tango : 5.58 — Wieder Pseudonyme gesucht, gefunden, gesammelt. Feine Namen, Namen, die in keinem Verzeichnis der Suchmaschinenwelt enthalten sind. Es ist so, als würden Menschen, die einen dieser Namen tragen, nicht existieren, weswegen ich die Namen jener nicht existierenden Menschen auf einen Zettel notierte. Dann ging ich spazieren. Ich spazierte am See um die Ecke unter Kastanienbäumen und las die Namen laut vor mich hin, und als ich nach wenigen Minuten das Geräusch der ersten fallenden Kastanie dieses Herbstes hörte, wusste ich, wie ich fortan heißen werde. Also ging ich wieder nach Hause und legte den Namen vor mich auf den Schreibtisch. Ein guter Name, dachte ich, ein hervorragend guter Name für eine ernste Geschichte, aber auch für heitere Dinge. — stop. -
Aus der Wörtersammlung: ende
kongo
india : 5.55 — Sobald ich einen Satz seltsamer Dinge gedacht habe, freu ich mich, kann dann nicht bleiben, springe auf, wenn ich sitze, oder springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen gestanden habe. Vielleicht würde ich lächeln, wenn ich mich selbst bei der Arbeit beobachten könnte. Ich sollte einmal einen Nachtfilm drehen, wie ich nachts durch die Wohnung hüpfe. Oder in einer U‑Bahn in die Luft springe. Oder im Schlaf ein Rad schlage, weil ich sehr gerne im Schlaf seltsame Dinge vorbereite für Sätze im Wachen. – Ein ganz anderes, seltsames Ding, das ich nicht erfunden habe, ist das Folgende. Ich hörte, im Kongo sollen seit dem Jahre 1998 vier Millionen Menschen in einem Bürgerkrieg getötet worden sein. Sie wurden von der Cholera ausgetrocknet, starben an seelischen Qualen, weil sie Frauen waren, die man vergewaltigte, Macheten trennten sie von ihren Händen, Armen, Beinen, oder sie wurden ganz einfach nur erschossen, ohne dass darüber in unseren Fernsehgeräten gesprochen wurde. Angesichts dieser merkwürdigen Vorstellung habe ich überlegt, dass ich vielleicht lernen sollte, den Schatten nicht gesendeter Bilder wahrzunehmen. Ich könnte mich also hinter einen Bildschirm setzen und würde, das ist denkbar, einen genaueren Blick auf die Welt da draußen haben, als würde ich von vorne betrachten, was dargeboten wird.
geraldine : island
~ : geraldine
to : louis
subject : ISLAND
Lieber Mr. Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe gut. Schreiben Sie mir einmal auf, wie es Ihnen geht, weil ich oft an sie denke. Gestern sind wir an Island vorbeigefahren. Ich war sehr schwach und konnte nicht an Deck. Ich habe durch das Bullauge meiner Kajüte geschaut. Eine dunkle Küste, die immer wieder einmal kurz aus dem Nebel tauchte. Aber jetzt sitze ich wieder an Deck. Erst kam der Doktor, dann kam Vater und hat mich hinaufgetragen. Heute ist die Luft klar und kalt. Man kann das Ende des Meeres nicht erkennen, ich meine, man kann nicht sehen, wo es aufhört kurz vor dem Himmel. Sehr seltsam. Ich suche den Horizont und manchmal, wenn ich glaube, dass ich ihn erkannt habe, ist alles unscharf geworden. Vielleicht liegt das auch an den Schmerzen, die ich habe und dass mir oft die Kraft fehlt, meine Augen noch offen zu halten. Ich habe für Vater ein wenig die Möwen gefüttert und wir haben gelacht und ich habe wieder einmal gesehen, wie groß seine Füße doch sind. Als er mich allein gelassen hatte, habe ich das Brot für die Möwen auf den Boden vor mich hingeworfen, weil ich nicht die Kraft habe, das Brot in die Luft zu werfen. Kann kaum noch den Bleistift halten. Eis schwimmt im Wasser. — Ihre Geraldine
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 6.9.2008
20.16 MESZ
regenzeit
alpha : 3.18 – Ich könnte das Wort Regen schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Regen zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Regenzeiten. stop. Wie viele Regenzeiten machen einen Tag? — stop.
handspiel
echo : 0.08 – Wenn ich sage: meine schlafenden Hände, spreche ich von Händen, die ich nie gesehen habe.
schuhwerk
echo : 5.22 — Eimal wartete ich im Regen stehend auf eine Straßenbahn. Das war ein sehr angenehmer, warmer, nach Steinen duftender Regen, eine Art Regen, bei der ich an das Wort Monsun denke, wenn ich seine Geräusche höre. Ich stand also im Regen und dachte an das Wort Monsun, als genau um 22 Uhr und 18 Minuten die Straßenbahn, die ich erwartete, vor mir hielt. Die Türen öffneten sich und ein Herr stieg aus der Straßenbahn, der eine Zigarre rauchte. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine hellgrüne Krawatte, keine Schuhe, aber Strümpfe. Für einen kurzen Moment, ich hatte einen Fuß bereits in den Waggon der Straßenbahn gestellt, stand der Mann direkt neben mir. Ich sagte: Sie haben keine Schuhe an, mein Herr. So, erwiderte der Mann, blickte dann erstaunt an sich herab, sah mir in die Augen und fragte mit einer sehr hellen Stimme: Warum?
langustenfliege
india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen.
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde machte, dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, so dass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja ist es denn Fliegen möglich, die Augen zu schliessen?
kampftrinken zu dublin
flugglas
nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmte Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen feinsortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind ihrer Länge und Stärke nach Spinnenbeine aufgestapelt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen, man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide in die warme Ameisenhausluft. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn.