himalaya : 5.02 — Ich beobachte an diesem Morgen auf dem Fensterbrett nach Süden eine Zebraspringspinne von höchstens 2 Gramm Gewicht. Sie spaziert dort unter meinen Augen furchtlos auf und ab. Möglicherweise ist sie kürzlich erst durch die Luft geflogen oder aber den ganzen Winter über in meiner Nähe gewesen, ohne dass ich sie bemerkte. Für einen Moment halten wir beide inne und schauen in Richtung der Dämmerung. Eine Straßenbahn kommt um die Kurve gefahren, es ist die erste Straßenbahn dieses Tages. Ich schließe die Fenster. Mit dieser ersten Straßenbahn kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus und hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und rasch davonzufahren. Ich sollte morgens einmal auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen und warten, da nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen und der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt sein wird, und die Sitze und Lampen, und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen zehntausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper stürmen durch weichen, fliegenden Falterwald, ping, pong, ping. — stop
Aus der Wörtersammlung: straßenbahn
das auge der ezmer
himalaya : 0.01 — Ich habe Palmira zunächst nicht wirklich ernst genommen. Sie erzählte vor einigen Wochen, das linke Auge ihrer Tochter Ezmer würde sich seltsam verhalten, ich hörte kaum hin. Gestern dann habe ich Mutter und Tochter zufällig in einer Straßenbahn getroffen. Tatsächlich schien sich das linke Auge der kleinen Ezmer in Richtung des nahegelegenen Ohres in Bewegung gesetzt zu haben. Die Frage, ob sie Schmerzen empfinde, verneinte Ezmer, auch könne sie mit ihrem wandernden Auge weiterhin bestens sehen. Sie fragte mich: Wo will es denn hin? Woraufhin Ezmer’s Mutter Palmira bemerkte: Mach Dir keine Gedanken, Kleines, Dein Auge geht nur einen Augenblick lang spazieren. — stop
schläfer
bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr morgens am Zentralbahnhof in eine Straßenbahn steigt, wird bald bemerken, dass es sich bei diesen Straßenbahnen um Verkehrsmittel handelt, in welchen schlafende Menschen reisen. Mehrfach habe ich, zufälligen Himmelsrichtungen folgend, Expeditionen unternommen. Entweder ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber etwas schwebt in der Luft, das unwiderstehlich müde macht. Auch ich selbst schlafe beinahe sofort, wenn ich mich setze. Ich gehe also auf und ab, niemand bemerkt mich, auch der Fahrer der Straßenbahn scheint um diese Zeit fest zu schlafen. Einmal, kürzlich, waren ungewöhnlich viele Fahrgäste unterwegs. Ich konnte sie hören, leise Lebensäußerungen von der Art des Gesprächs, das wache Menschen miteinander führen, wenn sie sich schon lange nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schlafende Menschen im Vorüberkommen heimlich betrachte, Menschen, die ihre Augen mit etwas Haut zugedeckt haben, kann ich kaum glauben, dass sie jemals gefährlich sein könnten, böse mittels gesprochener oder geschriebener Worte, gewalttätig mit Fäusten, Messern, Pistolen. Ich meine, unter ihren schimmernden Lidhäutchen träumende Augen erkennen zu können, manchmal schnappen sie nach etwas Licht. — stop
anna ludmilla
norpol : 0.33 — Während ich aus dem Fenster schaue, höre ich einen Bericht, der vom Fernsehen gesendet wird. Ulyana M., das heißt die Stimme ihrer Übersetzerin, erzählt, sie habe mit ihrem Mann nahe Mariupol Zuflucht vor Granatbeschuss im Keller eines Nachbarn gesucht. Ein Mann, den sie von Ferne kannte, habe den Keller verlassen, um nach seinem Häuschen zu sehen. Er sei nicht zurückgekommen. Als der Beschuss aufgehört habe, seien sie zu ihrem Haus zurückgekehrt. Auf dem Weg fanden sie den Mann, der nach seinem Häuschen gesehen hatte. Er lag in seinem Garten ohne Kopf, sein Häuschen brannte. An dieser Stelle des Berichtes machte die Stimme, die ich hörte, eine kurze, seltsame Pause. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Stimme der originalen Erzählerin Ulyana M. eine Pause machte, aber die Übersetzerin macht eine Pause, ihre eigene Pause. Fünf Sekunden später fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie sagte, man habe nach dem Kopf des Mannes gesucht, man habe ihn gefunden und zurückgebracht zu dem Körper des Mannes, der in seinem Garten lag. – Früher Abend. Kastanienbäume tief unten stehen bereits in Flammen, Bahnsteige der Straßenbahnhaltestelle bedeckt von Stachelfrüchten, die nicht zerplatzen. Eichhörnchenschatten tragen sie nachts davon, obwohl noch Anfang September ist. Anna Ludmilla L.. Ich erinnere mich an Anna Ludmilla L., die in St. Petersburg geboren wurde. Sie lebt seit 15 Jahren in Deutschland, wollte Modell werden, heitatete, gebar eine Tochter und wurde geschieden. Seit Jahren arbeitet sie in der Poststelle eines Frankfurter Verlagshauses. M. erzählte, Anna zwinkere seit einigen Wochen, wenn man mit ihr spreche, mit einem Auge, eine flatternde Bewegung. Er habe sie einmal gefragt, wie es ihr gehe, wie ihrer Familie, ob sie Verwandte in der Ukraine habe. Sie habe sich über seine Frage vielleicht gefreut, er sei sich aber nicht sicher. — stop
frau blum
delta : 5.08 — In der Bibliothek entdeckte ich vor einiger Zeit einen Zettel. Der Zettel steckte in einem Buch, das ich entliehen hatte, um nach einer Geschichte zu suchen, die ich vielleicht schon einmal gelesen haben könnte vor vielen Jahren. Es war eine Geschichte, die von einem Gespräch erzählt, welches Frau Blum mit ihrem Milchmann führte, in dem sie dem Milchmann Botschaften sendete, ein Verhalten, das notwendig gewesen war, weil Frau Blum üblicherweise schlief, wenn der Milchmann frühmorgens das Haus besuchte, in dem sie wohnte. Diese Geschichte, ein wunderbares Stück, hat Peter Bichsel geschrieben, eine ganze Welt scheint in ihr enthalten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Seiten, dass man sie von einer Station zur nächsten Station in einer Straßenbahn reisend Wort für Wort zu Ende lesen könnte. Ich erinnere mich, das Buch lag weich in meiner Hand, es war etwas schmutzig, zerlesen, auf seiner Rückseite waren einige dutzend Stempelaufträge zu finden, so wie man das früher noch machte, Bücher mit Rückgabeterminen zu versehen, so dass jeder sehen konnte, wie oft das Buch bereits gelesen worden war. Dieses Buch, von dem ich gerade erzähle, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich stellte mir vor, dass das Bändchen vielleicht hinter eine der Bücherreihen gerutscht sein könnte, weswegen es lange Zeit nicht gefunden werden konnte. Vermutlich war das Buch längst verloren gemeldet, so dass ich ein Buchexemplar in Händen hielt, das in den Verzeichnissen der Bibliothek nicht länger existierte. Anderseits scheint es möglich zu sein, dass das Buch versteckt worden sein könnte. Vielleicht war es von genau jener Person versteckt worden, die den Zettel in das Buch gelegt hatte, eine Person, die möglicherweise bereits gestorben ist. Das alles ist natürlich reine Spekulation, allein die Existenz des Zettels ist sicher. Dort war in blauer, akkurater Schrift zu lesen: Wie man einen Vermerk schreibt, um sich an gelesene Geschichten erinnern zu können. – stop
stonington island
whiskey : 2.32 — Das Labor der Eisbücher, mit dem ich vor wenigen Minuten telefonierte, befindet sich seit zwölf Wochen auf Stonington Island, einer felsigen Gegend am nördlichen Rand des antarktischen Kontinents. Ich habe einen Text transferiert, der in diesen Minuten möglicherweise von feinsten Fräsen in Eisblätter eingetragen wird. Ich stelle mir vor, ein helles Geräusch ist zu vernehmen, in dem ein Roboter äußerst behutsam zu schreiben beginnt. Es geht darum, das Eisblatt nicht zu zerbrechen, das so dünn ist, dass man mit einer Taschenlampe hinter die Zeichen meines Textes leuchten könnte. Es ist kalt, der Wind pfeift um hölzerne Baracken, in welchen hunderte Schreibmaschinen bewegungslos warten, bis man sie anruft. Folgende Geschichte habe ich ins Telefon gesprochen: Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung waren zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
ping
sierra : 8.38 — Was, flüstert ein Junge in der Straßenbahn einem anderen Jungen zu, das weißt du nicht! Der angesprochene Junge, nachdenklich geworden, schweigt, während beide aus dem Fenster sehen. Kurz darauf antwortet er, gleichwohl flüsternd: Ich weiß etwas anderes! — stop
cloud
ulysses : 2.05 — Nehmen wir einmal an, es wäre tatsächlich Montag. Ein stürmischer Tag. Es regnet. Der Wind kommt von Westen her. Ich gehe nach links, ich gehe mit dem Regen, mit Wind im Rücken. Vielleicht habe ich die Maschine, die mich in meiner Abwesenheit besuchte, deshalb nicht gesehen. Sie muss über einen Schlüssel verfügen oder über besonderes Geschick. Sie arbeitete schnell, ich war kaum drei Stunden unterwegs. Ich war am Bahnhof, habe etwas Reis mit Huhn gegessen, spazierte am Fluss, viel buntes Laub, traf eine Freundin, die von einer Reise nach Darjeeling erzählte, von den hölzernen Zügen und vom Schnee, der so überraschend gefallen war, dass sie nach einer Nacht im Schlaf, vor einem Fenster stehend, ihren Augen nicht traute. Wie ich also nach Hause komme, sehe ich auf der Straße Bücher liegen, es waren hunderte Bücher, ein kleiner Berg im Vorgarten, auch in den Kronen der Bäume waren Bücher hängengeblieben. Die Wohnungstür war angelehnt, die Fenster im Arbeitszimmer geöffnet. Inmitten dieses Zimmers stand nun jene Maschine, deren Kommen ich nicht wahrgenommen hatte. Ein letztes Buch war in ihren Griff genommen, rasend schnell blätterte sie von einer Seite zur anderen, fotografierte jede der Seiten, und schleuderte das Buch schließlich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Fenster. Die Maschine summte leise. Sie verfügte über einen aufrechten Gang wie ein Mensch. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Ich schloss die Tür, auch meine wasserfesten Bücher im Bad waren verschwunden, Notizhefte, Zettelsammlung, alles verschwunden an diesem stürmischen Tag, der ein Montag ist. Es regnet. Und der Wind kommt von Westen her. Noch ist es dunkel, noch drei oder vier Stunden wird es dunkel sein. Gegen fünf Uhr werde ich die erste Straßenbahn hören, wie sie sich nähert, wie sie in eine Kurve fährt, ihr Pfeifen, und die Stimmen schläfriger Menschen. — stop
linie 16
romeo : 4.15 — Mit der ersten Fahrt der Straßenbahn morgens kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus, hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und schnell auf und davonzufahren. Ich sollte einmal morgens auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen. Wenn nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen wird, der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt, Sitze und Lampen und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen tausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper, Verirrte, stürmen durch den weichen, fliegenden Falterwald. Abends kommt man dann wieder zurück, steigt aus mit der letzten Fahrt, hellgraue Geister. Ende August. In Syrien, nahe Damaskus, sollen mehr als 1000 Menschen durch Giftgas getötet worden sein. — stop
sieben punkte
himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop