alpha : 22.10 — Andrej erzählte, er habe beobachtet, wie er, sobald er in Gedanken versunken arbeite, die Welt der Zeichen auf Papieren mit der Welt der digitalen Zeichen auf Bildschirmen in unmittelbare Verbindung setze. Sobald er lange Zeit auf einem Bildschirm mit den Werkzeugen der Bildschirme an einem Text gearbeitet habe, würde er, wenn er sich Zeichen auf Papieren zuwende, den Versuch unternehmen, auch dort Wörter, zum Beispiel mittels dehnender oder ziehender Bewegung zweier Finger zu vergrößern, oder aber Wörter durch Berührung zu unterstreichen oder aber auszuschneiden, was zunächst ungeduldige, sogar heftige Wiederholung seiner Gesten zur Folge habe, bis er endlich begreife, dass er sich an gestempelten Wörtern versuche. — stop
Aus der Wörtersammlung: gedanken
nach dem zug
echo : 22.02 UTC — Menschen, die glückliche Menschen sind, gehen im Grunde zunächst davon aus, dass sie von anderen Menschen verstanden, präzise, dass sie nicht missverstanden werden, ich meine in dem Sinne, dass Verständigung möglich ist, entweder sofort, auf der Stelle noch, oder mittels einer Nachfrage konstruktive Verständigung letztlich gelingt, sagen wir Zivilisation, die nun auch in Mitteleuropa bedroht wird von Personen, die auf ihr Land stolz sein wollen in einer Weise, die Menschen fremder Sprachen herabsetzt. — Am Marienplatz verließ ich den Zug. Ich stand unter Wartenden, wartete selbst, beobachtete den Bahnsteig, auf dem wartende Menschen sich drängten. Sie standen sehr nahe an der Bahnsteigkante. Als der Zug einfuhr, dachte ich, wäre ich ein Lokführer, würde ich in dieser Situation meine Augen schließen. — stop
wörter
foxtrott : 0.05 UTC — Alle Wörter, sobald ich sie in Gedanken anhalte, um sie Zeichen für Zeichen zu wiederholen, werden zu einem Geräusch: S e h b a h n – stop
die geschwindigkeit der wörter
tango : 22.30 UTC — Wie flink vermag ich mit einem Finger auf einem Bildschirm zu schreiben, wie schnell mit einem Sensorstift? Am schnellsten schreibe ich, wenn ich mittels Wörtern denke? Ich schreibe dann, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, schreibe eine denkende Spur, die erinnert oder sofort vergessen werden könnte, wie jener Mann, der in einer Erzählung Patricia Highsmith’s einen Roman nach dem anderen Roman im Kopf notiert. Das Schreiben per Hand auf Papier oder mittels einer Tastatur auf einem Bildschirm bewirkt vermutlich ohne Ausnahme eine Verlangsamung des Denkens, eine Präzisierung. Das sprechende, erzählende Denken scheint der Luft, den Vögeln verbunden, das schreibende Denken dem Wasser, den Fischen. Ich stelle mir vor, Menschen, die mich einmal schweigsam wahrgenommen haben, eine in sich gekehrte Person, werden diese Gedanken in einer vollkommen anderen Weise wahrnehmen, als jene Menschen, die einen sprudelnd erzählenden, Wörter sprühenden Mann erlebten. — stop
late late blues
echo : 18.30 UTC — Samstag. Kaum auf den Beinen beschließe ich, ein Experiment zu wagen, an dem ich mich vor Jahren schon einmal versuchte. Ich wünschte, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung eines letzten Gedankens in einer Zeit weit nach dem letzten Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken sofort ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar sein. — Noch zu tun: Nachdenken über den Sandmann. — stop
von gedankenlichtern
bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von glimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
luftcode
bamako : 23.55 UTC — Einmal, es war zu ihrem 88. Geburtstag gewesen, habe ich N. gefragt, ob ich erzählen dürfe, dass sie ein elektronisches Notizbuch führe, in welchem sie jeden Tag einige Sätze notiert, die nur für sie selbst bestimmt seien, Gedanken, die kein anderer Mensch als sie selbst jemals lesen wird, Wörter demzufolge, mit welchen sie kein Geld verdiene, geheime Geschichten, aufgeschrieben in der Art und Weise einer im Gebirge spazierenden Sängerin, die vor sich hin summt, die sich selbst zuhört oder auch nicht, bedingungslos in diesen Momenten sich nahe, Code ohne Absicht mit Sorgfalt verschlüsselt. — Es ist Samstag. Beobachtete vor dem nächtlichen Himmel die erste Fledermaus des Jahres. — stop
vom denken
echo : 5.58 UTC — Der Mathematiker John von Neumann soll in der Lage gewesen sein, 100-mal schneller zu denken als „gewöhnliche“ Menschen denken. In dem Moment, da ich diese Information wahrgenommen hatte, versuchte ich mir vorzustellen, wie sich meine innere Stimme, die Stimme bewussten Denkens, verhalten würde, sobald ich in meinem Kopf plötzlich in 100-facher Geschwindigkeit zu mir oder mit mir selbst sprechen würde. Könnte ich dieses Geräusch überhaupt noch als Sprache identifizieren? Wäre von einem Hochgeschwindigkeitsort aus die Denkstimme eines „gewöhnlichen“ Menschen im virtuellen Schallohr überhaupt noch wahrzunehmen? Diffizile Fragen an diesem frühen Morgen. Wie könnte ich meine Gedanken noch notieren, da sich meine Hände sehr plötzlich 100-mal schneller bewegen müssten als zuvor, um meine Gedanken auf Papier oder das Licht des Bildschirms zu übertragen. Vielleicht würde ich nur noch Ergebnisse meines Denkens notieren oder in mathematischen Formen fantasieren. In jedem Falle wäre das Notieren mit Händen auf einer Tastatur, ein Vorgang der Entschleunigung. Edward Teller, der die Wasserstoffbombe erfunden haben soll, kannte John von Neumann persönlich, weil sie gemeinsam arbeiteten. John von Neumann berechnete die Höhe über dem Erdboden, da eine Atombombe in dem Augenblick der Explosion ihre größte Zerstörungskraft entfalten würde. Mein Vater wiederum kannte Edward Teller persönlich. Er war ein junger Mann, als er Edward Teller begegnete. Edward Teller sei ihm sehr unheimlich gewesen, erzählte mein Vater. — stop
zur menschenfaltung
marimba : 15.01 UTC — Sie haben, sagte ein Beamter von hohem Rang, vor einiger Zeit von einem faltbaren Medusenzimmer erzählt. Ich würde nun gerne wissen, sind sie in der Verwirklichung ihrer Vorstellung einen oder gar mehrfache Schritte vorangekommen? Ich frage deshalb vorsichtig an, fuhr der Beamte fort, weil ich mit dem Gedanken spiele, prüfen zu lassen, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, faltbare Menschen zu entwickeln, Menschen, die nach einer Prozedur rasend schneller Trocknung, gepresst und gefaltet, auf dem Postwege verschickt werden und an ihrem Zielort mittels Feuchtigkeit wieder entfaltet werden könnten. Auch eine Menschenlagerung über längere Zeiträume wäre in dieser Art und Weise denkbar. Kurz bevor ich antworten konnte, wachte ich auf . Seit einigen Stunden denke ich nun darüber nach, ob ich träumend tatsächlich wünschte, etwas zur Anfrage zu äußern. Möglicherweise erwachte ich, um eine Antwort zu verhindern. — stop
spulen
foxtrott : 1.15 UTC — Einmal beobachte ich ein Kästchen voller Daten, wie es in Zeitlupe zu Boden fällt. Kurz darauf tickt die Tastmaschine, die im Kästchen steckt, deutlich vernehmbar, als wäre sie eine Uhr. Ich ahne, dass sie blind geworden ist, etwas scheint zerbrochen zu sein. Kurz darauf kaufe ich mir ein weiteres Kästchen. Tagelang denke ich darüber nach, wie ich meine Daten festhalten könnte. Ich bemerke, dass Sicherheit nicht wirklich existiert. Ein anderes Mal stehe ich in der Küche. Ich habe eine Schachtel auf den Tisch gestellt. Ich öffne das Gefäß, entnehme Tonbandspulen, errichte Türme, suche Batterien, die das Abspielgerät bewegen. Es ist dasselbe Gerät, mit dem ich vor zwei Jahren zuletzt arbeitete. Ich setze das Gerät in Bewegung, zunächst Rauschen, dann helle Stimmen, Stimmen wie von Lachgas, immerhin Stimmen, Geräusche, Gedanken, Fragen. Es ist eine große Freude, diese Stimmgeräusche zu vernehmen. Wenn ich winzige Hebel auf der Rückseite des Gerätes bewege, werden die Stimmen noch heller oder sehr dunkel. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme. Ich erzählte vom Gedächtnis. — stop