Aus der Wörtersammlung: mund

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ein auge auf dem tisch

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echo : 22.02 — Ich stel­le mir vor, wie das wäre, wenn ich über ein beson­de­res Auge ver­füg­te, ein Auge näm­lich, das ich mei­nem Kopf ent­neh­men und vor mich hin auf den Tisch able­gen könn­te, ein leben­des Auge, ein Auge, mit­tels dem ich einer­seits von mei­nem Kopf aus fröh­lich in die Welt hin­aus­schau­en wür­de, ande­rer­seits ihm Frei­heit des Rau­mes gewäh­ren, ohne dass es sofort Scha­den neh­men soll­te, ein Augen­we­sen dem­zu­fol­ge, ein Augen­tier, mit einem selbst­stän­di­gen Gehirn, mit einem Magen, Blut­ge­fä­ßen, Ohren (ich bin mir nicht sicher), einem Mund und einem Ver­dau­ungs­ap­pa­rat, alles klein und feinst gewirkt, eine Per­sön­lich­keit von 7.5 Gramm Gewicht, die mich gern von einem Tisch her betrach­ten wür­de, die­sen Mann mit feh­len­dem Auge, was nicht wirk­lich der Fall ist, weil das Auge, das fehlt, eigent­lich anwe­send ist, aber nicht dort, wo man es erwar­tet unweit der Nase, son­dern längst auf dem Tisch. Stellt sich nun die Fra­ge, was solch ein Auge zu sich neh­men woll­te, wie man es füt­tert, was und wie viel an einem der Lebens­ta­ge eines unab­hän­gi­gen Augen­ge­schöp­fes getrun­ken wer­den soll­te, und was in etwa gesche­hen wür­de, wenn sich das Auge in ein wei­te­res Auge ver­narrt? — stop

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blaues heft no 10 — anatomische geschichte

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tan­go : 2.57 – Eine ana­to­mi­sche Geschich­te ent­deckt. Sie wur­de von Daniil Charms geschrie­ben, und zwar in ein blau ein­ge­schla­ge­nes Heft. Natür­lich kann ich nicht sagen, ob es statt­haft ist, die­se Geschich­te an Ort und Stel­le in vol­ler Län­ge wie­der­zu­ge­ben. Ich wer­de es zunächst tun, und wenn sich jemand dar­an stö­ren soll­te, soll er sich umge­hend bei mir mel­den. Die Geschich­te geht so: Es war ein­mal ein rot­haa­ri­ger Mann, der hat­te kei­ne Augen und kei­ne Ohren. Haa­re hat­te er auch kei­ne, sodass man ihn nur bedingt einen Rot­schopf nen­nen konn­te. Spre­chen konn­te er nicht, denn er hat­te kei­nen Mund. Eine Nase hat­te er auch nicht. Er hat­te nicht ein­mal Arme und Bei­ne. Und er hat­te kei­nen Bauch, und er hat­te kei­nen Rücken, und er hat­te kein Rück­grat, und Ein­ge­wei­de hat­te er auch nicht. Über­haupt nichts hat­te er! Sodass man gar nicht ver­steht, von wem die Rede ist. Bes­ser, wir spre­chen nicht mehr von ihm. — stop

