Aus der Wörtersammlung: richtung

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shenyang

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gink­go : 19.55 UTC — Sie kommt gera­de aus She­n­yang, ist ziem­lich müde, sitzt im Schnell­zug Rich­tung City zwi­schen zwei schwe­ren Metall­kof­fern, eine älte­re Dame, sie sei eine der ältes­ten, die noch flie­ge, Cabin Chief, sie rei­se gern, wenn auch etwas ängst­li­cher, man habe schon den Ein­druck, dass der Luft­raum unsi­che­rer gewor­den sei, aber die Welt ins­ge­samt sei unsi­cher gewor­den, die Ame­ri­ka­ner sind es vor allem, das dür­fe man aber nicht so laut sagen, frü­her hät­ten sie noch gewusst, wohin die Regie­rung im Not­fall flie­gen wür­de, das sei jetzt nicht mehr Ange­le­gen­heit der Luft­han­sa, das erle­di­ge die Luft­waf­fe, die wüss­ten jetzt Bescheid, auch dass schon Anfang des letz­ten Jahr­hun­derts bekannt gege­ben wur­de, dass bald ein neu­er gro­ßer Krieg kom­men wür­de, Isra­el wüss­te dar­über Bescheid und eben die Ame­ri­ka­ner, aber das sagen wir lie­ber nicht so laut, sagt sie, aber sie flie­ge immer noch gern, kom­me viel in der Welt her­um, sie kön­ne ja ver­ste­hen, dass die Men­schen flüch­ten, aber sie sei­en eigent­lich kei­ne rich­ti­gen Flücht­lin­ge wie ihre Eltern noch, die woll­te kei­ner haben, die flo­hen aus Schle­si­en, das waren noch rich­ti­ge Flücht­lin­ge, die Chi­ne­sen flie­hen ja auch nicht, irgend­wie geht alles selt­sa­me Wege, die Welt ist aus dem Gleich­ge­wicht, aber sie dreht sich noch, aber nicht mehr lan­ge. — Als der Zug steht, hört sie auf zu spre­chen, steigt aus, ohne sich noch ein­mal umzu­dre­hen, ver­schwin­det in der Men­ge, die­se zier­li­che und irgend­wie ziem­lich müde Per­son. — stop

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am nachmittag

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fox­trott : 16.22 UTC — Im Park hör­te ich ein Geräusch, das mich an einen Trom­pe­ten­stoß erin­ner­te. Das Geräusch wie­der­hol­te sich, war mal lau­ter, dann wie­der lei­ser zu hören, viel­leicht weil es vom Wind davon­ge­tra­gen wur­de. Wenig spä­ter trat ein Cel­lo aus dem Unter­holz. Das Cel­lo spa­zier­te auf zwei Bei­nen in Rich­tung des Geräu­sches, das ich als Trom­pe­ten­ge­räusch iden­ti­fi­zier­te. Bald war es jen­seits des Weges unter den Schat­ten­schirm einer Kas­ta­nie getre­ten, wo es stopp­te. Das Instru­ment, des­sen Holz leuch­te­te, schien zu war­ten. Als ich nun wei­ter spa­zier­te begeg­ne­ten mir ein Becken, das sich auf acht kur­zen Bei­nen fort­be­weg­te, die sich sowohl vor­wärts als auch krei­send beweg­ten, nur Minu­ten spä­ter eine Oboe, die in einer hori­zon­ta­len Hal­tung mar­schier­te. Der Wind, der in ihr Mund­stück drang, erzeug­te lei­se hupen­de Klän­ge ganz wun­der­voll. Als Becken, Oboe und Cel­lo sich unter der Kas­ta­nie ver­ei­nig­ten, sen­de­ten sie gemein­sam selt­sa­me Fre­quen­zen über die Wie­se, die sich west­wärts zur Stadt hin erstreck­te. Dann Stil­le, dann von neu­em eine Wie­der­ho­lung des bereits Gehör­ten, und wie­der Stil­le. Man war­te­te neben­ein­an­der ste­hend wie an einer Buss­hal­te­stel­le, man war­te­te gemein­sam wor­auf auch immer. — stop

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zebraspringspinne

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echo : 5.18 UTC — Ich beob­ach­te an die­sem Mor­gen auf dem Fens­ter­brett nach Süden zu eine Zebra­spring­spin­ne von höchs­tens 2 Gramm Gewicht. Sie spa­ziert dort unter mei­nen Augen furcht­los auf und ab. Mög­li­cher­wei­se ist sie kürz­lich erst durch die Luft geflo­gen oder aber den gan­zen Win­ter über in mei­ner Nähe gewe­sen, ohne dass ich sie bemerk­te. Für einen Moment hal­ten wir bei­de inne und schau­en in Rich­tung der Däm­me­rung. Eine Stra­ßen­bahn kommt um die Kur­ve gefah­ren, es ist die ers­te Stra­ßen­bahn die­ses Tages. Ich schlie­ße die Fens­ter. Mit die­ser ers­ten Stra­ßen­bahn kommt der Tag in die Nacht, Vögel stei­gen aus und hocken sich in Bäu­me und sin­gen, wäh­rend Flie­gen und Fal­ter aus mei­ner Woh­nung flüch­ten, um ein­zu­stei­gen und rasch davon­zu­fah­ren. Ich soll­te mor­gens ein­mal auf die Stra­ße tre­ten und zur Hal­te­stel­le gehen und war­ten, da nun die ers­te Fahrt der Linie 16 ein­tref­fen und der Fah­rer von Nacht­fal­tern bedeckt sein wird, und die Sit­ze und Lam­pen, und auch die Arbei­ter und Arbei­te­rin­nen der Früh­schicht. Dich­te, bit­te­re, stau­bi­ge Luft, ein sono­res Sum­men zehn­tau­sen­der Flü­gel. Klei­ne, har­te Käfer­kör­per stür­men durch wei­chen, flie­gen­den Fal­ter­wald, ping, pong, ping. — Die­ser Text wur­de zum ers­ten Mal vor vier Jah­ren notiert. Als ich heut früh­mor­gens eine Zebra­spring­spin­ne ent­deck­te, war mein Text wie­der mög­lich gewor­den. — stop

ping

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m a r i m b o l o

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whis­key : 2.42 UTC — Wenn ich die Stadt New York erfin­de oder wie­der­fin­de, gehe ich spa­zie­ren. Ich set­ze mich in mei­ner Vor­stel­lung auf eine Bank im Tomp­kins Squa­re Park und dann lau­fe ich irgend­wann los mit den Wör­tern, notie­re, was ich erin­ne­re, es ist Früh­ling, heu­te folg­te ich der Ave­nue A nord­wärts. Aber ich bin nicht weit gekom­men, da war plötz­lich eine Art Loch, ich konn­te mich an den Namen eines Perü­cken­la­dens nicht erin­nern. Ges­tern war der Laden in mei­ner Erin­ne­rung über­haupt nicht exis­tent, des­halb konn­te ich an ihm vor­bei­spa­zie­ren. Und heu­te blieb ich dort hän­gen. Das ist schon sehr selt­sam. — stop

ping

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mauerwerk

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whis­key : 12.22 UTC — In der Nähe der Cen­tral­sta­ti­on beob­ach­te­te ich einen jun­gen Mann, wie er dicht vor einer Haus­wand stand mit einer Lupe in der Hand. Lang­sam beweg­te er sei­ne Lupe über das Mau­er­werk hin und her, späh­te indes­sen mit einem Auge durch das kräf­ti­ge Glas, er schien zu lesen. Als ich mich näher­te, dreh­te sich der jun­ge Mann plötz­lich um und sah mich mit einem stark ver­grö­ßer­ten Auge an. Dann flüch­te­te er in Rich­tung der Cen­tral­sta­ti­on Nord­sei­te. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich an einem Mon­tag um 10 Uhr und 12 Minu­ten. — stop

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ein mann

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del­ta : 22.15 UTC — Ich beob­ach­te­te einen Mann, der auf einer Roll­trep­pe ent­ge­gen ihrer Fahr­rich­tung spa­zier­te. Kurz dar­auf besuch­te ich einen Super­markt. Wäh­rend ich Äpfel und Bir­nen wog, dach­te ich an die­sen Mann auf der Roll­trep­pe. Ich über­leg­te, der Mann könn­te viel­leicht den Ver­such unter­neh­men, meh­re­re Tage und Näch­te auf einer Roll­trep­pe zu spa­zie­ren, ohne je das eine oder ande­re Ende der Roll­trep­pe zu errei­chen. Kurz dar­auf kam ich wie­der an der­sel­ben Roll­trep­pe vor­über. Der Mann lief noch immer gegen die Lauf­rich­tung der Trep­pe. Pas­san­ten waren ste­hen­ge­blie­ben. Ich selbst hat­te für einen Augen­blick ein selt­sa­mes Gefühl der Ver­ant­wort­lich­keit für das Han­deln des Man­nes. — stop
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crea

