sierra : 16.28 — Gestern Abend, im Flughafenzug, erzählte Galina, die seit zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebt, sie sei vor wenigen Wochen mit ihrer 85 jährigen Großmutter nach Ägypten ans Meer geflogen, ein Wagnis, ein Abenteuer, weil ihre Großmutter, eine federleichte Person, kaum noch auf ihren eigenen Füßen gehen könne. Man habe sie in einem kleinen, offnen Elektroautomobil vor das Flugzeug gefahren und das „uralte Mädchen“ mittels einer speziellen Hebebühne zu einer besonderen Tür am Heck des Flugzeuges transportiert. Dort sei sie winkend verschwunden, um ihrer Enkelin kurz darauf freudestrahlend mittels eines Rollators im Gang des Flugzeuges entgegenzukommen, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Die alte Frau, deren Name Galina nicht erwähnte, soll in ihrem Leben weit herum gekommen sein. Sie lebte in der Ukraine nahe Donezk, einige Jahre später zog sie nach Kirgisien weiter, auch dort, nahe der chinesischen Grenze, wurde die deutsche Sprache in einer Weise gesprochen, dass ich sie nur mit Mühe verstehen würde, bemerkte Galina. In Ägypten habe ihre Großmutter stundenlang bis zu den Schultern mit Wasser bedeckt im Meer gestanden, sie habe sich an einem Schwimmbrett festgehalten und gesummt und gewartet, dass die Fische zu ihr kommen. Ihr dreieckiges Kopftuch, das sie immerzu trage, habe sie indessen so gebunden, wie sie es von Grace Kelly lernte. Abends saßen die junge und die alte Frau in lindgrüne Bademäntel gehüllt im Hotelzimmer vor dem Bildschirm eines Notebooks. Sie waren via Skype mit Familienangehörigen in Donezk verbunden, immer wieder sei die Verbindung unterbrochen worden, einmal seien Detonationen zu hören gewesen, da habe sich ihre Großmutter ins Bett gelegt. Am nächsten Morgen schwebte die alte Frau wieder lange Zeit im Meer dahin. — stop
Aus der Wörtersammlung: chinesisch
rose
sierra : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unterm Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen, noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarzweißfotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halbgeschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop
shanghai
india : 6.52 — Haruki, der in einer kleinen europäischen Stadt zu Hause ist, erzählte eine Geschichte, die ich kaum glauben mochte. Schon sein Name schien seltsam zu sein. Er habe, sagte er, manchmal das Bedürfnis, mitten in der Nacht zu telefonieren. Nicht weil er fürchte, sterben zu wollen, sondern weil er glücklich sei, wenn er einfach nur los erzählen könne, wenn ihm seine Worte von einem aufmerksamen Ohr sozusagen aus dem Mund gezogen würden. Genau dieses Bild eines Ohres habe er vor Augen, sobald er sich an wunderbare Gelegenheiten erinnere, als er im Erzählen Geschichten entdeckte, die ihm ohne diese Art des Sprechens niemals eingefallen wären. Leider würde ihm inmitten der Nacht niemand mehr zuhören, Menschen, die er persönlich kenne, eilten längst nicht mehr ans Telefon, wenn er sich bei ihnen melde. Er habe deshalb andere, wildfremde Menschen angerufen, die sich bei ihm beschwerten, ob er denn noch bei Verstand sei. Das war der Grund gewesen, weswegen er vor wenigen Wochen damit begonnen habe, Rufnummern in Übersee zu kontaktieren. Es meldeten sich dort Menschen, die Haruki in englischer, französischer, chinesischer oder spanischer Sprache begrüßten. Sobald die Stimme eines Menschen hörbar wurde, begann Haruki zu erzählen. Er formulierte in einer so hohen Geschwindigkeit, dass er sich selbst kaum noch verstehen konnte. 15 Minuten, länger durfte ein Gespräch mit Shanghai nicht dauern. Manchmal vernehme er Stimmen von der anderen Seite her, helle Stimmen, zitternde, wispernde Töne, weshalb er das Telefongerät ein wenig von seinem Ohr entferne, ohne indessen zu verstummen. Nach 15 Minuten verabschiede er sich. Er sage dann: Gute Nacht! — stop
geschichte von einem chinareisenden
olimambo : 0.28 — Alles fing damit an, dass M. ein besonderes Schulheft, welches sich seine Tochter wünschte, nicht bezahlen konnte. In dieser Sekunde, da er die Enttäuschung in den Augen des Kindes wahrnehmen musste, entschloss sich der Vater zu handeln. Er rangierte sein kleines Auto aus der Garage, rollte Ersatzreifen und Fahrräder in den Garten, fegte Blätter und Papiere auf die Straße, entfernte Ölflecken und Spinnennetze, dann begann er zu sparen. Er sparte so sehr, dass er mager wurde. Manchmal besuchte er abends nach der Arbeit seine Garage und stellte sich vor, mit welch wunderbaren Waren er sie bald füllen würde. Als er lange genug gespart hatte, 12 Monate und drei Wochen, setzte er sich in ein Flugzeug und reiste nach China. Es war ein Abenteuer, er konnte weder Chinesisch und noch Englisch, er konnte nur die türkische und ein wenig die deutsche Sprache. Am Flughafen wurde er abgeholt von einem Landsmann, den er seit sehr langer Zeit kannte. Sie fuhren aus der Stadt Peking heraus nordwärts nach Yanging, dort besuchten sie eine Fabrik, die DVD-Scheiben produzierte, sie war groß wie eine kleine Stadt. Zwei Tage blieb M. noch in Peking, er besuchte den Platz des himmlischen Friedens, dann flog er zurück nach Europa. Vier weitere Monate später landete ein Container im Hamburger Hafen an. Einhunderttausend DVD-Scheiben, unbespielt, waren im Container enthalten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ende der Geschichte, einer wahren Geschichte, noch vollständig offen. stop. Zwei Uhr achtundzwanzig in Gaza City. – stop
im zug
marimba : 2.32 — Am Abend spät betrat ein junger Mann einen Zug der Schnellbahnlinie, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet. Er schleppte ein Fahrrad hinter sich her, das so schwer bepackt gewesen war, dass er sich, genau genommen, nicht auf das Fahrrad setzen konnte, es war kein Platz für seinen schmalen Körper. Auf der Spitze des Gepäckberges von Taschen und Tüten, ruhte ein Körbchen, dort schlief eine Katze. Es war still, der Zug an diesem Abend beinahe leer, ein Zug, der über Gepäckabteile oder Nischen für Fahrräder, Kinderwagen und sehr große Koffer verfügte. An keiner dieser geeigneten Stellen war der junge Mann mit seinem Fahrrad und seiner Katze jedoch eingestiegen, vielmehr in ein Abteil, in welchem sich ausschließlich Sitzplätze befanden. Nun geschah folgendes: Eine Stimme in deutscher Sprache ersuchte den jungen Mann an der nächsten Haltestelle, auszusteigen und sich in ein Abteil zu begeben, das für ihn und sein Fahrrad vorgesehen war. Da der junge Mann nicht reagierte, wiederholte die Stimme ihr Anliegen in eben der deutschen Sprache. Auch diese zweite Aufforderung blieb ohne Erfolg, weshalb kurz darauf eine Ansprache zunächst in englischer, dann in französischer, schließlich in spanischer, zuletzt in portugiesischer Sprache zu vernehmen war. Es handelte sich je um Tonkonserven, die vermutlich alle genau denselben Text enthielten, dieselbe Botschaft oder Bitte, den Hinweis darauf, dass Fahrräder nur in den dafür vorgesehenen Abteilen befördert werden dürfen. Die Stimmen waren freundlich in ihrem Klang, angenehme Stimmen, sie wickelten sich ab in einem Zeitraum von drei oder vier Minuten. Es war vergeblich, der junge Mann bewegte sich nicht. Nach einer kurzen Phase der Stille, erhob sich die Stimme des Fahrers erneut. Er formulierte nun in chinesischer Sprache, ich nehme an, dieselbe Botschaft wie zuvor, ein bemerkenswerter Vorgang, ein Beispiel von Beharrlichkeit. Als der Zug kurz darauf in einem kleinen Bahnhof stoppte, erschien ein zierlicher Mann im Abteil. Er trug eine blaue Uniformhose und ein weißes Hemd, es handelte sich um einen Mann chinesischer Herkunft. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Er näherte sich dem jungen Mann, gestikulierte heftig, deutete mal auf den Besitzer des Fahrrades, dann auf das Fahrrad selbst, hob die Hände zum Himmel, um bald wieder zu verschwinden. Dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Vor den Zugfenstern schimmerte Schnee in den Bäumen. Ein Gespräch unter Reisenden war zu hören. Die Katze in ihrem Körbchen hatte für einen Moment die Augen geöffnet. — stop
tod in peking 2