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ein kleiner kopf

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alpha : 20.38 – Ich beob­ach­te­te einen fas­zi­nie­ren­den Mann. Die­ser Mann ver­füg­te über einen unge­wöhn­lich klei­nen, zum Him­mel hin spitz zulau­fen­den Kopf. Er saß auf einer Bank, Ter­mi­nal 2, des Flug­ha­fens, sei­ne Hän­de hiel­ten eine Tas­se Kaf­fee vor einen klei­nen Mund, klei­ne hel­le Augen starr­ten in die­se Tas­se, kurz fixier­ten sie mich, dann wie­der die Ober­flä­che des Kaf­fees, der sich im Gefäß lang­sam dreh­te. Stau­nend war­te­te ich in der Nähe des Man­nes auf einer wei­te­ren Bank, öff­ne­te ein Buch, aber anstatt zu lesen, sah ich immer wie­der hin zu dem klei­nen Kopf. Ich konn­te mir nicht den­ken, wie es mög­lich ist, mit einem der­art klei­nen Kopf zu über­le­ben. Man stel­le sich das ein­mal vor, der Kopf des Man­nes war nicht sehr viel grö­ßer gewe­sen als der Kopf eines Kin­des von zwei oder drei Jah­ren. Eigent­lich, dach­te ich, müss­te die­ser Mann tot sein oder aber von ein­ge­schränk­tem Denk­ver­mö­gen. Danach aller­dings sah der Mann nicht aus, er trug die fei­ne Klei­dung eines Geschäfts­rei­sen­den, außer­dem war er ver­mut­lich in der Lage, aus Bli­cken Gedan­ken zu lesen, wes­we­gen ich bald selbst zum Gegen­stand inten­si­ver Beob­ach­tung wur­de. Nichts wei­ter. — stop

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samuel beckett : 16 steine

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india : 3.25 – Ich nut­ze die­sen Auf­ent­halt, um mich mit Stei­nen zum Lut­schen zu ver­sor­gen. Es waren klei­ne Kie­sel, aber ich nen­ne sie Stei­ne. Ja, die­ses Mal brach­te ich einen bedeu­ten­den Vor­rat von ihnen zusam­men. Ich ver­teil­te sie gleich­mä­ßig in mei­nen vier Taschen und lutsch­te sie nach­ein­an­der. Dadurch ent­stand ein Pro­blem, das ich zunächst auf fol­gen­de Art lös­te: Ange­nom­men, ich hat­te sech­zehn Stei­ne und vier davon in jeder mei­ner vier Taschen, näm­lich in den zwei Taschen mei­ner Hose und den zwei­en mei­nes Man­tels. Wenn ich einen Stein aus der rech­ten Man­tel­ta­sche nahm und in den Mund steck­te, so ersetz­te ich ihn in der rech­ten Man­tel­ta­sche durch einen Stein aus der rech­ten Hosen­ta­sche, den ich durch einen Stein aus der lin­ken Hosen­ta­sche ersetz­te, den ich durch einen Stein aus der lin­ken Man­tel­ta­sche ersetz­te, den ich wie­der­um durch den Stein in mei­nem Mund ersetz­te, sobald ich mit dem Lut­schen fer­tig war. Auf die­se Wei­se befan­den sich immer vier Stei­ne in jeder mei­ner vier Taschen, aber nicht genau die­sel­ben… / Mitt­woch. stop. Samu­el Becketts wun­der­ba­rer Text der sech­zehn Stei­ne an die­sem frü­hen Mor­gen. Noch dun­kel. Schwe­re wür­zi­ge Luft der Kas­ta­ni­en­blü­te. Nacht­bie­nen pfei­fen am Fens­ter vor­über. Ich wer­de jetzt gleich eine Stun­de unter­neh­men, an die ich mich lan­ge Zeit, viel­leicht bis an mein Lebens­en­de erin­nern wer­de. In die­ser einen Stun­de habe ich nichts zu tun, als die­se eine Stun­de zu beob­ach­ten, und mich selbst, wie ich sie pas­sie­re. stop. — 3 Uhr 35

 

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existenz

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hima­la­ya : 3.38 — Von allen inten­si­ven Lebens­mo­men­ten war einer der Schöns­ten jener gewe­sen, als mich ein Mensch, der mir sehr nahe ist, wie­der­erkann­te. Ein Blitz war ihm nachts in den Kopf gefah­ren, hat­te Bedeu­tun­gen der Gegen­stän­de und Orte und Men­schen der­art umge­schrie­ben, dass er nicht mehr sagen konn­te, wo er sich gera­de befand, dass er einen Baum für eine Bir­ne hal­ten woll­te, einen Fern­seh­ap­pa­rat für den Mond, und mich per­sön­lich für einen wild­frem­den Men­schen, eine Per­son, deren Namen und deren Gesicht er nie zuvor gese­hen haben woll­te. Ein Blick, fremd, kalt. Ein Blick, der nach lan­gen Wochen des War­tens nach­denk­lich wur­de, der wie­der wär­men konn­te, weil er sich der Ver­traut­heit sei­nes Gegen­übers zu erin­nern schien. Wie ich in der Zeit der Ver­lo­ren­heit mit mei­ner Stim­me lock­te, mit Geschich­ten, die wir gemein­sam erleb­ten, klei­nen All­tags­ver­bre­chen, Foto­gra­fien, Musik. Ich bin kein Ande­rer! Und wie der suchen­den Nach­denk­lich­keit Erin­ne­rung folg­te, ein Licht, Iris­bren­nen, das mei­nen Namen noch vor Mund und Stim­me for­mu­lier­te. Und wie ich nach lan­ger Abwe­sen­heit von einer Minu­te zur ande­ren im gemein­sa­men Augen­raum wie­der zu exis­tie­ren begann, davon wird ein­mal zu erzäh­len sein. stop. Heu­te ist Mon­tag. stop. Leich­ter Regen. stop. Drei Uhr zwei­und­fünf­zig in Ben­ga­si, Liby­en. — stop

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luftteilchen

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romeo : 6.02 — Wie mich das begeis­tert, Details einer Geschich­te nach­zu­den­ken, feins­ten Teil­chen einer Wirk­lich­keit, die spä­ter ein­mal unsicht­bar sein wer­den in der Zei­chen­li­nie auf Papie­ren, nur für mich wahr­nehm­bar im Moment der Erfin­dung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Far­be der Wol­ken über einer Land­schaft. Oder eine Bewe­gung. Die Bewe­gung einer Hand, eines Mun­des, einer Schrift. Das Mur­meln einer Stim­me im Schlaf. Ges­tern habe ich dar­über nach­ge­dacht, wel­cher Art ein Geschenk sein könn­te, das ich mit mir neh­men wür­de, wenn ich ein befreun­de­tes Ehe­paar besuch­te in sei­ner wohl­ge­stal­te­ten Woh­nung, die eine mensch­li­che Woh­nung ist, aber eben voll­stän­dig mit Was­ser gefüllt. Ich dach­te, dass ich ihnen eine Schmuck­schne­cke zum Geschenk machen soll­te, ein ganz beson­de­res Exem­plar von der Grö­ße einer Hand, das nun über die Wän­de der unter­see­ischen Behau­sung glei­ten und musi­zie­ren wür­de, war­me, lei­se pfei­fen­de Geräu­sche. Die­se freund­li­che Mol­lus­ke könn­te von innen her blau beleuch­tet sein, so weit lässt sich das gut den­ken. Wie aber ver­pa­cke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teu­fel las­sen sich 2 Pfund Süß­was­ser­schne­cke art­ge­recht ver­schnü­ren? — stop

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luftpostbrief

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lima : 0.55 — Manch­mal sit­ze ich im Zug und foto­gra­fie­re mit mei­nem Kopf. Ich betrach­te eine Frau, einen Mann, ein Kind für zwei oder drei Sekun­den, und ver­su­che mir bereits in der nächs­ten Minu­te ein Licht­bild in Erin­ne­rung zu rufen. Ich den­ke: blau­er Schal, Hän­de, fei­ne Hän­de, Augen blau, Augen müde, Augen glück­lich, blau und müde, Turn­schu­he, gel­be Turn­schu­he, Zei­tung, was für eine Zei­tung, Haar­far­be, Schnee­haut, Mund, lächeln­der Mund, hör­te eine frem­de Spra­che, was für eine Spra­che könn­te das gewe­sen sein? Ich sit­ze also mit einem Bild in mei­nem Kopf im Zug und lau­sche einer Stim­me. Das Bild spricht. Das Bild lebt wei­ter. In jedem Bild, das in einem Zug auf­ge­nom­men wird, fin­det sich Bewe­gung, jene Stimm­be­we­gung viel­leicht, oder bereits die Bewe­gung der Erfin­dung. Wes­halb waren die Augen müde und ihr Aus­druck glück­lich? Eine Lie­bes­ge­schich­te? Oder war es die Zei­tung? Ja, was war das noch für eine Zei­tung? Viel­leicht ein Irr­tum, viel­leicht war die Zei­tung kei­ne Zei­tung, son­dern ein Brief gewe­sen, ein lang erwar­te­ter Brief, ein Brief, lie­be­voll von Hand geschrie­ben, ein Luft­post­brief, leicht, sehr leicht, ein Brief, noch kühl vom Flug. stop. Das Geräusch des Papiers. stop. Knis­ternd. stop. Auf­ste­hen! stop. Den Zug ver­las­sen! stop. Mit geschlos­se­nen Augen. — stop

interview
tahrir square
februar 2011
kurz vor ausbruch
staatlicher gewalt gegen
aktivisten/innen auf dem platz
source : zero silence project
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take one / 2

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echo : 3.05 — Wie­der dar­an gedacht, dass die Erfin­dung der Trom­pe­ten­kä­fer einen Pro­zess dar­stel­len könn­te, der aus zehn­tau­send Ein­zel­ge­dan­ken besteht, die sich nicht sel­ten zärt­lich wie­der­ho­len. — Kurz nach drei Uhr. Habe erneut ver­sucht, mich an den ers­ten Gedan­ken zu erin­nern, der ein Trom­pe­ten­kä­fer­ge­dan­ke gewe­sen sein könn­te, wie immer ver­geb­lich! Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Da waren ein­mal mei­ne klei­nen Augen und mei­ne klei­nen Füße, eine klei­ne Nase, ein klei­ner Mund. Von Zeit zu Zeit, wenn ich aus­ru­he, wenn ich auf einem Stuhl sit­ze ohne einen Gedan­ken, der auf­ge­schrie­ben wer­den müss­te, betrach­te ich mei­ne Hän­de. Mei­ne lin­ke Hand ruht dann an der Innen­sei­te mei­ner rech­ten Hand. Sie schei­nen sich zu ken­nen. Ich ver­mag mei­ne Hän­de zu betrach­ten, als wären sie nicht mei­ne Hän­de, son­dern die Hän­de einer ande­ren Per­son. Wie wür­de ich heu­te gestal­tet sein, wenn ich eines Tages nicht auf­ge­hört haben wür­de zu wach­sen? — Vier Uhr elf in Kai­ro, Ägyp­ten. Drei Uhr zwölf in Tunis, Tuni­sia. — stop

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silence

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romeo : 22.58 — Da waren ein­mal mei­ne klei­nen Augen gewe­sen, mei­ne klei­nen Füße, mei­ne klei­ne Nase, mein klei­ner Mund. Bis­wei­len, wenn ich aus­ru­he, wenn ich auf einem Stuhl sit­ze ohne einen Gedan­ken, der auf­ge­schrie­ben wer­den müss­te, betrach­te ich mei­ne Hän­de. Mei­ne lin­ke Hand ruht dann an der Innen­sei­te mei­ner rech­ten Hand. Sie schei­nen sich zu ken­nen. Ich ver­mag mei­ne Hän­de zu betrach­ten, als wären sie nicht mei­ne Hän­de, son­dern die Hän­de einer ande­ren Per­son. Wie wür­de ich heu­te gestal­tet sein, wenn ich eines Tages nicht auf­ge­hört haben wür­de zu wach­sen? — stop

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paul moreau

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ulys­ses : 5.16 — Das bewuss­te Den­ken scheint ohne Aus­nah­me ein Den­ken mit Stim­me zu sein. Ich höre mei­ne urei­ge­ne Gedan­ken­stim­me, als wür­de ich über Ohren gebie­ten, die nach innen gerich­tet sind. Sobald ich nun einen Gedan­ken mit­tels der Stim­me Paul Newman’s oder Jean­ne Moreau’s in mei­nem Kopf zur Spra­che brin­ge, habe ich einen bereits vor­lie­gen­den Gedan­ken erin­nert, über­setzt, erzählt. Erstaun­lich der Ein­druck, dass sich mein Mund öff­net, sobald sich mei­ne Hän­de einer Tas­ta­tur nähern. — Leich­ter Schnee­fall. stop. Von oben. — stop

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