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nord­pol : 18.55 UTC — Küh­le Luft trifft ein, als sei sie mit dem Zug in einem Kof­fer nach Vene­dig gekom­men. Lang­sam wird Abend. Auf den Schif­fen fah­ren leicht beklei­de­te Men­schen ihre Gän­se­haut heim­wärts. Von der Dampf­schiff­sta­ti­on Crea aus führt mich eine Wan­de­rung ohne Stadt­plan in Hän­den, nur mit dem Kopf und nach dem Gefühl gehend, durch das Can­n­a­re­gio in Rich­tung Cas­tel­lo. Wie lan­ge Zeit, über­leg­te ich, wer­de ich tas­tend ost­wärts durch die Gas­sen strei­fen, bis ich mein Ziel, die Dampf­schiff­sta­ti­on Giar­di­ni, erreicht haben wer­de? Bald ist es krei­send spät gewor­den. Auf den Stu­fen der Chie­sa del San­tis­si­mo Reden­to­re, die noch warm sind vom Tag­licht, flit­zen Eidech­sen her­um. Im Zwie­licht wer­den sie zu unru­hi­gen Schat­ten, die man mit Far­ben der Vor­stel­lung fül­len könn­te, an einem bun­ten Tag wer­den sie bunt. Es ist jetzt schon zu dun­kel, um noch lesen zu kön­nen. Ich soll­te mir eine Taschen­lam­pe besor­gen oder rein elek­tri­sche Tex­te auf mei­ner fla­chen Schreib­ma­schi­ne lesen. Ob papie­re­ne Bücher exis­tie­ren, die zu leuch­ten in der Lage sind? — stop

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lido santa maria elisabetta

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tan­go : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Auto­mo­bi­le ken­ne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stun­den der Fahrt mit­tels Was­ser­bus­sen hin und her und her­um, muss ich des­halb an Land gehen, muss mei­ne Schreib­ma­schi­ne mit Strom ver­sor­gen, um arbei­ten zu kön­nen. Ich stell­te mir ein­mal vor, wie ich unter Vene­zia­ne­rin­nen und Vene­zia­nern sit­ze mit einer klap­pern­den Olym­pia­schreib­ma­schi­ne auf den Knien. Oder das Notie­ren von Hand in ein Notiz­buch auf schwan­ken­den Sitz­ge­le­gen­hei­ten der Dampf­schiff­chen rei­send. Man kann nie­mals erah­nen, in wel­che Rich­tung sich die Welt bewe­gen wird. Plötz­lich fährt die Stift­spit­ze unter der Hand sprung­haft vor­wärts oder rück­wärts, zieht eine Linie jen­seits geplan­ter Schrift­zei­chen, bil­det die Bewe­gung des Mee­res auf Notiz­pa­pie­ren nach. In der digi­ta­len Zeit wer­den ver­rück­te Zei­chen, Fol­ge der Mee­res­be­we­gung von dem Kor­rek­tur­ge­dächt­nis der elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne unver­züg­lich kor­ri­giert. Eine wun­der­ba­re Beob­ach­tung ist, wie ich siche­rer wer­de im Ste­hen auf dem Was­ser im Bus. Beob­ach­te­te hun­der­te Male Kno­ten­bin­dung in dem Moment, da sich das Batel­lo dem Lan­de nähert, da es anzu­le­gen wünscht, sodass es für einen kur­zen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Men­schen dann über Brü­cken gehen, wie tan­zen. Am Abend ein­mal spür­te ich die uralte Stadt selbst unter mir schwan­ken. Da ich mich in die­sem Augen­blick dem Lido nähe­re, bemer­ke ich, dass ich die Erfin­dung der Auto­mo­bi­le bereits nach weni­gen Tagen ver­ges­sen habe. — stop
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