india : 0.28 — Es ist noch nicht lange her, es war im Dezember gewesen, als ich einen Text notierte, der vom Tod eines Freundes erzählte. Ich hatte damals noch keine wirkliche Erklärung, weswegen das Leben meines Freundes endete, aber eine Vermutung, eine Befürchtung. Ich notierte so: “Ich war einmal dabei wie Teddy seine Kamera in den Park spazieren führte, an einem kalten, winterlichen Tag, es hatte geschneit. In den Händen des stattlichen runden Mannes sah der Fotoapparat, der einen Computer enthielt, klein aus, zerbrechlich. Unentwegt berichtete sein stolzer Besitzer von den Möglichkeiten der Fotografie, die diese Kamera in Zukunft für ihn eröffnen würde. Es war eine Art Liebesbeziehung, die ich damals beobachtete, Teddy und seine kleine Lichtfangmaschine, wie er mit seinem dritten Auge den Schnee betastete, wie er mir erzählte, dass man Schnee eigentlich nicht fotografieren könne. Das war vor vier oder fünf Jahren gewesen. Seither sind Teddy und seine Kamera weit herum gekommen in der Welt, vor allem reisten sie nach Peking, verbrachten dort mehrere Monate im Jahr, wanderten durch die große Stadt auf der Suche nach Augenblicken, die Teddy sammelte. Es war ein Fotografieren wie ein Gespräch, auch ein Selbstgespräch gegen die Verlorenheit, gegen die Angst vielleicht einmal wieder in den Alkohol zurückzufallen, jedes Bild ein Beweis für die eigene Existenz. Eine seiner Fotografien aus dem Sommer 2012 zeigt zwei Jungen, wie sie dem riesigen, runden Mann mit dem kleinen Fotoapparat begegneten. Der eine Junge scheint zu staunen, der andere will die rechte, seitwärts ausgestreckte Hand des Fotografen berühren. Es ist eine typische Fotografie, das Werk eines Künstlers, der manchmal in Europa anrief, weil er sich einsam fühlte in irgendeinem Hotel der chinesischen Provinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hatte er Freunde, gute, wirkliche Freunde, in seiner kleinen Wohnung dort wohnten eine junge Studentin und ihre Mutter. Vor wenigen Tagen erreichte mich nun die Nachricht seines Todes, für den es zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung gibt. Auf Facebook notierte er noch: Bitte beachte, dass ich prinzipiell keine Nachrichten schreibe oder beantworte. Verwende bitte immer meine Mail-Adresse, um mich zu erreichen. Per Mail bin ich stets zu erreichen.” – Nun habe ich eben genau durch eine E‑Mail erfahren, woran Teddy gestorben ist. Eine chinesische Freundin Teddys schrieb: Hallo! Ich bin Li Bin. Erinnerst du dich an mich, die gute chinesische Freundin von Teddy. Es tut mir so Leid, dass Teddy am 22. November in Peking gestorben ist, weil er zu viel Alkohol getrunken hat. Als ich die Nachricht gehört habe, fand ich mich sehr überrascht. Eigentlich hatte ich mich mit Teddy verabredet, am 22. November nach Peking zu fahren und seine Fotoausstellung zu besuchen. Aber noch vor der Abfahrt haben andere Freunde mich angerufen, dass Teddy schon gestorben ist. Soviel ich weiß, hat er nicht für lange Zeit Alkohol getrunken, aber sehr viel. Deswegen war er schon einmal im Krankenhaus in Peking. Damals war es schon sehr schlimm, trotzdem hat er nicht aufgehört, zu trinken. Andere Freunde haben erzählt, er hatte früher die Krankheit, die Abhängigkeit vom Alkohol. Aber Teddy hat mit mir das nie besprochen. So warten wir jetzt auf das Ergebnis der Polizei. — stop
tod in peking
tango : 0.25 — Ich war einmal dabei wie Teddy seine Kamera in den Park spazieren führte, an einem kalten, winterlichen Tag, es hatte geschneit. In den Händen des stattlichen runden Mannes sah der Fotoapparat, der einen Computer enthielt, klein aus, zerbrechlich. Unentwegt berichtete sein stolzer Besitzer von den Möglichkeiten der Fotografie, die diese Kamera in Zukunft für ihn eröffnen würde. Es war eine Art Liebesbeziehung, die ich damals beobachtete, Teddy und seine kleine Lichtfangmaschine, wie er mit seinem dritten Auge den Schnee betastete, wie er mir erzählte, dass man Schnee eigentlich nicht fotografieren könne. Das war vor vier oder fünf Jahren gewesen. Seither sind Teddy und seine Kamera weit herum gekommen in der Welt, vor allem reisten sie nach Peking, verbrachten dort mehrere Monate im Jahr, wanderten durch die große Stadt auf der Suche nach Augenblicken, die Teddy sammelte. Es war ein Fotografieren wie ein Gespräch, auch ein Selbstgespräch gegen die Verlorenheit, gegen die Angst vielleicht einmal wieder in den Alkohol zurückzufallen, jedes Bild ein Beweis für die eigene Existenz. Eine seiner Fotografien aus dem Sommer 2012 zeigt zwei Jungen, wie sie dem riesigen, runden Mann mit dem kleinen Fotoapparat begegneten. Der eine Junge scheint zu staunen, der andere will die rechte, seitwärts ausgestreckte Hand des Fotografen berühren. Es ist eine typische Fotografie, das Werk eines Künstlers, der manchmal in Europa anrief, weil er sich einsam fühlte in irgendeinem Hotel der chinesischen Provinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hatte er Freunde, gute, wirkliche Freunde, in seiner kleinen Wohnung dort wohnten eine junge Studentin und ihre Mutter. Vor wenigen Tagen erreichte mich nun die Nachricht seines Todes, für den es zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung gibt. Auf Facebook notierte er noch: Bitte beachte, dass ich prinzipiell keine Nachrichten schreibe oder beantworte. Verwende bitte immer meine Mail-Adresse, um mich zu erreichen. Per Mail bin ich stets zu erreichen. – Lieber Teddy, ich werde das sofort versuchen. — stop
im reservat der trinkerlemure
himalaya : 6.46 — Ich hörte, irgendwo auf dieser Welt soll eine Stadt existieren, die über einen besonderen Park verfügt, eine Naturlandschaft, in welcher Trinkerlemure existieren, abertausende beinahe unsichtbare Personen. Man kann sich das vielleicht nicht vorstellen, ohne längere Zeit darüber nachgedacht zu haben. Wälder und Wiesen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höhlen, Hütten, Schlafsacktrauben, die von mächtigen Bäumen baumeln. Man könnte sagen, dass es sich bei diesem Park vermutlich um ein Hotel oder ein Reservat handeln wird von enormen Ausmaßen, 15 Kilometer in der Breite, 20 Kilometer in der Länge. Das Areal ist umzäunt. Tore bieten Zugang im Westen, im Norden, im Osten, im Süden. Dort fahren Ambulanzen vor oder Krankenwagenbusse, um schreckliche Gestalten auszuladen, die in den großen Städten der Welt aufgesammelt wurden, zerlumpte, eitrige, zitternde Wesen, sie sprechen oder fluchen in Sprachen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzuhören, Englisch ist darunter, Russisch, Chinesisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, und viele weitere Sprachen mehr. Sie haben meist eine weite Reise hinter sich, aber jetzt sind sie angekommen, Endstation Sehnsucht, Krankenschwestern helfen, den letzten Weg zurückzulegen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erkennen am Horizont eine Straßenbahnhaltestelle. Sie liegt am Rande eines Waldes. Tatsächlich fahren dort ausrangierte Züge der Stadt Lissabon im Kreis herum, es geht um nichts anderes, als dass man in diesen Zügen sitzen und trinken darf soviel man will. Aus polierten Hähnen strömt Whiskey. An jedem zweiten Baum ist ein Fässchen mit Likören oder Gin oder Wodka zu entdecken. Es riecht sehr fest in dieser Landschaft, gerade dann, wenn es warm ist, Bienen und Fliegen und Libellen torkeln über wundervoll blühende Wiesen. Da und dort sitzen heitere Gruppen volltrunkener Männer und Frauen in der Idylle, sie erzählen von der Heimat oder von den Delirien, die man bereits überlebt haben will. Manch einer weiss nicht mehr genau, wie sein Name gewesen sein könnte. Andere lehnen an Bäumen, klapperige Tote, die ungut riechen, arme Hunde. Aber wer noch lebt ist rasend vor Angst oder zufrieden, man kann sich überall hin zur Ruhe legen. In dem Flüsschen, das ich bereits erwähnte, lagert flaschenweise kühles Bier, es scheint sogar der Himmel nicht Wasser, sondern Wodka zu regnen, auch die Vögel alle sind betrunken. Aus einem Waldgebiet tritt eine zierliche Frau, sie taumelt. Die Frau trägt einen Hut und ein langes weißes Kleid, so schreitet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blüten, es ist in der Zeit der Kornblumen, dieses zauberhafte Blau. Manchmal fällt die Frau um, sie ist dann eine Weile nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz darauf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schaukelt ein wenig hin und her, seit Stunden frage ich mich, um wen genau es sich handeln könnte. — stop
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop