sierra : 16.52 — Bei der Behörde für Wortverwertung meldete sich am Telefon eine weibliche Stimme. Die Stimme sprach so leise, dass ich zunächst glaubte, in mein Telefongerät hineinrufen zu müssen, um die Stimme auf der anderen Seite der Leitung erreichen zu können. Worum es denn gehe, wollte man wissen. Ich antwortete, dass es darum gehen würde, dass ich im Moment versuchte zu verstehen, wo genau ich jene kleinen Zählprogrammmaschinen in meine Texte einzubauen habe, damit sie von Ihnen, von der Wortverwertungsbehörde, mit der ich gerade spreche, wahrgenommen und als gültig bewertet werden könnten. Ein Gespräch entwickelte sich. Das Gespräch dauerte fünf Minuten. Im Verlaufe dieses Gespräches wurde meine Stimme leiser und leiser, die Stimme auf der anderen Seite der Leitung lauter und lauter. Jetzt, da das Gespräch oder die Unterhaltung zu einem Ende gekommen ist, meine ich Folgendes verstanden zu haben: Wenn ich einen Text notiere, der eine Gedankenbewegung nachvollzieht, darf diese Gedankenbewegung nicht unterbrochen sein, also plötzlich das Thema wechseln oder den Eindruck vermitteln, als würde ein Teil der Denkbewegung fehlen, also eine durch Entfernung eines Textabschnittes künstliche Unterbrechung erfolgt sein, weswegen es sich nicht mehr um einen Text, also um einen Gedanken handeln würde, sondern um einen zweiten Text, also um einen zweiten Gedanken, der mit ersterem Gedanken in keiner Verbindung stehen würde, weshalb dieser zweite Text eine weitere, eine zweite Zählprogrammmaschine in Form eines Codes benötigen würde, um als eine Einheit wahrgenommen zu werden. Des Weiteren ist mir deutlich geworden, dass ein Gedanke nicht begleitet sein darf, von weiteren Gedanken, die an etwas anderes denken, während sich der erste Gedanke im Hintergrund weiterbewegt, um anderer Stelle wieder hervorzukommen. Ich habe nun zunächst einen kleinen Knoten im Kopf. Fünf Gramm. — stop
brooklyn
schneefliegen
nordpol : 1.15 — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden sind, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Erwärmung menschlicher Existenz. — stop
dampfende ohren
alpha : 6.55 — Ich forsche gern in meinem digitalen Analyseprogramm nach Fragen an Suchmaschinen, die zu meiner Particlesarbeit führten. Merkwürdige, verrückte, poetische Sentenzen sind zu finden. In der vergangenen Woche zum Beispiel folgende: meine schreibmaschine schreibt buchstaben übereinander . kleine rote fliegen in der küche . käfer der auf unserem körper wohnt . lustige geschichten über ohren . ägyptisches frauzeichen mit flügeln . schimpansen im weltall . schlafende elefanten . männer mit kleinen köpfen . ist albert sanchez pinol ein mann . louis’ lichtgeschichte. stop — Über Nacht ist es kalt geworden. An der Straßenbahnhaltestelle beobachte ich einen älteren Herrn, aus dessen Ohren Dampf zu treten scheint. Man könnte sagen, es handelt sich um den ersten rauchenden Kopf, den ich in meinem Leben persönlich gesehen habe. Als ich näher herantrete, erkenne ich, dass sich in den Ohren des dampfenden Herrn je ein Tier befand. Ich fragte, ob ich vielleicht einmal genauer betrachten dürfte, was dort in seinen Ohren existiert. Weil der alte Mann nichts hörte, trug ich mein Anliegen in Zeichensprache vor. Er schien mich zu verstehen und neigte unverzüglich seinen Kopf, sodass ich eine gute Aussicht hatte auf das rechte seiner Ohren. Tatsächlich waren dort Augen und Zangen eines Käfers zu erkennen. Als ich mich näherte, zog sich das Wesen ein wenig in die Tiefe des Ohres zurück, das von weißem flaumigen Haar besetzt war, wie von einem kostbaren Pelz. Der dünne Faden des Käferatems, den ich kurz zuvor beobachtet hatte, war nun gut zu sehen, aber ich konnte nicht eindeutig identifizieren, woher der Atem des Käfers eigentlich kam, wo der Atem, der in der kalten Luft kondensierte, den Käferkörper präzise verließ. Noch ehe ich meine Frage zur Konstruktion des Käfers stellen konnte, war der alte Herr in eine Straßenbahn gestiegen und davongefahren. — Dienstag. — stop.
dos passos’ lesebrille
delta : 22.01 — In dem Moment, da ich beim Augenoptiker meinen Wunsch nach einer Lesebrille vorgetragen hatte, war ich etwas verlegen gewesen, als ob ich plötzlich uralt geworden sei und etwas an Bedeutung verloren hätte. Ich sagte nun zu dem Mann, der hinter dem Tresen stand: Hören Sie, ich benötige eigentlich noch keine Brille. Ich sehe, glaube ich, noch gut nach nah und fern. Aber ich möchte gerne dieses Buch hier lesen. Ich legte John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer auf den Tresen ab, genauer gesagt, Dos Passos’ Roman in der deutschen Taschenbuchausgabe des Rowohlt Verlages, ein Buch, dem sofort anzusehen ist, dass man Papier sparen wollte, eine ehrenwerte Handlung, um Urwälder vor der Vernichtung zu bewahren, das ist denkbar. Man kann sich das so vorstellen: Die Zeichen, die im Körper des Buches zu finden sind, sind äußerst klein geraten, alle Zeilen liegen dicht zueinander und spannen sich tatsächlich fast vollständig vom linken bis zum rechten Rand der Seite. Es ist ein dicht bedrucktes Buch, eine beinahe dunkle Erscheinung. Können Sie mir eventuell mit einer passenden Brille weiterhelfen, fragte ich den Optiker vorsichtig. Wissen Sie, wie ich bereits erwähnte, ich benötige eigentlich noch keine Brille! Der Optiker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öffnete es, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite des Romans und lächelte, ich sollte ihm folgen. Im Magazin, – es war ein großes, erhebliches, ja ein bedeutendes Warenlager -, führte er mich Schubladenwände entlang, die bis unter die Decke reichten, es roch sehr gut, etwas nach Alkohol und etwas nach feinen Motorölen. Nach einer Weile blieb er stehen und deutete auf eine der Schubladen. Dort stand, gleichwohl in sehr kleiner Schrift geschrieben: Dos Passos / Manhattan Transfer. Wie er nun die Schublade öffnete, lagen dicht an dicht einige schöne Lesebrillen in verschiedenen Farben und Größen und Formen. Über Dos Passos’ Brillenschublade war ein Fach mit der Beschriftung: Samuel Beckett / Gesammelte Romane zu erkennen. Gleich rechts davon lagerten Ulysses’ Brillen. – stop
frequenz
aleppo / gaza stadt / sderot
nordpol: 6.05 — Die feindselige Weisheit alter Männer, die den Unfrieden beschirmen, Götter, Moneten, Stolz, Macht. