delta : 10.10 — Wie lange Zeit bereits verfüge ich über Augen? Wann präzise ist die Wahrnehmung des Lichts für mich möglich geworden? — stop
Aus der Wörtersammlung: zeit
manhattan : eine frau verschwindet und kehrt wieder
nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop
man on wire
nordpol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Philippe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem windigen Tag heimlich zwischen den Türmen des Worldtrade Centers gespannt worden war, mit Balancierstange in Händen auf den Rücken legt. Keine Filmaufnahmen existieren von jenem Moment aus nächster Nähe, aber Fotografien, die im Wissen des Windes und der Tiefe einen dehnenden, einen zerrenden Schmerz in meinem Körper erzeugen. Der Seiltänzer wurde festgenommen und einem Psychiater vorgeführt. stop. Schnee in Zeitlupe. stop. Ruhe. stop. Der Luftraum, in dem sich Philippe Petit bewegte, existiert weiter fort. — stop
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
lufteisschrift
romeo : 2.18 — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Guten Morgen. Heute ist Mittwoch. — stop
traumspurräume
marimba : 1.01 — Von Passwörtern geschützte Netzwerkräume, die ich frühmorgens mit der Straßenbahn durchreiste: empore88 mailterminal hotspotcentral cgoffice milanomilano floorNOtwo 3localseven mobileeleven elysium gekko8. So zeitig war’s gewesen, dass ich dachte, diese feinen Namen könnten Traumspuren schlafender Menschen codieren. Mit welcher Zeichenfolge würde ich meine eigene Traumsphäre verhüllen? stop. — Das Notieren wieder im Stehen, weil das Stehen sich in der Nähe des Gehens befindet, das Sitzen aber in der Nähe des Liegens, also des Schlafens. Ist das Schreiben vielleicht eine Arbeit des Fangens, eine Arbeit des Jagens, des Zerlegens, dann des Vernähens? stop — Können Regenkäfer hören?
karusellfahrt
zoulou : 6.12 — Seit Jahren bereits wünsch ich mir ein besonderes Buch, eines, das meine Gedanken verzeichnen würde, sobald ich spazieren gehe. Handlich müsst es sein und leicht und geräuschlos schreiben. Vielleicht wäre es möglich, diese kleine Gedankenschreibmaschine so zu programmieren, dass sie jene Gedanken, die neue Gedanken sind, zu unterscheiden vermag von allen weiteren Gedanken, von Gedanken, die sich wieder und wieder denken wollen, von kreisenden Gedanken, von Karussellfahrtgedanken. Derart ausgestattet, würde die Notizmaschine ein Verzeichnis anlegen einerseits für die Versammlung neuester, sagen wir, ursprünglicher Gedanken, und bald ein zweites Verzeichnis, in dem Gedanken und ihre Wiederholung archiviert sein würden. Eine höchst interessante Affäre, zu beobachten, wie sich das Wachstum, das Größenverhältnis der Verzeichnisse zu einander benehmen würde in der vergehenden Zeit. — stop
hydra
nordpol : 17.58 — Hörte im Radio vor wenigen Minuten eine merkwürdige Geschichte. Man erzählte, durch New Jersey sollen seit Wochen Vorortzüge mit Abteilen von Stille in Richtung Manhattan fahren: Telefone und Spieldosen jeder Art verboten. Das könnte Gerücht, Erfindung, von Wünschen geträumt gewesen sein. Mit eigenen Augen dagegen habe ich beobachtet, wie im Supermarkt gleich um die Ecke, Zwergkakteen Mützen von rotem Stoff aufgesetzt worden sind. Bärte rauschen, weiße Bärte, mittels Nadeln sind sie an den Leib der Pflanzen genagelt. Auch dass es regnet, hier in meiner nächsten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachstum einer weiteren elektrischen Hydra im Prozess der Selbstbehauptung. Gestern Abend, mitteleuropäische Zeit, verfügte sie über 208, kurz nach Mitternacht über 355 und weitere 12 Stunden später über 507 einander gleichende Köpfe. — Da war noch dieser alte Mann auf einem Basar zu Marrakesch. Wie er vor einer 40 Jahre alten Schreibmaschine sitzt und Liebesbriefe notiert gegen eine kleine Gebühr für Menschen, die nie gelernt haben, zu schreiben, zu lesen. — stop
tuttle
echo : 20.08 — Besuch von Mr. Tuttle zur unmöglichsten Zeit gegen 10 Uhr vormittags. Saß, müde Augen, vor dem Bildschirm und hörte, wie der Monteur mit Pumpenmaschinen, Schraubenschlüsseln, Rohrzangen an meinen Wasserleitungen in der Küche hantierte. Das waren Geräusche eines Kampfes, nicht Geräusche einer Rekonstruktion, Bohrungen wurden ins Erdinnere vorangetrieben, Wände zu benachbarten Wohnungen eingerissen, hartes Wasser strahlte Bilderrahmen in alle Winde. Einmal kam Mr. Tuttle in das Zimmer, in dem ich das Ende seines Besuches erwartete. Zaghaftes Klopfen, seine erstaunlich helle Stimme, ob er mich sprechen könne, stand bald neben meinen Papieren, mit erhitztem Gesicht, staubig, ein Hüne, er müsse jetzt an die Heizung. Dann wieder Hiebe von sonorem Klang, überlegte, was in meiner nächsten Nähe geschah, welche Arbeit präzise die Erschütterung meiner Schreibmaschine, meiner ganzen Person bewirken könnte. Ein Löschzug passierte die Straße vor dem Fenster. Vom Dach des Hauses gegenüber stürzte ein Schneebrett in die Tiefe. Irgendetwas flatterte pfeifend um meinen Kopf herum. Ein Punkt verharrte über der Bodenlinie. — stop
time
foxtrott : 0.28 — Merkwürdig, die Wahrnehmung der Zeit. Wenn ich keine Zeit habe, kann ich die vergehende Zeit nicht bemerken, weil ich mich so schnell bewegen muss von einem Ort zum anderen, von Gespräch zu Gespräch, von Aufgabe zu Aufgabe, dass ich etwas später vielleicht meinen möchte, ich hätte nicht existiert. Auch dann, wenn ich trauere, habe ich keine Zeit, sagen wir, keine wirkliche Zeit, weil ich aus meinem üblichen Leben heraus gefallen bin. Ich stehe zum Beispiel in einer U‑Bahn und unterhalte mich, ich lache, ich stelle Fragen, und doch bin ich an einem ganz anderen Ort, spreche mit der Vergangenheit, vielleicht mit einem Menschen, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wieder berühren werde, von dem ich hoffe, dass er noch irgendetwas zu hören vermag, indem ich mich zu ihm sprechend an ihn erinnere. Ich verweile also in dieser seltsamen Zeit der Vergangenheit, einer suchenden Zeit, die deshalb zeitlos ist, weil sie sich wiederholen will, weil sie keinen Fortgang kennt. Manchmal sitze ich in einem Café, einer Bibliothek, im Zug, im Kino oder einem Theater herum, ich schau auf die Uhr. Ich sage: Beweg Dich! — stop