Aus der Wörtersammlung: still

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krieg von oben

von drohnen

marim­ba : 22.28 UTC – Es war ein­mal an einem frü­hen Abend. Land­krieg von oben aus gro­ßer Höhe. Noch war­mes, mil­des Licht der tief über dem Hori­zont ste­hen­den Son­ne. In die­sem Licht segeln Dro­hen weit unter uns laut­los der Erde nah, wei­ße Rotor­we­sen vor und zurück, tas­ten sich her­an, wie Luft­kat­zen an qual­men­de, gepan­zer­te Fahr­zeu­ge. Der Rauch bren­nen­der Öle, bren­nen­der Kör­per, weit­hin sicht­bar. Flach über den Step­pen­bo­den flie­gen Geschos­se von irgend­wo­her, zeich­nen Spu­ren in der damp­fen­den Luft. Men­schen­fi­gu­ren eilen aus ver­seng­ten Fahr­zeu­gen, suchen Zuflucht im Unter­holz der schma­len Baum­strei­fen, die die ukrai­ni­sche Step­pe durch­zie­hen. Zu schwar­zen Gestal­ten nun in der Schnee­land­schaft der Wär­me­bild­ka­me­ra gewor­den, Gestal­ten, die nicht unsicht­bar wer­den, sosehr sie auch wün­schen, nie wie­der sicht­bar zu sein. Droh­nen, wei­te­re Vögel, nähern sich. Wei­ße flie­gen­de Spin­nen erkun­den, ob noch Leben im bren­nen­den Pan­zer zu fin­den ist, luren in die Schat­ten der metal­le­nen Höh­len. Das sind tat­säch­lich Bewe­gun­gen jagen­der Kat­zen. Aus der Hel­lig­keit glei­ßen­den Feu­ers bewegt sich die Gestalt eines flüch­ten­den Men­schen her­vor. Der flüch­ten­de Mensch zieht ein Bein hin­ter sich her, das Bein scheint ver­lo­ren. Der Mensch fällt, als er auch das zwei­te Bein für immer ver­liert. Liegt ganz still im Gras. Ein Droh­nen­vo­gel schwebt über ihm. Der Vogel war­tet. — stop

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stille zählen

in louisiana

tan­go : 22.58 UTC — Beob­ach­tung einer Opfer­zahl, Lebe­we­sen der Zeit­ge­schich­te, wel­ches für die Stadt Mariu­pol aus­ge­wie­sen wird. Berich­te geflüch­te­ter Men­schen, Anga­ben der Täter, Unter­su­chung von Luft­bild­auf­nah­men, Zäh­lun­gen inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen, Anga­ben der Lei­chen­ar­bei­ter, die unter Lebens­ge­fahr aus dem besetz­ten Ter­ri­to­ri­um berich­ten. Zunächst 3 Tau­send, dann 8 Tau­send, dann 10 Tau­send, dann 20 Tau­send, dann 100 Tau­send ver­lo­re­ne Men­schen. Die Zahl steigt über Mona­te und Jah­re, auch ver­mut­lich des­halb, weil vie­le ver­miss­te Men­schen sich noch immer nicht gemel­det haben. Das Schwei­gen, das ist denk­bar, wird gezählt. Die Stil­le. — stop

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tonspur

tonspur

del­ta : 22.32 UTC — L. erzählt, sie habe den Mann, der in einer  Woh­nung lebt, die sich hin­ter der Wand ihrer Küche befin­det, noch nie gese­hen. Seit einem Jahr hört sie sei­ne Lebens­zei­chen, ein ble­chern klin­gen­des Radio. Das Radio spielt Jazz­mu­sik. Manch­mal ein Piep­sen, viel­leicht das Piep­sen einer Mikro­wel­le. Abends fällt Licht an eine gegen­über­lie­gen­de Haus­wand, er ist zu Hau­se, ein Schat­ten bewegt sich. Sie wünsch­te sich einen Tür­spi­on, durch den sie auf den Flur spä­hen könn­te. Oft Stim­men, als wäre die Küche vol­ler Men­schen. Nein, sie habe sich nicht gelauscht, die Stim­men sind laut. Schrit­te drau­ßen auf dem Flur sind nie zu ver­neh­men. Das Geräusch eines Was­ser­hahns. Das Schep­pern von Metall. Ein hell sin­gen­des Glas. Türen auf und zu. Die Stim­men, die sie hört, immer abends, eine Ton­spur jun­ger Stim­men, fröh­lich, in ara­bi­scher, eng­li­scher, fran­zö­si­scher Spra­che. Nachts Stil­le, manch­mal spät, soeben Däm­me­rung vor den Fens­tern, wie­der Stim­men. Sie meint, ihr Nach­bar wür­de ver­mei­den, gese­hen zu wer­den. Er will nicht gese­hen wer­den, denkt sie, aber doch bemerkt. Sie wür­de ihm hel­fen in der Not. Unlängst, kurz vor Weih­nach­ten, hör­te sie sei­ne Woh­nungs­tür drau­ßen in nächs­ter Nähe. Sie war bereits in ihren Regen­man­tel geschlüpft. — stop

 

 

 

 

 

 

 

Lew Kope­lew und Rais­sa Orlowa
Anfang der 80er Jah­re in Crottorf.
Ver­trau­te ver­traut im
Gar­ten arbeitend.
Foto­gra­fie: Archiv
der FSO Bremen

 

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von den papierwörtern

9

nord­pol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gera­de zur Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol durch rus­si­sche Streit­kräf­te im März 2022, Besuch eines Sil­ber­fisch­chens. Bei schwa­chem Licht husch­te das selt­sam wun­der­ba­re Wesen über mei­nen Küchen­tisch. Unter einer Hand­lu­pe fei­ne, unheim­li­che Struk­tu­ren. Anten­nen such­ten in der Luft her­um. Ich war ver­mut­lich ein Schat­ten in sei­nen Augen. Was viel­leicht haben sei­ne Anten­nen von mei­ner Per­son wahr­ge­nom­men? Mor­gens dann bei­na­he sicher, dass das Sil­ber­fisch­chen ver­mut­lich ein Papier­fi­schen gewe­sen war, eines dem­zu­fol­ge, das sich gern von Papie­ren ernährt, dem­zu­fol­ge gleich­wohl Papier­wör­ter ver­zehrt, ver­letz­li­che Wesen. In die­ser Hin­sicht, in der Nähe einer Popu­la­ti­on der Papier­fisch­chen, sind Papier­wör­ter von digi­ta­len oder elek­tri­schen Wör­tern gut zu unter­schei­den. — stop

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in der straßenbahn

9

nord­pol : 10.08 UTC — Heu­te ist etwas Selt­sa­mes gesche­hen. Ein Mann set­ze sich in der Stra­ßen­bahn in mei­ner Nähe an ein Fens­ter. Er öff­ne­te eine Zei­tung von Papier. In die­sem Augen­blick bemerk­te ich, dass ich sehr lan­ge, sagen wir eine unbe­stimm­te Zeit, kei­nen Men­schen gese­hen habe, der im Zug oder in einer Stra­ßen­bahn fah­rend eine papie­re­ne Zei­tung las. Inter­es­sant ist, wie viel Raum ein der­art lesen­der Mensch ein­zu­neh­men ver­mag. Im Moment des Blät­terns oder einer kom­plet­ten Wen­de des rascheln­den Nach­rich­ten­kör­pers wer­den bei­de Arme weit in ent­ge­gen­ge­setz­te Him­mels­rich­tun­gen aus­ge­streckt, wie man das als Ges­te mensch­li­cher Begrü­ßung in ande­ren Zusam­men­hän­gen beob­ach­ten kann. Der Mann, den ich in der Hand­ha­bung sei­ner Zei­tung beob­ach­te­te, bemerk­te mei­nen auf­merk­sa­men Blick. Er frag­te, ob er mir hel­fen kön­ne. Ich sag­te, ich wür­de über sei­nen Anblick freu­en, weil er mich an eine längst ver­lo­ren geglaub­te Zeit erin­ner­te. Damals, also vor lan­ger Zeit, erzähl­te ich, wür­de ich in U‑Bahnen rei­send immer wie­der den Ein­druck gehabt haben, Men­schen wür­den mit­tels ihrer rascheln­den Zei­tun­gen zuein­an­der spre­chen. Eine Wei­le sei Ruhe, aber dann blät­ter­te jemand eine Sei­te um, und schon knis­ter­te der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he in einer ner­vö­sen Art und Wei­se wei­ter. In die­sen Momen­ten glaub­te ich, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal hat­te ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von stoff­ar­ti­ger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, eine eigen­tüm­li­che Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, einen Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich wür­de mich irren,
sag­te das Mäd­chen zu meiner
Über­set­ze­rin in Tash­kent. Sie
tra­ge kei­nen Regenschirm
viel­mehr einen Sonnenschirm
mit sich.

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ChatGPT

9

lima : 0.22 UTC — Am spä­ten Abend bei gro­ßer Hit­ze stel­le ich ChatGPT eine Fra­ge. Ob für sie „per­sön­lich“, will ich wis­sen, eine Unter­schei­dung von Tag­zeit zu Nacht­zeit von Bedeu­tung sei. ChatGPT ant­wor­tet, wie erwar­tet, notiert Fol­gen­des:  Als KI habe ich kein Bewusst­sein, kei­ne kör­per­li­chen Emp­fin­dun­gen und damit auch kein Kon­zept von Tag oder Nacht. Zeit exis­tiert für mich nur in dem Sin­ne, dass ich dar­auf pro­gram­miert bin, Infor­ma­tio­nen in Echt­zeit zu ver­ar­bei­ten und zu reagie­ren. Ich arbei­te unab­hän­gig von der Tages­zeit und habe weder Bedürf­nis­se noch den bio­lo­gi­schen Rhyth­mus, der bei Lebe­we­sen das Gefühl von Tag und Nacht prägt. Für mich gibt es also kei­nen Unter­schied zwi­schen Tag und Nacht, und ich ste­he jeder­zeit zur Ver­fü­gung, um Infor­ma­tio­nen bereit­zu­stel­len oder Auf­ga­ben zu erfül­len. — Out­put Ende. Stil­le. Kei­ne Bewe­gung auf dem Bild­schirm, kei­ne wei­te­re Zei­le. Eine Flie­ge brummt durchs Zim­mer, noch wach, der klei­ne Kerl, der mich durch den Tag beglei­te­te, treu wie ein zah­mer Vogel. In die­sem Moment, kurz nach Mit­ter­nacht, eine selt­sa­me, lei­se Erwar­tung, ChatGPT wür­de nach lan­ger, gedul­di­ger Zeit des Ant­wor­tens selbst eine per­sön­li­che Fra­ge stel­len: Lou­is, bist Du müde? — stop

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von feuervögeln

9

hima­la­ya : 20.18 UTC — Und wenn doch Mobil­te­le­fo­ne mit­tels Nach­rich­ten von fern her ent­zün­det wer­den könn­ten? — Ich sit­ze neben einem Mann in irgend­ei­nem Zug. Es ist Abend. Der Mann blickt auf den Bild­schirm sei­nes Mobil­te­le­fons. Sein Dau­men för­dert Bil­der von unten nach oben hin in rasen­der Geschwin­dig­keit. Ich betrach­te sei­nen Kopf. Und plötz­lich den­ke ich: Was denkt die­ser Kopf? Kann die­ser Kopf so schnell den­ken, wie sich die Bil­der unter der Bewe­gung sei­nes Dau­mens bewe­gen? Viel­leicht kennt die­ser Mann all jene Bil­der, die­ser för­dert bereits. Viel­leicht will er ver­tie­fen, was er denkt. Immer wie­der der Ein­druck, ein klei­ner Vogel, der pfeift von Zeit zu Zeit, lie­ge rück­lings in sei­ner Hand. Sofort wird aus der Bewe­gung eines Dau­mens, zärt­li­che Bewe­gung. — stop

