echo : 0.14 UTC — Unlängst entdeckte ich in der digitalen Sphäre ein Buch des amerikanischen Autors David Foster Wallace. Ich dachte, dieses Buch ist sehr umfangreich, schwer, vermutlich und verletzlich. Ich dachte außerdem, dass Sommer geworden ist, dass ich das Buch möglicherweise gerne in einem Park lesen würde, auf einer Bank sitzend oder im Gras liegend. Plötzlich kaufte ich eine elektronische Ausgabe des Romans Unendlicher Spaß, dessen Instanz wenige Sekunden später vollständig auf meiner kleinen, flachen Schreibmaschine angekommen war. Sehr erstaunlich, wie schnell das geht, geräuschlos, so die Anlieferung der vollständigen Werkausgaben Anton Tschechows, Franz Kafkas, Flaubert’s wenige Wochen zuvor. Nun ist das so, dass ich spürte, dass etwas fehlt, obwohl ich einen komplexen Text übermittelt bekommen, also zugenommen habe, meine Bibliothek, die Auswahl meiner Bücher, Wörter, Gedanken, die ich in meinem Zimmer auf und ab gehend sofort in die Hand nehmen und mir vor Augen halten könnte. Ich glaube, ich werde mir ein Stück Holz suchen, oder einen kleinen Karton, den ich beschriften könnte, um ihn stellvertretend in mein Regal zu stellen zu weiteren Büchern, die noch tatsächlich papierene Persönlichkeiten sind. — stop
Aus der Wörtersammlung: sekunde
“Hi!” — “Hi!”
romeo : 0.33 UTC — War Zeuge einer Begegnung zweier Algorithmen bei mir Zuhause auf einem Bildschirm, der sich teilte, und zwar in der Mitte. In rasender Geschwindigkeit wurden dort Zahlenketten erzeugt. Nach drei oder vier Minuten stoppte die Zahlenproduktion in der linken Spalte. Nach wenigen weiteren Sekunden erschien die Zeichenfolge: Hi! Kurz darauf stoppte auch in der rechten Spalte die Zahlenproduktion, wiederum für wenige Sekunden Stille oder Leere. Dann erschien auch hier die Zeichenfolge: Hi! Ich war gerührt, man stelle sich das einmal vor, Algorithmen, die sich zur Begrüßung einer Sprache bedienten, die ich zu lesen, in der Lage gewesen war. — stop
im park
nordpol : 0.18 UTC — Es war ein warmer Regentag, den ich unter dem Schirm spazierend im Palmengarten verbrachte. Ich ging Stunde um Stunde im Kreis, mit einem wunderbaren Gefühl dahin, etwas Neues zu erleben. Der Schirm nämlich war ein besonderer Regenschirm, ich trug ihn zur Probe, es war ein Schirm, der über eine weitere feine Haut verfügte, die das eigentliche schützende Gewebe wie eine zweite Haut bespannte. Diese Haut war nun in der Lage, die Zahl der Tropfen, die auf die Oberfläche des Schirmes trafen, zu zählen, indessen winzige Kameraaugen die Bewegungen meines Körpers beobachteten, der sich exakt wie der Körper eines Spaziergängers verhielt. Sie saßen in der Krone des Regenschirms fest, und ich denke, es entging ihnen nichts, sodass ein quantenmechanischer Algorithmus in Bruchteilen von Sekunden zu entscheiden vermochte, wie viele Regentropfen meinen spazierenden Körper getroffen hätten, wenn ich nicht beschirmt unterwegs gewesen wäre. Gegen acht Uhr abends hörte es auf zu regnen und ich ging nach Hause, um in der digitalen Sphäre nach Algorithmen des Sortierens zu suchen. Folgende Bezeichnungen wurden sofort gefunden: binary tree sort, bogosort, bubblesort, bucketsort, combsort, countingsort, gnomesort, heapsort, hybridsort, insertionsort, introsort, merge insertion, mergesort, quicksort, radixsort, selectionsort, shakersort, shellsort, slowsort, smoothsort, stoogesort, swap-sort, timsort. Nichts weiter. — stop
ein millionstel gramm wort
echo : 16.25 UTC — Ich verfüge über eine weitere, über eine 5. Schreibmaschine. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn meine neue Schreibmaschine in der Hitze der Tag- oder Abendluft atmet, um sich zu kühlen, ist von ihren Atemgeräuschen selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäuse lege, nichts zu hören. Ich könnte sie unter meinem Hemd verbergen, weil sie so flach ist, niemand würde sie bemerken. Einmal notierte ich: Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Schreibmaschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? S i e r r a. Wie viele Male wird das Wort S i e r r a heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen werden, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort S i e r r a , das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. Samstag. — stop. 12° Celsius bei wolkenlosem Himmel. stop. Wer könnte nun beweisen, dass dieser Text nicht bereits von einer Maschine geschrieben wurde, die über künstliche Intelligenz verfügt? — stop / tags: machine learning . tensorflow . text mining . natural language processing . codepath . turing test.
