tango : 10.18 – Kurz nach 10 Uhr morgens sind heut ein paar seltsame Dinge geschehen. Ich saß auf einem schmalen Balkon in angenehmster Luft und hörte dem bezaubernden Gesang eines nicht sichtbaren Vogels zu. Eine Fähre, vielleicht von Sizilien her, kreuzte indessen den Ausschnitt des Meeres, den ich von meinem Stuhl aus wahrnehmen konnte. Sobald sie verschwunden gewesen war, öffnete ich die Times vom Vortag und las, dass noch immer nicht bekannt geworden sei, wo der chinesische Künstler Ai Weiwei gefangen gehalten wird. In Japan versuchte man weiterhin unter höchster Gefahr in verseuchtem Gebiet, Opfer des Tsunami zu bergen. In diesem Moment öffnete sich ein Fenster jenseits der Straße, eine Frau, deren Gesicht schneeweiß gewesen war, starrte mich für einige Sekunden an. Das war ein merkwürdiger Blick, ein Blick, als ob sie mich in diesen Sekunden mit ihren Augen fotografieren würde. Bald zog sie ihren Kopf wieder zurück in den Schatten des Raumes, um kurz darauf wiederzukehren mit einem Korb in der Hand, der an einer Schnur befestigt war. Sie seilte den Korb zur Straße hin ab, sah mich in dieser Bewegung wieder fotografierend an, beobachtete demzufolge wie ich ihrem Korb mit den Augen folgte. Vor dem Haus weit unter uns wartete ein Briefträger. Der junge Mann entnahm dem Korb ein Schriftstück und legte stattdessen eine Flasche hinein. Unverzüglich holte die Frau den Korb wieder zu sich nach oben. Kräftige Bewegungen ihrer dürren Arme. Auch ihre Arme waren so strahlend weiß, dass ich den Eindruck hatte, sie wären aus Licht gemacht oder von der Einsamkeit des Zimmers.
Aus der Wörtersammlung: chinesisch
zeichentiere
ulysses : 5.15 — Das suchende Lernen chinesischer Schrift. Wie ich gestern in Gewitterstunden lächelnd beobachtet wurde, weil ich sagte: Die Zeichen Deiner Sprache erinnern mich an Darstellungen der anatomischen Welt, an Skelette, an Wesen, die ich leichter Hand erfinde, um das eine Zeichen von dem anderen Zeichen unterscheiden zu können. Habe in dieser Weise eine Säbelzahntigerschnecke in meinen Kopf aufgenommen, einen achtarmigen Klammeraffen, eine Doppelkopfameise. Das Formulieren bald ganzer Sätze, jubelnde Zoologie. Guten Morgen!
china / mexiko
tango : 0.00 — Ein Bildschirmsaal, groß wie eine Turnhalle. Vor dem Monitor No 561 sitzt ein Mann und tippt mit seinem rechten Zeigefinger Passagen aus Italo Calvinos Bändchen Herr Palomar in eine E‑Mailbox: In diesem Spätherbst gibt es in Rom etwas Ungewöhnliches zu sehen, nämlich den Himmel voller Vögel. Zeichen um Zeichen arbeitet sich der Mann vorwärts. Zunächst wirft er einen Blick auf das mit linker Hand gebändigte Buch, dann einen Blick vorwärts ins Licht, darauf folgt ein weiteres elektrisches Zeichen, ein feines, vielleicht von einer Feder wiedergegebenes Geräusch unter dem Rauschen tausender Federn, tausender Fingerwerkzeuge, die Text erzeugen, Text versenden, Flüchtiges wie Rauch. — Einmal dort für eine Minute die Zeit anhalten. Lesen, was geschrieben wurde, lesen, was auf den Bildschirmen gerade noch sichtbar ist. Vielleicht auch die Nachricht, dass der ehemalige Vorsitzende des chinesischen PEN, LIU XIABO, Mitunterzeichner der Charter 2008, im Dezember 2008 bereits verhaftet, noch immer verschwunden ist. Oder eine kurze Geschichte, die von der Journalistin LYDIA CACHO RIBEIRO erzählt, deren Leben akut bedroht wird, weil sie in Mexiko gegen Handel mit Frauen kämpft.
hu jia
6.08 — Ich besitze eine kleine Fernsehmaschine. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rollen befinden, so dass sich das empfangene Lichtbild im Raum herumfahren lässt. Gestern Abend, ich saß auf dem Sofa und schaute in das Licht dieser kleinen Fernsehmaschine, kam eine junge Frau ins Bild, das heißt, genauer, die Kameramaschinen, die das Licht für meine Fernsehmaschine einzufangen beauftragt waren, hatten sich weit weg in China auf die Gestalt dieser jungen Frau ausgerichtet und für einen kurzen Zeitraum ihres Lebens hielten sie an ihr fest, an ihrem jungen Gesicht, das voller Trauer gewesen war. — Was habe ich gesehen, was habe ich gehört? — Da war eine junge Frau, eine sehr blasse junge Frau, die in der chinesischen Sprache sprechend davon erzählte, dass ihr Mann, Hu Jia, gerade eben von einem Volksgericht zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt worden war, weil er sein Menschenrecht auf freie Rede ausübend gesagt und geschrieben hatte, die Olympischen Spiele des Jahres 2008 seien für die Menschenrechte in seinem Heimatland eine Katastrophe. Die junge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säugling. Während sie sprach, bewegten sich ihre Hände in einer seltsamen Art und Weise vor Mund und Nase, Gesten von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, Gesten, die ihr Gesicht vielleicht vor den Lichtmaschinen schützen sollten. Ich habe gesehen, dass ihre Hände bebten. Dann war sie wieder weg, und auch ihr Kind. – Fünfzehn Uhr sieben in Lhasa, Tibet. — stop
déjà-vu
15.08 — In der schwankenden Straßenbahn höre ich, wie sie mit brennenden Augen nach Worten suchen für das scheppernde Licht des Magnesiums, für das Fauchen der bengalischen Feuer, die sie in Händen gehalten haben. Da ist eine Nachtsekunde, die Sekunde, in der sie das rote, das verbotene Stäbchen entzündet und gerade noch eben rechtzeitig von sich geworfen haben, da ist das Heulen der chinesischen Pulverpfeifen, da sind Funkenregen, da sind blaugraue Wölkchen, die sich auf kleine Zungen niederlegen. Nicht die Feuerblumen des Himmels, das Spektakel der nächsten Nähe entfesselt die Erinnerung von Stunde zu Stunde. Zündhölzer, verborgen in Hosentaschen, sind zurückgeblieben, auch dieses Schwefelholz, eine heimliche Geschichte. — stop
time
17.50 — Wie viele Stunden Zeit würde ich benötigen, um die chinesische Sprache zu erlernen? — stop
herzschlag
2.18 — Von Zeit zu Zeit, wenn ich in einem botanischen Garten sitze beispielsweise, wenn ich mir wünsche, eine der chinesischen Nachtigallen möge von den Bäumen herunterkommen und sich zu mir setzen, halte ich die Luft so gründlich an, dass ich zu einer lautlosen Erscheinung werde unter scheuen Vögeln. – Stunden des Arbeitens, des Wartens. — Das kaum noch wahrnehmbare Brausen einer Stadt jenseits der Bäume, jenseits der Mauern. – Tropfendes Wasser. — Meine Hände, die die Tastatur der Notiermaschine so behutsam berühren, als würden sie Ameisenrücken beschriften. — Weit nach Mitternacht. Es ist so still, dass ich glaube, von fern meinen Herzschlag zu hören. — stop
china
0.20 — Im Winter nach Berlin, immer im Winter, immer nachts, im Westen ein langsam fahrender Zug hinter Bebra. Dann Grenze. Ein Posten. Türme. Metall. Und Licht. Gelbes Licht, demoliertes Licht. Und Hunde, jawohl, Hunde. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbekannte Land. Auf Bahnsteigen : Volkspolizei, Rücken zum Zug, Wachen, oder so etwas, in den Abteilen mit Stempel, mal freundlich, mal finster, mal kühl. Dann wieder Grenze. Warten. Rangieren. Demoliertes Licht. Irgendjemand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hunde. Dann Westen. Herrn in Zivil, Staatsschutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kenntnis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Kohle. Man steht an einem Fenster in diesem Zug, der wartet in Halle. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aussteigen, man weiß, die Anderen auf den Bahnsteigen jenseits der Posten, jenseits der Geleise, dürfen nicht einsteigen, man weiß, Schüsse könnten fallen. Die da draußen herumstehen, die aus dem Mund dampfen, die von der Morgenschicht in Halle, wissen das besser, als die, die im Zug stehen und mit Westaugen einen Kontakt suchen für Sekunden. Schüsse könnten fallen, jawohl, Schüsse. Und deutsche Sprache, — Halt! Stehen bleiben!
Ich erinnere mich an eine Textpassage. Malcolm Lowry an Bord des Schlachtkreuzers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chinesischer Küste, man spielt Cricket an Deck. Nicht weit, jenseits des Wassers an Land, war ein schrecklicher Krieg im Gange. „Dum! Dum! Dum!, aber die ganze Sache fegte über unsere Köpfe hinweg, ohne uns zu berühren.“ — „Sie können sagen, dass ich dem Mann gleiche, von dem sie vielleicht gelesen haben, der sein Leben auf einem Schiff verbrachte, das regelmäßig zwischen Liverpool und Lissabon hin — und herfuhr, und bei seiner Entlassung über Lissabon nur sagen konnte : die Straßenbahnen fahren dort schneller als in Liverpool.“ Ich erinnere mich an eine Notiz des russischen Dichters Wenedikt Jerofejew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.“
Einmal, wieder Winter in Berlin, Berlin-West, 1987, ein Fest. Geräumige Wohnung. Auf den Tischen Schnapsflaschen und Erdbeergläser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäste aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein kleiner Mann, schütteres Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhythmen mit Messern, mit Gabeln, auf Teller, an Gläser. Man sagt, der Mann sei gerade rübergekauft, man sagt, er habe in Bautzen II gesessen, man sagt, einmal, frostige Luft, habe man den Mann ausgezogen, man habe ihn ausgezogen und in eine Schleuse gestellt, man habe ihn dort vergessen unter freiem Himmel, dann habe man sich seiner erinnert, dann habe man ihn warm geprügelt. — Irre Rhythmen. — Hab ich also Land betreten. — stop