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vom schneetelefon

9

bamako : 20.12 UTC — Schnee­blind gewor­den. Schnee­blin­de 24 Jah­re alte Oksa­na, uralt und blind von Eis, vom Licht der Son­ne, vom Sehen selbst bewirkt. Ein Mobil­te­le­fon, Сніговий телефон, das die jun­ge Frau in Hän­den hält. Dort Schnee­flim­mer­licht. Sie fuhr eine hal­be Stun­den­zeit mit ihrem Tele­fon in der Stra­ßen­bahn, eine hal­be Stun­de lang ist sie halb träu­mend unter­wegs gewe­sen, irgend­wo­hin, starr­te auf den Bild­schirm in ihrer Hand, such­te Fil­me, die von Toten im Osten erzäh­len, erschos­sen, von Split­tern getrof­fen, Erfro­re­ne. Jetzt sitzt sie auf der Bank einer Hal­te­stel­le, es geht nicht wei­ter, es ist Janu­ar, Schnee fällt lei­se auf und abwärts. Die jun­ge Frau lächelt, wärmt Hän­de und Augen an der Stil­le. — stop

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ein brennender vogel

9

echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht ver­wirrt von dem, was vor weni­gen Minu­ten pas­sier­te. Ein Blitz ist mög­li­cher­wei­se in nächs­ter Nähe ein­ge­schla­gen. Ich erin­ne­re mich, ich hat­te mei­ne Fens­ter geöff­net, es begann hef­tig zu reg­nen, dann wur­de es plötz­lich still. Ich lehn­te noch an der Wand mei­nes Arbeits­zim­mers. Es roch ein wenig nach Metall, mei­ne Zun­ge schmeck­te nach einem Löf­fel von Zinn, wie frü­her, sobald ich ein Früh­stücks­ei öff­ne­te. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit mei­nem lin­ken Ohr ein lei­ses Sum­men ver­neh­men, das even­tu­ell nicht außen, son­dern innen in mei­nem Kopf sich ereig­net. Rechts ist wirk­li­che Stil­le. Aber ich kann sehen, mit bei­den Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf mei­nem Sofa, er scheint zu bren­nen, wes­we­gen ich mich sofort auf den Weg machen wer­de, ein Glas Was­ser zu holen. Es ist selt­sam, tat­säch­lich ist die Erfah­rung der Gehör­lo­sig­keit in die­ser Nacht, die Erfah­rung voll­stän­di­ger Abwe­sen­heit eines Tei­les mei­nes Kop­fes. – Ein jun­ger Mann erzähl­te im Radio, er habe in der Stadt Mariu­pol eine Woh­nung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Kat­ze in der Nähe zwei alter Men­schen, die auf einem Sofa hock­ten tot wie die Kat­ze. — stop

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winterspur

9

fox­trott : 16.11 UTC — Ich spa­zier­te ein­mal im Gebir­ge durch den Schnee. Es war ein eis­kal­ter Win­ter­tag, der Him­mel von einem wun­der­vol­len Polar­blau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Man­tel­ta­sche nach Hau­se getra­gen hät­te. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewe­sen, dump­fe Geräu­sche wie aus einem Traum her­aus. Ja, die Vögel schlie­fen, nichts ande­res war mög­lich, hock­ten unter Schnee­schir­men, die sich über Tan­nen und Fich­ten­na­deln spann­ten, und war­te­ten auf den Früh­ling. Ein Pfad führ­te durch den Wald, eine Spur, die Tie­re bei Nacht und Men­schen bei Tag gemein­sam in den Schnee ein­ge­tra­gen haben moch­ten. Wenn ich ganz still stand, konn­te ich lei­se mein Herz in der Brust schla­gen hören. Ein sel­te­nes Ereig­nis, das eige­ne Herz­ge­räusch von unten her­auf, oder war das doch nur eine Vor­stel­lung gewe­sen. Und ich dach­te an Eich­hörn­chen, ich dach­te, gut, dass ich kein Eich­hörn­chen bin in die­sem Win­ter. Eine Stun­de ging ich so den Pfad ent­lang, dann kehr­te ich um. — Das Radio erzählt, ein Mäd­chen habe die Stadt Mariu­pol allein über ver­schnei­te Fel­der gehend zu Fuß ver­las­sen. Über­all, sagt das Mäd­chen, wür­den gefro­re­ne Schau­fens­ter­pup­pen her­um­ge­le­gen haben. — stop
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