eine stimme
sierra : 14.15 UTC — Regen und Sonntag. Ich hatte Mutter angerufen. Sie war unterwegs gewesen, vielleicht im Garten, vielleicht in den Bergen. Nach 10 Sekunden schaltete sich der Anrufbeantworter an. Eine Stimme, die die Stimme Mutters war, meldete vertraut: Hier ist der Anschluss von Paula und Jürgen. Ich sagte sofort meinen kleinen Spruch auf: Hallo, seid Ihr Zuhause? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es regnet. Als mein Vater gestorben war, hatte ich immer wieder einmal gedacht, wie seltsam ist, dass meine Mutter, solange sie nicht bei sich selbst anrufen wird, nicht bemerken würde, dass ihre Begrüßung anrufende Freunde irritieren könnte. Ich überlegte, ob ich Mutter nicht vielleicht bei Gelegenheit darauf aufmerksam machen sollte, dass wir eine weitere Tonbandaufnahme anfertigen könnten. Der Eindruck unverzüglich, ich würde meinen Vater durch diese Handlung distanzieren, einen Geist hinauswerfen aus dem Haus, in dem er weiterlebt, in seinen Spuren, in unseren Erinnerungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Computer. Und da sind seine Gartenschuhe, seine Schallplatten, seine Bücher und im Teich werden bald wieder Rosen blühen, Seerosen, weiß und rosa, die vor langer Zeit einmal von seiner Hand ins Wasser gesetzt worden waren. Ja, so war das gewesen. Heute wieder Regen und Sonntag. Und da sind nun Mutters Sommerschuhe verwaist und ihre Winterstiefelchen neben der Tür zum Garten. In einer Schublade in der Küche werde ich bald Mutters Bleistifte finden und Mutters Brillen und Rezepte von eigener Hand für Kuchen und Plätzchen für das Weihnachtsfest vor zwei Jahren. In einer weiteren Schublade ruhen ihr Reisepass, ihr Geldbeutel, ihr Telefonbuch, Broschen und Wanderkarten durch die Wälder am See. Und da ist ihre helle Stimme, ich weiß, dass sie im Telefon zu warten scheint, eine Stimme, die noch möglich ist. — stop
pulverpfeifen
alpha : 12.08 UTC — In der schwankenden Straßenbahn wieder höre ich, wie sie mit brennenden Augen nach Wörtern suchen für das scheppernde Licht des Magnesiums, für das Fauchen der bengalischen Feuer, die sie in ihren kleinen Fäusten hielten. Da ist eine Nachtsekunde, die Sekunde, in der sie das rote, das verbotene Stäbchen entzündet und gerade noch eben rechtzeitig von sich geworfen haben. Das Heulen der chinesischen Pulverpfeifen. Und da sind noch Funkenregen und blaugraue Wölkchen, die sich auf kleine Zungen niederlegten. Nicht die Feuerblumen des Himmels, das Spektakel der nächsten Nähe entfesselt die Erinnerung von Stunde zu Stunde. Zündhölzer, verborgen in Hosentaschen, sind zurückgeblieben, auch dieses Schwefelholz, eine heimliche Geschichte. – stop /koffertext
wellen
tango : 6.52 UTC — Vielleicht kann ich, wenn ich das Meer in den Straßen Venedigs beobachte, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbtageswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Regen, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
fondamente nove
india : 22.58 UTC — Noch fällt mir nicht leicht zu erzählen, warum ich Zeit in Venedig verbringe. Ich bin ein Beobachter, deshalb bin ich in Venedig, zur Beobachtung des Wassers und auch der Schnecken, die sich im Wasser oder in der Nähe des Wassers bewegen. Ich berichte gleichwohl sehr gerne, dass ich nach Eidechsen Ausschau halte. Einmal bemerkte ich einen Mann, der mittels einer Lupe Taustücke untersuchte, die zerfasert, wie kranke Schlangen sich neben Vaporettostationen türmten. Auf einer Brücke nahe des Fährenterminals Fondamente Nove wartete ein Fotograf auf größere oder kleinere Schiffe, die er senkrecht von oben her fotografierte. Nach zwei oder drei Stunden, die ich in seiner Nähe verbrachte, nickte er mir plötzlich zu. Kinder turnten auf rostigen Eisenstangen. Ich überlegte, ob sie wohl gelernt haben, mit einem Fahrrad zu fahren? Das Wasser unter der Bewegung der Schiffsschrauben pulsiert für Bruchteile von Sekunden zu Kuppeln von Glas. Noch fällt mir nicht leicht zu erzählen, warum ich eigentlich Zeit in Venedig verbringe. Schwankende Wirklichkeiten, vertraut. — stop
papiere
delta : 22.58 UTC — In diesem Moment, da die Temperatur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitieren, den ich vor Jahren bereits notierte. Er handelt von Eispapieren und von einem besonderen Kühlschrank, den ich damals in Empfang genommen hatte, von einem Behälter enormer Größe. Ich schrieb, ich wiederhole, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
giudecca
himalaya : 4.52 UTC — Eine digitale Apparatur berichtete mir heute, irgendjemand, ein Mensch, der möglicherweise in Kolumbien wohnt, habe einen particles – Text auf seinem Bildschirm vorgefunden. Ich frage mich, wie dieser entfernt lebende Mensch mit den Archiven meiner notierenden Arbeit in Verbindung gekommen sein könnte. Ein Zufall, das ist denkbar. Oder ein Irrtum? Wie lange Zeit wird mein Text, der im Mai 2008 aufgeschrieben worden war, dort auf einem Bildschirm lesbar gewesen sein. Plötzlich las ich meinen Text in einer Weise, als verfügte ich über fremde Augenpaare: Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop