himalaya : 0.58 — Wann das mit den Affen genau angefangen haben könnte, dass sie mich begleiten, sobald ich die Tür zur Wildnis öffne und jagen gehe ins Warenhaus um die Ecke, vermag ich nicht zu sagen. Ein Anfang jedenfalls könnte sein, zu wissen, welchen Ursprungs sie sind. Ich sage Ihnen das Folgende im Vertrauen leise, sie hüpfen aus der Reproduktion einer Malerei heraus, die ich vor zwei Jahren im Sommer auf Höhe meiner Augen an den Rahmen der Wohnungstüre nagelte, kawumm. Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, das kleine Bild zu betrachten, in dem ich die Schleuse zur Außenwelt passiere. Ich schlendere dann eine Straße unter schneienden Akazien entlang und beobachte Wesen, wie sie in den Kronen der Bäume toben. Wenn ich mich selbst vergessen habe und warum ich eigentlich auf die Straße getreten bin, sind sie gut gelungen. Jetzt nur noch Affenmensch sein, atmen und in die Blätter schauen. - Donnerstag. Das Erfinden ist ganz sicher ein Vorgang geschmeidiger Achtsamkeit. — stop
Aus der Wörtersammlung: lunge
j.d.salinger : 160 west 71st street
tango : 2.15 — Kurz nach Mitternacht beginnt es zu schneien. Sitze mit Schreibmaschine vor dem Fenster und übe das Fangen einzelner Flocken mit den Augen. Ich mache das genau so, wie ich’s als Kind schon machte, aber die Lichtpelze dieser Stunden fallen aus der Dunkelheit, während sie sich damals aus hellen Wolkenräumen lösten, deren Tiefe nie zu ermessen gewesen war. — Eine seltsame Nacht ist das heute. Ich habe eigentlich viel zu tun, und doch sitze ich hier am Fenster und schaue himmelwärts und denke an Salinger, an den großen geheimnisvollen Schriftsteller, der gestern gestorben sein soll. Ich hatte vor wenigen Wochen noch einen Ballon in meine Spazierkarte der Stadt New York eingetragen, um ein Gebäude in der 71. Straße West zu markieren, das Hotel Alamac genauer, Handlungsort der Geschichten um Franny und Zooey. Ich dachte mir, hier wirst Du einmal in den kommenden Jahren für Tage lungern und notieren und warten, auf J.D. Salinger warten, darauf warten, dass Dir der alte Mann erscheinen möge. Und so wird das nun also anders werden. Aber wirklich merkwürdig ist folgende Einsicht, die ich gewonnen habe in den vergangenen Stunden. Menschen, die so bescheiden lebten, dass man sie für nicht wirkliche Wesen ansehen konnte, werden wahrhaftig, werden lebendig, sobald man ihr Lebensende meldet. – Und jetzt wieder der Himmel und sein Licht. Zwanzig Uhr zwölf in Port-au-Prince, Haiti. — stop
zarte lügen
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ZARTE LÜGEN
Mein lieber Jonathan, gestern, stellen Sie sich vor, habe ich von Ihrem Mut erzählt, von Ihrer Begeisterung, unsere Welt, die Welt der Luftmenschen zu erkunden, eine Welt, die Sie so viele Jahre in einer Wasserwohnung lebend, nicht berühren konnten. Man fragte mich, wo genau Sie sich gerade aufhalten mögen und da musste ich zugeben, dass ich das nicht wüsste. Auch wollte man hören, wie Ihre frischen, jungen Lungen sich verhalten, wo genau an Ihrem Körper sie angebracht worden sind und wie sie funktionieren. Natürlich habe ich keine Auskunft erteilt, will Sie zunächst ersuchen, mir zu sagen, ob ich berichten darf, weil ihr Atemvermögen doch eine besondere und deshalb auch private Angelegenheit sein könnte. Vielleicht sind Sie so freundlich, bei Gelegenheit sich mir in dieser Sache zu erklären. Ihren Eltern im Übrigen geht es gut. Natürlich machen sie sich ernste Gedanken, weil Sie, mein lieber Kekkola, nichts von sich hören lassen. Ihre Mutter blass wie Kreide, und Ihr Vater, ihr Vater um viele Jahre älter geworden. Bald werde ich meinem Wunsch nachgeben und Briefe erfinden, zarte Lügen, beruhigende Nachrichten aus den Wäldern, man will stolz sein, man will wissen, was sie so tun auf Ihrem Weg dem Süden zu und ob sie noch unter den Lebenden weilen. Bleibt mir zu sagen, dass ihre Eltern wieder Nahrung zu sich nehmen. Ich vermute, sie glauben mir in diesen Tagen endlich, dass ihre Wohnung nach Jahrzehnten undicht geworden sein könnte. Wir machen Fortschritte. – Ihr Louis, ersten Schnee erwartend.
gesendet am
02.12.2009
22.32 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
die privatheit der engel
echo : 0.28 – Wovon ich nicht berichtet habe, am Mittwoch bereits ist mir ein Fieberengel zugeflogen. Jetzt kommen sie schon im Oktober angereist, wollen getröstet, wollen unterhalten werden. Der Engel, von dem ich gerade spreche, lungert seit zwei Tagen in meiner nächsten Nähe auf Kissen herum. Ein Anblick, der mich nicht einschlafen lässt, das Beben seines Gefieders, Herbstlaubfarben, die über einen blassen Körper stürmen. Durch hohe Temperaturen, die in seinem Inneren brennen, ist der kleine Engel so matt geworden, dass ich ihn in eine Hand legen, dass ich ihn wiegen konnte. Eine leichte Person, 80 g, sitzt in diesen Minuten, da ich meinen Text notiere auf meiner Schulter links nicht ohne Grund. Ich hatte meine Particlesarbeit betont und dass ich dort von seiner Gegenwart erzählen würde. Man ahnt nichts von der Wildheit ihres Wesens. Meinen Namen solltest Du nicht erwähnen! Ich warne Dich, flüsterte der Engel. Er saß im Moment seiner Drohung auf dem Stiel eines Löffels in meiner Küche, steckte die Spitze einer Feder in warmen Honig und dozierte von Geheimnissen, die Engel und Menschen umgeben. Du und ich! So sitzt er also und beobachtet, was ich gerade notiere. Ich weiß, ich könnte, ein Wort zu viel, sofort in Flammen aufgehen, also hör ich besser auf. — Eine halbe Stunde nach Mitternacht, der letzte Tag des Oktobers ist angebrochen. – Gute Nacht!
weitrufend
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : RADAR
Mein lieber Jonathan. Noch immer kein Zeichen. Aber ich weiß, ich spüre, dass Sie am Leben sind. Deshalb schreibe ich weiter, übermittle meine Nachrichten an Sie in der Hoffnung, dass irgendwann einmal eine Antwort eintreffen wird. – Vor zwei Tagen von einer kleinen Reise zurückgekommen, bin ich noch etwas müde, aber froh und voller Zuversicht. Ich habe in einem Saal vor Menschen aus einem Text vorgelesen, den Sie bereits kennen. Ich konnte meine Zuhörer nicht sehen, weil mein Gesicht beleuchtet war. Und weil ich sie so wenig hören wie ich sie sehen konnte, dachte ich für einen Moment, dass sie vielleicht aufgehört haben zu atmen oder ganz verschwunden sind, ohne dass ich ihre Flucht bemerkte. Ich beobachtete meine Stimme, während ich las. Sie war zunächst eine fremde, öffentliche Stimme gewesen, entfernt, aber dann, Wort für Wort, kam sie zu mir zurück. Ja, wie ich langsamer wurde, weil mein Herz sich langsamer, ruhiger bewegte. Wie jene Wörter, in einer weiteren Zeile als der gerade beschallten Zeile, bereits hörbar waren in meinem Kopf. Ihre besänftigende Gegenwart, mein lieber Jonathan! Und nun bin ich also zurück und denke nach und schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass Sie lesen werden, was ich für sie notiere. Ich habe von Ihnen erzählt, wissen Sie! Ich habe erzählt, dass ich mich um Sie sorge. Und ich war stolz, von dem ersten Menschen berichten zu können, der sich mit künstlichen Lungen versehen, in die nordamerikanische Wildnis wagte. Ja, mein lieber Kekkola, ich weiß, dass Sie noch am Leben sind. — Ihr Louis
gesendet am
28.10.2009
23.58 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
zeichen 88
nordpol : 6.25 – Heftiges Schneetreiben [ 30 Minuten ] : 567 Zeichen. stop Versuch über die Stille [ 3 Variationen ] : 2587 Zeichen. stop Eichhörnchen [ 2 Wesen, liebkosend ] : 88 Zeichen. stop 1 gelungene Nacht. stop Guten Morgen! stop
calle de hernán cortéz No 7
