nordpol : 6.38 — Ein faszinierendes Wort geistert seit Monaten in meinem Kopf. Ich kenne das Wort schon lange Zeit, hatte ihm aber zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ich das Wort in dem Zusammenhang einer unheimlichen Szene hörte aus dem Mund eines Reporters, der von der libyschen Stadt Misrata berichtete. Das war im Oktober des vergangenen Jahres gewesen. Im Kühlraum eines Supermarktes lagerte der Leichnam Muamar Gaddafis auf einer Matratze, das Haar des Diktators war zerzaust, seine Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, dünne Fäden von Blut sickerten aus zwei Wunden. Menschen standen in nächster Nähe, ihre Fußspitzen berührten das Lager des Toten. Sie standen dort auf neugierigen Füßen, um den Leichnam zu betrachten, manche fotografierten mit Handyapparaten, andere, auch Kinder waren unter ihnen, warteten in einer Schlange vor dem Gebäude darauf, eintreten zu dürfen. Ich dachte noch an den scharfen Geruch des Todes, der dort unsichtbar auf die wartenden Menschen einwirken musste, als der kommentierende Reporter bemerkte, die Bevölkerung der geschundenen Stadt würden sich aus allen Himmelsrichtungen nähern, um den Leichnam Gaddafis und den seines Sohnes zu b e ä u g e n. In diesem Augenblick war das Wort, von dem ich hier berichtete, eingetroffen, ein zartes Wort wandernder Augen. Wie sich unverzüglich in der Gegenwart dieses Wortes der Schrecken der Situation, in etwas Menschliches, beinahe Kindliches verwandelte, in ein Verhalten, das ich verstehen konnte, eine Berührung, eine Vergewisserung, dass wahr ist, wovon man hörte. Ein sanftes Wort in der Umgebung eines Krieges, ein neuronaler Hebel. — stop
Aus der Wörtersammlung: faden
atmen
PRÄPARIERSAAL : cerebum
nordpol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn entnahmen, haben wir uns zunächst keine Gedanken darüber gemacht, was für ein faszinierendes Teil des menschlichen Körpers wir gerade in der Hand hielten. Wir hatten das nämlich so verstanden, dass die Studierenden das Gehirn selbst entnehmen dürfen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir festgestellt, dass die Assistenten, nicht die Studierenden, das an den anderen Tischen machten. Wir hatten bei der Entnahme einen Fehler gemacht und das Gehirn an der falschen Stelle durchtrennt. Wir waren sofort damit beschäftigt, zu überlegen, was wir jetzt machen sollen, um keinen Ärger zu bekommen. Wir haben deshalb in dieser Situation nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine nette Assistentin und hat das Gehirn vollständig entnommen, ohne uns weiter Vorwürfe zu machen. Sie fand unsere Art der Entnahme fast noch besser als die vorgegebene Methode, da man viele Strukturen sehen konnte, die wir anders nicht gesehen hätten. Wir waren auf jeden Fall ziemlich froh, dass wir keinen Ärger bekommen haben. Ich habe erst etwas später ein besonderes Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Händen hatte. Vielleicht lag das auch daran, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn auskannten. Ein paar Dinge über das Gehirn wusste ich zwar schon aus der Schule, aber wie genau es aufgebaut ist, aus wie vielen Strukturen das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Anatomie gelernt. So wurde das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer interessanteren und faszinierenderen Körperteil für mich. An dem Tag, als wir die Sulci mit bunten Fäden auslegen sollten, hatte ich das Gehirn dann länger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich besonders intensiv erinnern kann, da ich ein besonderes Gefühl hatte, als ich das Gehirn in der Hand gehalten habe. Ich war ein wenig glücklich und stolz auch, denn wer hat schon die Möglichkeit ein Gehirn in der Hand zu halten. Für mich war kaum vorstellbar, dass diese Struktur in meiner Hand einmal so viele und wichtige Aufgaben erfüllt hatte.
nachtsegeln
echo : 10.15 – Das Nachtsegeln auf dem Bauch, rücklings bald, in Seitenlagen, immer wieder von einem Arm geweckt, der sich in der Abwesenheit des Schlafenden in einen Schiffsmast verwandelt, in eine Schmerztrompete andererseits, die einen Faden von Wachheit in den Reisenden spielt. Wie ich bald müde am Frühstückstisch sitze. Eine Tasse Kaffee, eine Brezel, ein Glas Milch, und mein Arm, ausgepackt, das verletzte Wesen, mit dem ich eine Unterhaltung führe: Wir müssen geduldig sein, du und ich, wir werden das schon schaukeln! Da ist ein Knistern, sobald ich meinen Arm sacht bewege, ein unbekanntes Gefühl. Widerstände in jede Richtung. Irgendetwas scheint sich in meinem Arm niedergelassen zu haben, das ihn auf Position 90° festhalten möchte. Erstaunlich. stop. Zehn Uhr elf in Hama, Syrien. — stop
fadenanker
echo : 10.22 — Das Wort F a d e n a n k e r. Ehe sich das Wort in meinem Ellenbogengelenk selbst verkörperte, nie gehört. Denkbar ist, dass ich zu einer feinfühligen Knochenwetterstation geworden bin. – stop
zeichenbeere
ulysses : 11.02 — Mit meinem Notizbuch ist das seit bald drei Wochen so eine Sache. Ich kann das Papierwerk betrachten, ich kann es in die Hand nehmen, in die linke wie in die rechte Hand, ich kann es also in die Hände nehmen, öffnen, darin blättern und lesen, was ich seit dem Sommer vermerkte. Sobald ich allerdings versuche, einen Schreibstift mit der rechten Hand zu ergreifen, ein Faden von Schmerz, der sich von meiner Handinnenfläche gegen die Schulter spannt. Ich notierte, noch im Hospital, das Wort Versuch, eine Form so groß wie eine Pflaume. Heute Morgen erneut das gleiche Wort, meine Zeichenpflaume ist deutlich kleiner geworden. Es besteht begründete Hoffnung, dass ich in einer Woche bereits vielleicht Wörter in der Größe von Beeren erzeugen werde. Seit Aufgang der Sonne vermag ich meine Nasenspitze wieder mit meinem rechten Daumen zu berühren. Ist das eine Nachricht? — stop
jelena bonner
sierra : 22.58 — Das erste elektrische Buch, das ich für ein Kindle-Lesegerät zum Preis von 99 Cent erwerben konnte, wurde vor einer Viertelstunde in weniger als zehn Sekunden von einem unbekannten Ort her mittels eines Wellenfadens auf meinen Computer übertragen. Franz Kafkas gesammelte Werke, Romane, Briefe, Erzählungen, Aphorismen, 19374 Seitenpositionen, eine merkwürdige Erfahrung. Das Buch ist einerseits anwesend, andererseits ohne Gewicht, es ist nicht sichtbar, oder nur je eine Seite, ein Blatt. — Jelena Bonner ist im Alter von 88 Jahren in Boston gestorben. — stop
take the “A” train — protokollfaden
tango : 0.18 — Vor wenigen Minuten ist etwas Erstaunliches passiert. Ich habe das feine Jazzstück Take the “A” Train in der Interpretation Dave Brubecks und seines Orchesters gehört, und zwar in einem Zimmer hier in Mitteleuropa bei bester Tonqualität. Das sehr Besondere an diesem Ereignis ist gewesen, dass die Musik Dave Brubecks zunächst in einem Städtchen nahe der Stadt New York aufgelegt worden war, nämlich in den Studios eines Jazzsenders von meiner Zeit nur um Sekundenbruchteile entfernt, sodass ich gern behaupten würde, dass zu derselben Zeit, da ich siebentausend Kilometer weit entfernt westwärts die ersten Geräusche des Orchesters vernehmen konnte, Dave Brubeck im Studio von einer digitalen Tonkonserve her zu spielen begann. Unverzüglich sauste das Stück in kleine Pakete zerlegt und auf einen Protokollfaden gereiht im Datentunnel unter dem Atlantik hindurch zu mir hin, jedes einzelne Paket nur für meine Computermaschine und mich bestimmt, wo es rasend schnell zusammengesetzt und somit hörbar wurde. Das Wunder der Musik. Das Wunder ihrer Reise. Das Wunder meiner Ohren, dass sie existieren. — Kurz nach Mitternacht. Stürmischer Wind pfeift ums Haus. — stop
safran
echo : 2.26 — Das unentwegte Sprechen menschlicher Stimmen, nicht Werkzeug der Verständigung, sondern Radar zur Fortbewegung in unbekanntem Gebiet. So auch die Spur digitalen Schreibens in vernetzten Räumen. Ich, Subseven88, habe mich dargelegt, also bin ich. — Vor wenigen Stunden meldete eine Servermaschine, die zu mir gehört, als wär sie ein Teil meiner selbst: Modul Data Logger nicht bereit. Ursache unbekannt. Telefonierte mit Menschen mit Herzen, die viele Flugstunden entfernt ihre Arbeit verrichten. Dort ist nun früher Abend, hier bei mir hohe Nacht. Leichter Regen. Auf dem Bildschirm bewegen sich Zeichen in der Geschwindigkeit menschlicher Hände. Man beschäftigt sich mit der Lösung meines Problems. Blinkende Geister, flink vor und zurück, vor und zurück, tastende Erscheinungen, zart wie die weisen Hände der Safranfädenzupfer. — stop
marit
nordpol : 0.02 — Vergangene Nacht war ich wach geworden um fünf. Ich hatte einen merkwürdigen Traum, in dem Mr. Eliot erklärte, dass er Briefe, die ich an ihn schreibe, nicht lesen könne, weil er schon vor langer Zeit blind geworden sei. Ich war dann also wach um fünf und fühlte mich leicht, und ich wunderte mich, woher diese Leichtigkeit gekommen sein mochte. Da erinnerte ich mich, dass ich noch immer nachdrücklich auf eine Antwort James Salters warte, ich hatte ihm vor zwei Jahren zuletzt geschrieben. Auch Mr. Salter könnte blind geworden sein, kein Wunder, dass er nicht schreibt. Unverzüglich suchte ich in den Archiven nach dem Brief, den ich notiert hatte. Er war rasch gefunden, eine feine Geschichte, die ich berühre, die ich hier wiederhole, indem ich sie mit Stimme lese, in der Hoffnung, dass Mr. Salter mich hören kann: Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen. Ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht. Für einen weiteren kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, – ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und so wunderte ich mich, dass ich viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch, ich las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen, für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment, als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mittels ihrer winzigen Beine, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist, mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen Louis.