Aus der Wörtersammlung: zeit

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nebelkammer

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echo : 6.28 — Das Stimm­ge­räusch in mei­nem Kopf. Ob sich der Klang mei­ner den­ken­den Stim­me in der ver­strei­chen­den Lebens­zeit änder­te? Habe ich als Kind mit­tels der Stim­me eines Kin­des gedacht? Was ist das doch für eine kurio­se Bewe­gung, nicht mehr Stil­le, noch nicht Ton. Radar­bild, flüch­tig. — stop

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lichtschirm

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echo : 7.10 — Auf­be­wah­ren für alle Zeit. Ich hat­te die­sen Satz vor lan­ger Zeit in rus­si­scher Spra­che auf dem Umschlag der Auto­bio­gra­fie Lew Kope­lews ent­deckt. Ein Stem­pel, rote Far­be. Erzäh­lung vom Ver­schwin­den der Men­schen im Gulag­la­ger­sys­tem Sibi­ri­ens. In den ver­gan­ge­nen Tagen war mir die­ser Satz immer wie­der in den Sinn gekom­men. Und San Suu Kyi. Ihr zar­tes, ihr kaum geal­ter­tes Gesicht auf dem Bild­schirm, wie sle nach sie­ben Jah­ren zum ers­ten Mal unmit­tel­bar zu Men­schen spricht. Die Metho­de der Inhaf­tie­rung im eige­nen Haus, hin­ter dem Licht­schirm, hin­ter dem Sprech­schirm, eine Ver­su­chung des Erin­ne­rungs­ver­mö­gens. — stop

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moskitoeintagsfliegen

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ulys­ses : 5.24 — Bald ein­mal mensch­li­che Wesen von 20000 Jah­ren Lebens­er­war­tung gestal­ten, Hüter der Plu­to­ni­um­wer­ke, memo­rie­ren­de Beob­ach­ter, flüs­tern­de Spre­cher durch Räu­me der Zeit, die bis­her nicht vor­stell­bar sind, weil wir sie weder füh­len noch träu­men, weil unse­re Her­zen durch die Atom­zeit rasend schla­gen wie die Her­zen der Mos­ki­to­ein­tags­flie­gen. — stop
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take the “A” train — protokollfaden

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tan­go : 0.18 — Vor weni­gen Minu­ten ist etwas Erstaun­li­ches pas­siert. Ich habe das fei­ne Jazz­stück Take the “A” Train in der Inter­pre­ta­ti­on Dave Bru­becks und sei­nes Orches­ters gehört, und zwar in einem Zim­mer hier in Mit­tel­eu­ro­pa bei bes­ter Ton­qua­li­tät. Das sehr Beson­de­re an die­sem Ereig­nis ist gewe­sen, dass die Musik Dave Bru­becks zunächst in einem Städt­chen nahe der Stadt New York auf­ge­legt wor­den war, näm­lich in den Stu­di­os eines Jazz­sen­ders von mei­ner Zeit nur um Sekun­den­bruch­tei­le ent­fernt, sodass ich gern behaup­ten wür­de, dass zu der­sel­ben Zeit, da ich sie­ben­tau­send Kilo­me­ter weit ent­fernt west­wärts die ers­ten Geräu­sche des Orches­ters ver­neh­men konn­te, Dave Bru­beck im Stu­dio von einer digi­ta­len Ton­kon­ser­ve her zu spie­len begann. Unver­züg­lich saus­te das Stück in klei­ne Pake­te zer­legt und auf einen Pro­to­koll­fa­den gereiht im Daten­tun­nel unter dem Atlan­tik hin­durch zu mir hin, jedes ein­zel­ne Paket nur für mei­ne Com­pu­ter­ma­schi­ne und mich bestimmt, wo es rasend schnell zusam­men­ge­setzt und somit hör­bar wur­de. Das Wun­der der Musik. Das Wun­der ihrer Rei­se. Das Wun­der mei­ner Ohren, dass sie exis­tie­ren. — Kurz nach Mit­ter­nacht. Stür­mi­scher Wind pfeift ums Haus. — stop
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wörterstimmen

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kili­man­dscha­ro : 3.30 — Man stel­le sich ein­mal vor, man wach­te eines Tages auf und könn­te jedes Wort, das man von die­sem Moment des Erwa­chens an dach­te, erin­nern, all die Selbst­ge­sprä­che und for­schen­den Dis­kur­se, auch jene Gedan­ken, die man nie bemerk­te, weil sie so schnell vor­über­zie­hen, dass man sie ver­gisst, indem man sich schon in nächs­ten Gedan­ken befin­det. Nichts wür­de fort­an ver­lo­ren gehen. Auch alle jene Sät­ze nicht, die man hören wird, sobald man das Haus ver­lässt, Notiz­zet­tel, Ein­kaufs­lis­ten, Frag­men­te von Zei­le zu Zei­le fal­len­der Anzei­ge­ta­feln auf Flug­hä­fen, Zei­tungs­ar­ti­kel, Film­dia­lo­ge, alles das wür­de gespei­chert und könn­te zu jeder Zeit in genau der Rei­hen­fol­ge wie­der­holt wer­den, in der es von Wör­ter­stim­men auf­ge­zeich­net wur­de. Was wür­de gesche­hen? Wie lan­ge Zeit könn­te man mit die­sem Ver­mö­gen aus­ge­stat­tet über­le­ben? — stop

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time

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char­lie : 2.01 — Selt­sa­me Stun­de. Noch bevor es 3 wer­den kann, springt die Uhr auf 2 zurück. Die hei­te­re Vor­stel­lung, das wür­de sich geräusch­los genau so fort­set­zen. Es wür­de nicht hell wer­den. Nie­mand im Haus wür­de erwa­chen. Ich könn­te rasch ein­mal, ehe die Zeit nach fünf Jah­ren gegen 4 Uhr zu wei­ter­fah­ren wird, die ara­bi­sche Spra­che erler­nen. — stop

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nabous zunge

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echo : 5.12 — Nabou*, ja, Nabou, Frau aus dem Süden, wie sie nachts vor einer Tas­se Kaf­fee am Flug­ha­fen in groß­zü­gi­gen Sprün­gen durch die Zeit erzählt. Das Bar­fuß­mäd­chen Nabou, für Minu­ten ist sie wie­der zum Flücht­lings­kind gewor­den, erin­nert, fins­te­res Gesicht, einen suda­ne­si­schen Herr­scher, jenen Herrn, der Bars einer Stadt räu­men und den Alko­hol in den Nil schüt­ten ließ. In der sel­ben Stadt, nur weni­ge Stun­den spä­ter, wur­den im Namen des sel­ben Man­nes, Hän­de von Armen geschla­gen für dies oder das zur Stra­fe. Das Feu­er in den Augen der Erzäh­le­rin, wie sie berich­tet von einer Zeit, da mus­li­mi­sche und christ­li­che Kin­der noch gemein­sam die Schu­le besuch­ten und hei­ra­te­ten kreuz und quer. Undenk­bar heu­te, undenk­bar, raschelt Nabou mit ihrer selt­sam rau­en Stim­me, alle Men­schen, wo auch immer, rücken nach rechts. Dann die­ser ver­damm­te Abend als Nabou eine bos­ni­sche Freun­din besucht. Man sitzt mit Fami­lie in Mit­tel­eu­ro­pa um einen Tisch, es ist kurz vor Weih­nach­ten. Die Atta­cke auf den christ­li­chen Glau­ben kommt ohne Vor­be­rei­tung wäh­rend der Nach­spei­se. Als Nabou sich als Chris­tin zu erken­nen gibt, das Stau­nen der Freun­din: Aber Ihr habt doch ein Glas Was­ser neben der Schüs­sel im Bad, und Du, Nabou, sprichst die ara­bi­sche Spra­che! Wie von die­sem Moment an das Gespräch zu Ende war. Ver­kno­te­te Zun­gen, sagt Nabou, nach all den trau­ten Jah­ren, ver­kno­te­te Zungen.

* Name geändert
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minutenzeit

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india : 15.05 — Ver­su­che, die Zeit vor­zu­stel­len, das heißt, die Zeit einer Minu­te zu mes­sen oder zu füh­len oder zu den­ken, ohne eine Uhr zu Hil­fe zu neh­men. Das ist natür­lich nicht ganz rich­tig for­mu­liert, weil ich die Genau­ig­keit mei­ner geis­ti­gen Mes­sung prü­fe, in dem ich nach Ablauf einer Minu­te, einer vor­ge­stell­ten Minu­te, die tat­säch­lich ver­stri­che­ne Zeit vom Zif­fer­blatt einer klei­nen Stopp­uhr lese, die ich in dem Moment mit einer Hand­be­we­gung in Gang set­ze, da ich den­ke, jetzt, genau jetzt ist die Zeit einer Minu­te ange­bro­chen. Nein, ich zäh­le nie bis sech­zig, auch nicht bis drei­ßig! Und die Arbeit der Uhr, die in mei­ner Hand der Minu­ten­zeit eine gül­ti­ge Gestalt ver­leiht, ist nicht zu spü­ren, nicht zu hören. Ich habe fest­ge­stellt, dass die Minu­ten­zeit des Mor­gens kür­zer ist als die Minu­ten­zeit des Abends an der­sel­ben Stel­le. Selt­sa­me Geschich­te! — stop

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schlafhauszeit

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sier­ra : 20.21 — Ein­mal nach einer Metho­de suchen, für einen Men­schen, das heißt, anstel­le eines ande­ren Men­schen, schla­fen zu kön­nen. Man wür­de fort­an Traum­zeit ran­gie­ren, man wür­de sagen, heu­te und mor­gen, wäh­rend Du arbei­test, um fer­tig wer­den zu kön­nen mit Dei­ner Arbeit, weil Du fer­tig wer­den, sofort fer­tig wer­den musst, lege ich mich auf mein Sofa und schla­fe vier­und­zwan­zig Stun­den für Dich und mich. Und kom­men­de Woche dann, wenn ich nach Finn­land rei­sen wer­de, wo’s im Som­mer nie­mals dun­kel wird, schläfst Du Tage oder Wochen anstatt mei­ner, weil im Herbst tod­si­cher wie­der viel wil­de Arbeit über Dich her­fal­len wird. Viel­leicht soll­ten ein­mal Schlä­fer exis­tie­ren, Men­schen, die schla­fen, das könn­te sein, Men­schen, die vor­nehm­lich schla­fen, um sich ernäh­ren zu kön­nen, sobald sie für kur­ze Zeit wach gewor­den sind, Schlaf­sä­le viel­leicht, oder Schlaf­wa­ben für Schlä­fer, wohl­tem­pe­rier­te Träum­er­ge­häu­se. Wie könn­te geschla­fe­ne Zeit, die Wir­kung die­ser Zeit, gespei­chert und von Kopf zu Kopf geschrie­ben sein? — stop

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natalie sarraute

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echo : 22.55 — Wäh­rend ich einen Text über Hän­de und Fin­ger notier­te, beob­ach­te­te ich mei­ne eige­nen, arbei­ten­den Hän­de und Fin­ger, wie sie die Tas­ta­tur der Maschi­ne bedien­ten, ohne dass ich ihnen bewusst Anwei­sung erteil­te. Ein­mal konn­te ich nicht wei­ter, des­halb mach­te ich eine klei­ne Pau­se und betrach­te­te zunächst mei­ne lin­ke, dann mei­ne rech­te Hand. Sie ruh­ten Sei­te an Sei­te auf der Tas­ta­tur der Maschi­ne und war­te­ten. Sie war­te­ten dar­auf, dass eine Stim­me in mei­nem Kopf dik­tie­ren wür­de, was auf­zu­schrei­ben ist. Ich könn­te jetzt viel­leicht sagen, dass mei­ne Hän­de dar­auf war­te­ten, mein Gedächt­nis ent­las­ten zu dür­fen, weil ich alle Sät­ze, die ich mit mei­nen Hän­den in die Tas­ta­tur der Maschi­ne schrei­be, nie ler­nen, nie spei­chern muss, weil ich bereits vor der Nie­der­schrift weiß, dass ich bald wie­der­kom­men und lesen könn­te, was ich notie­re und notier­te. Ich betrach­te­te also mei­ne Hän­de, und weil ich sehr lan­ge Zeit nicht wei­ter­wuss­te in mei­nem Text, habe ich in Natha­lie Sar­rau­tes wun­der­ba­rem Buch Kind­heit gele­sen. Nach einer Stun­de schal­te­te sich mein Com­pu­ter aus und ich konn­te auf dem Bild­schirm fol­gen­de Zei­le lesen: no signal. going to sleep. — stop



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