nordpol : 0.02 – Ich habe einen Brief geschrieben. Der Brief geht so: Liebe Mrs. Kekkola, lieber Mr. Kekkola, Ihrem Sohn geht es gut! Seine künstlichen Lungen arbeiten, als hätte er nie zuvor ohne sie gelebt. Jonathan wandert derzeit unter wilden Bären in nordamerikanischen Wäldern. Leider habe ich Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Wohnung [Calle de Hernán Cortéz No 7, 8. Etage], die Sie, wie wir unseren Unterlagen entnehmen, seit 75 Jahren nicht verlassen haben, undicht geworden ist. Ihr l.k. mit besten Grüßen – Kurz, nachdem ich den Brief zu Ende notiert hatte, der Eindruck, dass ich mir selbst ein wenig unheimlich werde, warum? — stop
lichtforscher
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : TRAUMLICHT
Lieber Mr. Kekkola, ahoi! Was machen Sie denn so? Seit Tagen keine Nachricht aus der Wildnis. Sind Sie noch am Leben oder wurden Sie bereits heimlich von Bären gefressen? Vermutlich haben Ihnen lüsterne Fliegen derart zugesetzt, dass Sie kaum noch aus den Augen sehen können. Hörte, kühlende Moose, sollen helfen, dass Sie wieder in die Welt hinaus schauen und mir schreiben werden. Nach einer kleinen Reise südwärts wird nun wieder über Tiefseeelefanten nachgedacht. Das ist schon seltsam, wenn ich Stunden an ein und dieselbe Sache denke, dann wird sie so vertraut, dass ich sie mit mir ins Bett nehmen kann, ich meine, ich träume, ich träume, mein lieber Kekkola, mit Elefanten über atlantischen Tiefseeboden zu spazieren. Erinnere mich gerade an einen Forscher des Lichts. Wenn Du einem Problem, einer Idee, einer Spur wirklich nahe kommen willst, sagte mein Vater, dann musst Du so intensiv daran arbeiten, dass Du nachts im Schlaf nicht davon ablassen kannst. Das hab ich nun also gemacht. Ich betrachtete fünftausend Meter lange Rüssel und Paternosteraufzüge, die es bei Ihnen in Amerika nicht gibt, aber bei uns in Europa, endlos dahinfahrende Koffer ohne Deckel, in die man einsteigen kann, einsteigen wie jene Luft, die Tiefseeelefanten in kleinen Paketen atmen, Meereswinde in Beuteln von Haut. Die fahren dann perlend abwärts, ein Beutel nach dem anderen Beutel, zur Lunge hin, die riesig ist und rosa und kühl, wie das Moos, von dem ich Ihnen erzählte. Mein lieber Kekkola, was halten Sie davon? Schreiben Sie mir, sobald Sie wieder schreiben können, ja, schreiben Sie mir! Ich komm Sie sonst holen! Ihr Louis.
gesendet am
20.08.2009
5.32 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
zahlenflüstern
sierra : 5.05 — Unterm Schirm im Palmengarten einem Gewitter zugehört. Nichts getan, als zu lauschen und zu beobachten, dass mein Gehirn nicht schnell genug ist, um die Tropfen eines kräftigen Regens, ihr Geräusch, nachzuzählen. Wie ich so ergeben vor Schildkröten und Karpfen auf einer Bank lungerte, ist mir aufgefallen, dass ich nicht ganz sicher sagen kann, ob es nicht vielleicht doch die Wörter sind, die mich zur Zählschnecke machen, jene Zahlen nämlich, die ich insgeheim verwende, um in der Summe voranzukommen. Ich bin dann, während ich das Flammen meiner Zahlwörter beobachtete, eingeschlafen. Ein weiterer Regen weckte mich bald auf und wieder versuchte ich zu zählen. Dieses Mal zählte ich flüsternd und ich zählte lange. Jetzt weiß ich, dass ich flüsternd schneller zählen kann, als schweigend nur in Gedanken Zahlen notierend. Was ist das überhaupt für eine Stimme in meinem Kopf? Fangen wir noch einmal von vorn: Auch am vergangenen Abend, wie man mir erzählte, wurde kurz nach zehn Uhr in Teheran unter glanzvollen Sternen von den Dächern nach Freiheit gesungen. — stop
zeichentiere
ulysses : 5.15 — Das suchende Lernen chinesischer Schrift. Wie ich gestern in Gewitterstunden lächelnd beobachtet wurde, weil ich sagte: Die Zeichen Deiner Sprache erinnern mich an Darstellungen der anatomischen Welt, an Skelette, an Wesen, die ich leichter Hand erfinde, um das eine Zeichen, von dem anderen Zeichen unterscheiden zu können. Habe in dieser Weise eine Säbelzahntigerschnecke in meinen Kopf aufgenommen, einen achtarmigen Klammeraffen, eine Doppelkopfameise. Das Formulieren bald ganzer Sätze, jubelnde Zoologie. Guten Morgen! — stop