tango : 20. 56 — Pappkartonhütten auf Treppen, die zu Kirchenräumen führen, zerlumpte, sich bewegende Gebilde. Seit Stunden geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf, der in New Yorker Subway – Zügen immer wieder einmal zu lesen ist: Give the homeless the kind of change they can really use. Irgendetwas irritiert in dieser Zeile. — Abend. Warm und schwül der Atem der Straßen. Vor der St. Patricks Cathedral, Fifth Avenue, liegt eine Frau ohne Bewusstsein um einen Hydranten gewickelt auf dem Boden. Eine Ratte zerrt an ihrem Gepäckwagen. Das nervöse Tier hebt den Kopf, scheint mich zu betrachten, diesen Mann in feinen Hosen, mit tadellosen Wanderschuhen, der mit weit geöffnetem Mund vorsichtig atmet. Beißender Gestank ruht in der Luft. Ich stehe, ich denke, sie wird bald sterben, diese Frau wird bald sterben. Sie könnte eine Mutter sein. Ihre eitrigen Hände. Ihr von Schmutz graues Gesicht. Ihr staubiges Haar. Ihre tief in den Kopf eingesunkenen Augen. Was ist, was nur um Gotteswillen ist geschehen, dass sie so endet? — stop
Aus der Wörtersammlung: op
bronx — flug
echo : 23.
32 — In der Dämmerung des Abends gegen die 241 St. zu, letzte Station weit oben im Norden. Eine halbe Stunde Tiefflug über steinerne Landschaften der Bronx, Miethauskasernen, rot, grau, rußig schwarz. Nach und nach leert sich der Zug, aber da draußen, da unten hinter den scheppernden Scheiben des Zuges, geräuschlos, stumm, Straßenzüge voller Menschen bis zum Horizont. Und wie sich die Lichtmembranen dann beruhigen, wie wir langsamer und langsamer werden, der schmale Kopf eines metallenen Fühlers, unser Bahnsteig, an den der Zug sich müde lehnt wie ein Schiff an einen Landungssteg nach langer Reise. Wald, wild und dornig, jenseits der Schienen, blühende Gräser erheben sich vom brüchigen Boden. Eine Bank, warmes Holz, auf dem ich sitze, rot leuchtende Falter eilen westwärts. Weit entfernt, am anderen Ende des schlafenden Zuges noch, die Gestalt einer Frau mit Besen, die sich durch die schimmernde Schlange fädelt, eine Frau von schwarzer Hautfarbe. Sie trägt kräftige Schuhe und einen Overall. Als sie bei mir ankommt, zögert sie kurz, will wissen, was ich hier tue, seltene Erscheinung, formuliert so rasend schnell, dass ich ihr kaum folgen kann. Bald geht sie weiter, schleift ihren Besen hinter sich her, macht den Zug zu Ende, kommt wieder zurück, setzt sich neben mich, spricht wie in Zeitlupe mit leicht erhobener Stimme: I — s — - t – h — a — t — - s — l – o — w — - e – n — o — u – g – h ?
madison avenue
ulysses : 7.
32 — Madison Avenue am frühen Morgen von Süd nach Nord. Tausende Tagpassanten nähern sich und verschwinden. Heftige Winde. Blüten, Blätter, Töne wirbeln in Spiralen durch die frische Luft. Frauen halten ihre Röcke, Männer ihre Hüte fest. Berauschende Glücksgefühle. Werde ich größer oder werde ich kleiner? Irgendetwas scheppert leise im Kopf von Schritt zu Schritt. Fliegenleichtgewichte, transparente Hummergestalten, spazieren seitwärts über den Bildschirm meiner Handschreibmaschine dahin, gebeutelte, zausige Herzen. Wo waren sie in der vergangenen Nacht gewesen? Indem ich eines der Geschöpfe auf der Schulter mit mir trage, der Gedanke, dass sich beinahe alle Menschen dieser großen Stadt nicht persönlich kennen. — stop
fingerübung
marimba : 10.
28 — Wieder eine halbe Stunde versucht, einen sechsten Finger linker Hand zu denken. Wie je zuvor spürte ich einen sechsten Finger nur dann, wenn ich einen linken und einen rechten sechsten Finger dachte zur selben Zeit, wenn ich also beide Hände neben mich legte und in meinem Kopf bearbeitete. — Riesige, graue Möwen jagen durch die Luft. Gespräch mit Computermaschine Eliza.
Louis : guten morgen, eliza
Eliza : > guten morgen! wie fühlst du dich?
Louis : gut! und du eliza?
Eliza : > lass uns über dich sprechen.
Louis : > warum, eliza?
Eliza : > welche antwort würdest du dir wünschen?
Louis : eine heitere antwort, eliza.
Eliza : > sofort?
Louis : unverzüglich, eliza!
Eliza : > du zuerst!
Louis : wer bin ich?
Eliza : > was denkst du, wer du bist?
Louis : ich bin louis!
Eliza : > bist du sicher?
Louis : ich denke schon!
Eliza : > guten morgen, louis, wie fühlst du dich?
Louis : gut! und du eliza?
Eliza : > sag du mir wie ich mich fühle!
Louis : du bist verrückt, eliza!
Eliza : > das wird sich zeigen.
lamellenohr
ulysses : 17.
52 — Ich hatte, seltsame Geschichte, die Idee, dass ich, in dem ich schlafend oder wachend durch Manhattan spaziere, lernen sollte, meine Ohren in der Weise der Seehunde durch Muskelkraft zu verschließen. Denkbar, dass mir bald Lamellen feinster Haut gewachsen sein werden, Innenohrsegel, deren Bewegung ich verfügen könnte, wie ich die Bewegung meiner Hände vorhersagen kann. — Menschliche Stimmen im Vorübergehen in den Farben sanfter Traumgespräche. Der Schlaf der Augen in der Subway, die Wildheit zufälliger Blicke. — stop
zungen
delta : 18.
05 — Was ich hörte im Gehen Ecke Lexington Avenue zur 59. Straße, ein Wort müsste ich übers andere schreiben. Das Heulen der Löschzüge, das Hupen der Taximobile, quietschende Bremsen, Krawall aus Läden, Menschenstimmen, Pfeifen, Quietschen, Ächzen, Brausen, Lärmzungen, die um jede Ecke streichen, ein Wort über das andere schreiben, bis sich die Zeichen aus dem Papier erheben. — stop
linie d – nordwestwärts
echo : 15. 02 — Von Brooklyn nach Manhattan Subwayfahrt, eine alte Dame vis–à–vis. Seit einer halben Stunde reisen wir so dahin, ich schreibe, sie scheint zu schlafen. Ein kariertes Hüttchen trägt sie auf dem Kopf und einen Seidenschal um einen grazilen Hals gewickelt. Ihr dunkelhäutiges Gesicht, zart gefaltet. Von Zeit zu Zeit öffnet sie für eine oder zwei Sekunden eines ihrer Augen und berührt mich mit einem festen Blick. Ich würde gerne wissen, ob sie mich wirklich sieht. Gleich werden wir die 33. Straße erreichen. Ich stelle mir vor, wie die alte Frau weiterfahren wird, um kurz darauf erneut eines ihrer Augen zu öffnen. Ich werde dann nicht mehr da sein, ein anderer Mensch wird an meiner Stelle sitzen, vielleicht wird auch dieser Mensch bald eingeschlafen sein, und gerade in dem Moment, da die alte Dame ihr Auge öffnet, eine ebensolches, wachsames Auge geöffnet haben. — stop
penn station
marimba : 23.
12 — Pennstation am späten Abend. Namen, Leuchtstoffe, Zielorte, die auf Tafeln klappernd von Zeile zu Zeile fallen. Montauk. stop. Babylon. stop. Syrakus. stop. Kerookee. stop. Muschelnde Geräusche, Wörter, Sätze fortbewegend, Dos Passos, sagen wir, Manhattan Transfer, Edition für Tiefseetaucher. stop. 700 selbstleuchtende Seiten a 1200 Gramm. stop. Funkblätterung. stop. 1 x 0.5 Meter Kantenlänge. stop. Himmel, was für ein großes, schweres Buch. stop. Schwebend. stop. 550 Fuß Tiefe. — stop
manhattanwelle
marimba : 22.16 — Dampfende Stadt. Dampf aus dem Boden, Dampf von den Wolken, Bäume dampfen, Menschen unter ihren Schirmen, selbst Eichhörnchen des Central Parks dampfen kleine Wolken aus dem Mund. Wie ich so gehe von Harlem aus nach Süden, von jedem Ticketschalter her eine schwarze Stimme von Jazz. Das ratternde Geräusch der Subway, rhythmisch, ihr warmer, öliger Atem, der dem Spazierenden unter den Regenschirm fährt. — Ein Mann zur Mittagsstunde nahe Madison Square Park mitten auf dem Broadway im tosenden Verkehr. Er trägt einen feinen, dunklen Anzug, aber grobe, staubige Schuhe. Immer wieder beugt er sich zur Straße hin, versenkt einen Zollstock in den Asphalt, telefoniert, die Arme, als sei ihm kalt, eng an den Körper gepresst. Der Mann scheint wütend zu sein. Er geht ein paar Schritte südwärts, vermisst ein weiteres Loch, Rauch steigt von dort, ein flatternder Faden. Als ob sich der Mann vergessen haben würde, nun zunächst in die Hocke, dann kniet er nieder, späht in den Schlund. — stop
mann ohne mund
tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop