sierra : 0.02 — Kurz nach Mitternacht, das Ende eines federleichten Tages, an dem ich, gegen den Morgen zu, eine feine Geschichte erlebte. Das war nämlich so gewesen, dass meine Hand, meine rechte Hand, während ich schlief, das Bett verlassen hatte. Sie schwebte, indem ich träumte, von einem Gewitter angerufen worden zu sein, fast bewegungslos über dem Boden und wurde in dieser Haltung nach einer Erinnerung zärtlich fotografiert, weil ich vor einigen Monaten notiert hatte, dass ich, wenn ich sage: meine schlafenden Hände, von Händen spreche, die ich nie gesehen habe. Dieser Satz ist nun natürlich nicht ganz unwahr geworden, weil ich immerhin noch keine Ahnung habe, wie meine linke Hand aussehen könnte, während sie schläft. Außerdem habe ich meine schlummernde Hand nicht selbst gesehen, mit eigenen Augen, wahrhaftig, in echter Zeit, sondern verzögert und durch das Auge einer Kamera gebändigt. — stop
Aus der Wörtersammlung: erle
transistoren
himalaya : 0.02 — Wie würde Hannah Arendt über das Wagnis der Öffentlichkeit formulieren in unserer Zeit, in einer Zeit, da Menschen ohne jede Scheu und in gut begründeter Voraussicht, zutiefst verletzt zu werden, mit Worten, Bildern, Filmen öffentlich in intimste Winkel ihrer Seelen leuchten? Einmal, als Computer noch mittels Transistorröhren rechneten, bemerkt sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme, das Wagnis der Öffentlichkeit sei für eine Person nur möglich im Vertrauen auf die Menschlichkeit der Menschen selbst. — stop
abendsegler
romeo : 2.15 — Eines Tages im Zwielicht in großer Höhe über einer blühenden Gartenstadt auf einem Fensterbrett sitzen und mit einer Angel Fledermäuse fischen. — Sind Abendsegler genießbar? — Die kräftigen Muskeln ihrer Brust vielleicht? — Oder ihre Flügel? — Während ich vorhin so saß und überlegte, welche Haltung ich einnehmen sollte, um noch stiller zu werden, um noch tiefer in die Dinge hinein hören zu können, die Einsicht, dass ich niemals einen anderen Menschen tatsächlich erfinden werde, als mich selbst. — Womit könnte ich beginnen? — Vielleicht mit meinen Händen? — Die Sterne sind rund. — Zarte Finger von Licht. — stop. – Kurz nach 2 Uhr. — stop. – Ich beobachtete meine Hände, wie sie eine Melone schälten. Indem ich eine Melone mit dem Vorsatz öffnete, meine Hände zu beobachten, wurden meine Hände unsicher. Der Eindruck, als wäre diese Melone die erste Melone, die ich je geöffnet habe. — Erstaunlich. — stop
papierhaut
alpha : 18.07 — Blätterte in Janet Frames autobiografischer Erzählung Ein Engel an meiner Tafel. Blitzartig, nach Jahrzehnten des Lesens, von einer Sekunde zur anderen Sekunde bemerkt, dass Texte über sichtbare Strukturen, dass sie über Unterbrechungen ihrer Zeichenketten verfügen, dass Kapitel oder Absätze sie zerlegen, dass sie also portioniert sind, dass sie inselweise auf einer Papierhaut von Stille schwimmen. — stop
mauritius
~ : louis
to : Mr. lichtenberg
subject : MAURITIUS
Mein lieber Lichtenberg, wie unermesslich meine Freude, seit ich weiß, dass Sie lesen, was ich notiere. Noch immer bin ich wie benommen, sitze herum und überlege, ob sich nun meine Schreibwelt möglicherweise wesentlich verändern wird. Nicht leicht, für einen kleinen Schriftsteller, wie ich einer bin, zu wissen, wer von oben her zusieht, ohne sofort alle Unbefangenheit zu verlieren. Nehme an, Sie haben einen vollständigen Blick auf mich, auf meine Person, nicht nur auf Zeichen und Bilder. Ganz sicher beobachteten Sie deshalb meinen Luftsprung gestern, kurz nachdem ich das Postfach geöffnet hatte. Ihr Brief, das wunderbar kräftige und raue Papier des Couverts, ein Stempel auf einer blauen Marke. Eine Mauritius, nicht wahr? Ich habe, nein, nein, ich habe sie nicht übersehen und wenn ich mich nicht irre, ausgesorgt, mit Ihrer Hilfe bis an mein Lebensende. Jetzt frage ich mich natürlich, schreiben Sie denn noch mit der Hand dort oben? Sitzen Sie auf Stühlen oder schweben sie herum und denken sich alles nur aus und sofort aufs Papier? Wird noch Nacht und Tag oder ist immerzu das richtige Licht, so wie Sie’s gerade brauchen? Ob sie mir wohl manchmal zuhören, verzeichnen, was ich spreche, wenn ich träume? — Ihr Louis, mit herzlicher Freude!
signallichter
sierra : 0.01 — Bemerkt, dass ich Dimensionen der Lichtreisezeit von Stern zu Stern nicht verstehen kann. Ich habe einerseits eine trockene, eine logische Erklärung zur Verfügung, kann anderseits aber das vertraute Gefühl, das mir anzeigt, dass ich etwas verstanden habe oder begreifen konnte, nicht finden. stop. Im Zwischenraum. stop. Das Staunen. stop. Wenn ich in einem anatomischen Präpariersaal an einem Tisch unter jungen Persönlichkeiten stehe und sage, dass der Körper jenes Menschen, der vor uns auf dem Tisch liegt, nach und nach verschwinden wird, indem sie ihn zerlegen, zugleich aber, in diesem Prozess des Verschwindens, sich in Information, in Wissen verwandelt, freuen sich die jungen Menschen. stop. Blitzende Augen. stop. Ein lachender Mund. stop. Und noch ein lachender Mund. stop. Anatomische Signale. — stop
yanuk : fröhliche weihnachten
~ : yanuk le to : louis
subject : FRÖHLICHE WEIHNACHTEN
date : dez 23 08 6.55 a.m.
In diesen Minuten, Mr. Louis, will ich sehr leise und behutsam von einer aufregenden Beobachtung berichten. Du musst wissen, heute Morgen, als ich auf Höhe 385 schlaftrunken mein Zelt verließ, hatte ich sofort bemerkt, dass während der Nacht irgendetwas geschehen sein musste, etwas Seltsames, etwas, das meine kleinen Affenfreunde beunruhigte. Sie lagen nicht, wie üblich, vor sich hin dämmernd lose auf dem hölzernen Boden herum, sondern dicht aneinander gedrängt und bebten, als würden sie frieren. Alle sahen sie mit ihren zitronengelben Augen in ein und dieselbe Richtung, starrten zum Stamm eines benachbarten Baumes hin, ein Bündel furchtsamer oder vielleicht staunender Blicke, das den schmalen, vollkommen unbekleideten Körper eines Mädchens betastete, der nur wenige Meter von uns entfernt über der Tiefe hing. Ich hatte natürlich zunächst den Gedanken, dass das vor mir baumelnde Mädchen nur eine Erscheinung gewesen war, vielleicht ein Traum oder die Spur eines Traumes, die in einen wirklichen Tag hinüberreichte. Beunruhigt wie meine Freunde, begann ich deshalb zunächst mit einer Kurbel Strom für meine Schreibmaschine zu erzeugen. Eine kontemplative Bewegung, eine, die ich auch im Schlaf verrichten könnte. Während ich so arbeitete, hörte ich bald ein menschliches Lachen. Ja, Sie lesen ganz richtig, Mr. Louis, das Mädchen lachte, ein feines, helles Lachen war zu hören, und die Affen fauchten und wurden so flach, als wollten sie spurlos verschwinden im warmen Holz oder sonst wohin, ganz unsichtbar werden. Wie sich doch alle vertrauten Geräusche verändern, sobald unerwartete Dinge geschehen. Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie sagte, das ist unglaublich, das ist ganz unglaublich, und ich hörte auf zu kurbeln und sah dem Mädchen in die Augen, und sofort klappte sie ihre Augen zu. Ich glaube, sie schläft jetzt, während ich diese Sätze so behutsam schreibe, wie ich nur kann, um das Mädchen nicht zu wecken. Ja, stellen Sie sich vor, Mr. Louis, sie scheint tatsächlich tief und fest zu schlafen, während sie den Ast, der sie trägt, mit ihrer linken Hand umfasst. Die rechte Hand liegt flach auf ihrem Bauch, einem muskulösen Bauch von hellem Schein, opak, als würde ein Teil des Sonnenlichts sich im Körper des Mädchens verfangen und weiter leuchten, von innen heraus weiter leuchten. Wenn sie nur nicht loslassen wird in dieser Höhe! Kein Haar auf dem Körper des Mädchens zu sehen. Das ist natürlich seltsam und ich weiß noch nicht genau, warum das so ist. Ich will Dir, Mr. Louis, an dieser Stelle meine herzlichen Weihnachtsgrüße übermitteln aus meinen tropischen Räumen. Und so mache ich das jetzt, ehe ich einen ersten Versuch unternehmen werde, mit dem Mädchen ein Gespräch zu führen. Vielleicht werde ich ihr meine Blütenzeichnungen zeigen, die ich während der vergangenen Tage sammelte. Fröhliche Weihnachten! Cucurrucu – Yanuk
eingefangen 6.58 UTC 2882 Zeichen
animals : eine luftgeschichte
delta : 7.45 — Im Wesentlichen existieren drei Arten von Geschichten. Fertig anwesende, erlebte Geschichten. Rein aus der Luft gefangene, das heißt, erfundene Geschichten. Recherchierte Geschichten. stop. Animals, zum Beispiel, die Geschichte der Entdeckung lebender Papiere. stop. Eine Luftgeschichte. stop. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. stop. Was brauche ich? stop. Zwei Kühlschränke, fünf U‑Bahnwaggons, drei Kaffeehäuser, eine Handvoll Abendsegler, Stadtmenschen, ein Radiogerät. stop. Und Papiertiere stop. Sehr kleine Herzen, ebenso kleine Gehirne, Münder und Verdauungstrakte. stop. Auch Propellerflügel. stop. Feinste Ware. stop. Was brauche ich noch? stop. Räume der Zeit und einen ersten Satz. stop. Geduld. stop. Das Geräusch meines Bleistifts auf grobem Papier.
walfischspaziergang
himalaya : 8.05 — Wie ich morgens erwache und anstatt in einem Zimmer zu liegen, mich unter einem schönen freien Himmel wiederfinde. Das ist eigentlich noch keine große Sache. Ich würde zunächst die Augen schließen und denken, das kenne ich doch, wie oft schon bin ich von einem Traum in den nächsten gewandert. Ganz still würde ich warten, um kurz darauf meine Augen erneut zu öffnen, und schon wieder oder noch immer wäre dieser schöne Himmel über mir, ein leichter Wind würde wehen und die Luft duften nach Salz und Tang. Wie ich mich aufsetze und schaue, hurra, Wasser in allen Richtungen, Wasser hin bis zum Horizont. Was für ein seltener Anblick, was für eine merkwürdige Erfahrung! So plötzlich auf hoher See, und der Boden, auf dem ich sitze, zittert, nein bebt, nein pulst, und ich würde denken, wie kostbar dieses Leben doch ist und dass ich mich nicht erinnern kann, wie ich hierher auf den Rücken eines Wales gekommen bin. – Es ist jetzt zwei Stunden nach Mitternacht, die Luft riecht nach Schnee und die Welt ist still. Alles schläft. Auch Sie werden schlafen, während ich diesen Text notiere. Aber nun ist etwas Zeit vergangen, und da Sie wach geworden sind, werden Sie vielleicht fragen, wie ich zu dieser Überlegung einer nächtlichen Meereslandung gekommen bin. Nun, das ist ganz einfach. Vor wenigen Tagen hörte ich, eine Frau habe sich gewünscht, einmal in ihrem Leben auf dem Rücken eines Wales zu stehen. Sie würde sich, sagte man, ihrer Schuhe entledigen und auf dem Rücken des Wales spazieren wie auf einem Unterseeboot. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn dieser Wal, von dem hier tatsächlich die Rede ist, sich nicht in der Nähe einer Küste, sondern auf dem offenen Meer, auf hoher See, befinden würde. Ja, und was würde geschehen, wenn der Wal zu tauchen wünschte, vielleicht weil er hungrig geworden ist, obwohl er doch die Schritte einer Menschenfrau auf seinem Rücken spürte. Stellen Sie sich vor, ich weiß, wie er das macht. Der Wal wird langsam und geräuschlos sinken, jawohl. Aber noch ehe vollständig in die Tiefe abgetaucht werden wird, wird er noch einmal zurückkehren und ruhig neben der schwimmenden Frau im Wasser liegen, wird etwas Luftschaum blasen und ihr sein Auge zeigen. Ja, so genau wird der Wal das machen, und dann wird er in der Tiefe verschwunden sein, und vielleicht, nein, sehr sicher, wird die schwimmende Frau einen feinen Gesang aus der Tiefe vernehmen, die Geschichte einer Begegnung von einem Wal den Walen erzählt, eine Kurzgeschichte, mehr Zeit ist nicht. — stop
yanuk : cucurrucu!
~ : yanuk le
to : louis
subject : RAIN
date : oct 23 08 6.52 p.m.
Lieber Mr. Louis, froh bin ich, lesen zu dürfen, dass Du wieder Schlaf finden kannst. 38 Tage mit je nur ein oder zwei Stunden der Ruhe, das ist eine lange Zeit. Du musst wohl bald Gespenster gesehen haben, ja, das nehme ich an, Geister oder solche Wesen, die eigentlich nicht für Dich anwesend sind. Ich kann nachfühlen, wie schwer diese Tage für Dich gewesen sein müssen. Auch ich schlafe nicht gut zurzeit. Seit acht Tagen Regen ohne Unterbrechung. Verlasse kaum das Zelt, ständig Geräusche des Wassers. Kühl ist es geworden auf Höhe 286. Ich habe alles so weit vorbereitet, dass ich unverzüglich weiter klettern kann, sobald der Regen nachgelassen haben wird. Vor zwei Tagen hatte ich einen Versuch gewagt und mich auf den Weg gemacht. Aber der Stamm meines Baumes und alle Gewächse, die ich üblicherweise nütze, um mich festzuhalten, sind so feucht, als seien sie Unterwasserpflanzen. Wundere mich, dass ich Deine Nachricht überhaupt empfangen konnte. Vielleicht könntest Du mir etwas Literatur übermitteln. Wäre das möglich? Solange ich nichts zu lesen habe, vertreibe ich mir die Zeit mit der Rettung von Ameisen. Schwimmt eine an meinem Zelt vorbei, biete ich ein Stöckchen an oder ein Blatt und fische sie aus den Sturzbächen heraus. Sie sind alle sehr ähnlich in der Art und Weise, wie sie sich trocknen. Zunächst streifen sie sich das Wasser von den Augen, dann bebt ihr Hinterleib, eine unglaublich schnelle Bewegung. Kaum zufrieden, laufen sie im Zelt herum und kämpfen gegen weitere zufriedene Artgenossen. Ja, jeder kämpft hier gegen jeden, als hätten sie alle unter der Erfahrung des Wassers ihr Gedächtnis verloren. – Cucurrucu! Yanuk
eingefangen
20.58 UTC
1680 Zeichen