panzerschokolade damals an Kiosken verkaufte, an Zivilisten, eine unglaubliche Sache. — Mitternacht. Noch zu tun: Ein authentisches Wort für Pulsgeräusche der Kolibris erfinden. — stop
nachtbild
charlie : 2.02 — Noch dunkel, aber doch soviel Licht, dass ich eine Hand entdecke, die sich genauso bewegt, als würde sie malen. Der Mensch, zu dem diese malende Hand gehört, schläft, vermutlich ereignen sich im Augenblick meiner Beobachtung Träume, die die Hand bewegen. Ich versuche in der Beobachtung herauszufinden, das heißt, vorzustellen, was diese Hand gerade malen oder zeichnen könnte. Darüber schlafe ich ein. Als Morgen geworden ist, sage ich fröhlich: Du hast heut Nacht vielleicht im Schlaf gemalt! Kannst Du Dich erinnern, an welchem Bild Du gearbeitet haben könntest? — Es ist die Zeit der Hummerernte. Erste kalte Winde fließen über die großen Seen südostwärts. Ecke Willow St. passiert ein Leguan die Cranberry St., ein Polizist, der sich freut, regelt den Verkehr. Plötzlich eine Frage wie eine brennende Lunte, eine Frage, die ich in einer fremden Sprache vorsichtig notiere, ob sich Hummertiere an menschlichen Körpern vergreifen? Beunruhigend, wie damals, Ende des vergangenen Jahrhunderts, die Frage nach den Vorlieben der Viktoriaseebarsche? — stop
nahe lemmon creek park
charlie : 2.58 — Seit einer halben Stunde suche ich nach einem Namen für einen Mann, den ich einmal vor längerer Zeit beobachtet habe auf Staten Island an einem Strand im Winter. Ich dachte, verdammt, hätte ich ihn doch nur nach seinem Namen gefragt, ich fürchtete damals, ihn zu stören, fürchtete, dass er sofort in den wilden Wäldern nahe dem Lemmon Creek Park verschwinden würde. So still wie damals am Strand, sitze ich nachdenklich und rufe mir die Gestalt des Mannes in Erinnerung, eine schattenlose Figur, die auf einem verwitterten Baumstamm hockt. Du heißt vielleicht Laurentius, denke ich, oder Henry, nein, nicht Henry, Laurentius wird ein guter Name sein. Der Strand ist nass vom Regen und vom Nebel, der tief über dem Meer hängt. Wenn man raus schaut, weg vom Land, sieht man Schiffe, aber nur ihre Bäuche, nicht Brücken, Container, winkende Passagiere. Ich glaube, auch Laurentius beobachtet in diesem Moment seines Lebens Schiffe und Nebel, manchmal schreibt er ein paar Sätze auf ein Notizblatt, reißt das Papier aus seinem Block, fasst in seine rechte oder linke Hosentasche, holt ein Fläschchen hervor, wickelt das Notizblatt um einen Bleistift, führt das in dieser Weise geformte Notizpapierstäbchen in den Hals des Fläschchens ein, verschließt den Behälter mit einem Korken, steht auf und schleudert ihn aufs Meer hinaus. Dann setzt er sich wieder auf den verwitterten Baumstamm, beobachtet die Schiffe, die west- und ostwärts der Küste folgen, um nach einigen Minuten eine weitere Notiz zu fertigen. Einmal kehrt eines der Fläschchen zurück, es ist möglicherweise von der Bugwelle eines größeren Schiffes aus der Strömung getragen worden. Als Laurentius das Fläschchen bemerkt, steht er auf, holt das Fläschchen aus der Brandung, dreht den Korken vom Flaschenhals und schüttelt das Fläschchen solange, bis das Notizzettelröllchen auf seine Handfläche rutscht. Dann wirft er die leere Flasche wieder weit hinaus aufs Wasser, wo es für einen kurzen Moment verschwindet. — stop
=
alpha : 0.08 — f i n g e r z a h l e n
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charlie : 0.02 — l i p p e n b ä n d c h e n
saharaschwefel
charlie : 0.12 — Herr Ludwig, den ich im Januar besuchte, erzählte mir, dass er sich vor Jahren wünschte, ein Schiffsmodell aus Streichhölzern zu bauen. Unverzüglich kaufte er damals einige Tausend der hölzernen Stäbchen, weil er sie auf diesem Wege insgesamt billiger erstehen konnte. Außerdem suchte er nach einem geeigneten Schiff, dessen Körper sehr gut dokumentiert sein sollte. Seine Wahl fiel auf die RMS Queen Mary 1. Er lud Pläne aus dem Internet, Grundrisse, Blaupausen, Hunderte von Fotografien sowie Lettercards, die an Bord des luxuriösen Schiffes von Passagieren während ihrer Reise notiert worden waren. Herr Ludwig erwähnte, dass er sich bald in ein Abenteuer verwickelt fühlte, seine Tage, die zuvor schwere und leere Tage gewesen seien, wären plötzlich leicht geworden und die Zeit ging nur so in Eilschritten dahin, dass es eine wahre Freude war, kaum aufgestanden sei schon wieder Abend gewesen. Im Dezember vor zwei Jahren, kurz vor Weihnachten, war Herr Ludwig seinen Angaben zur Folge mit der Vorbereitung seiner Rekonstruktionsarbeiten fertig geworden, und so öffnete er eine Schachtel Streichhölzer und fügte, nachdem er mit einem Messerchen Schwefelköpfe beider Stäbchen sorgsam abgetrennt hatte, mit einem Klebstoff, der wundervoll nach Walnusslikör duftete, zwei der Zündhölzer seitwärts aneinander. Nach einer Weile, er hatte mehrfach seinen Arbeitstisch umrundet, prüfte er die Festigkeit der Verbindung und war zufrieden. Er baute, in dieser Weise der Klebung fortfahrend, zunächst einen Schornstein des riesigen Schiffes, dann einen zweiten Schornstein, drei Wochen vergingen, bis beide Schornsteine fertig geworden waren, und auf den Tisch gestellt, so dass sie nun miteinander verbunden werden konnten. Die Hände des alten Mannes rochen in jenen Wochen seiner filigranen Arbeit nach Schwefel, und die Luft duftete nach Walnüssen und Aceton, und irgendwann in dieser Zeit muss sich Herr Ludwig, versehentlich oder mit Vorsatz, von seinen Schiffbauplänen entfernt haben. Als Januar wurde, waren auf dem Tisch deutliche Konturen eines Dromedars zu erkennen, dessen Körper auf vier Schornsteinen ruhte, eine wunderbare Wandlung seiner Vorhabens, das Schiff baue er später, sagte Herr Ludwig, in dem er mit einer bewährten Bewegung einen Schwefelkopf von einem Streichholz trennte. Der Kopf hüpfte über den Tisch, und als er von der Kante des Tisches stürzte, war nicht das Mindeste zu hören gewesen. — stop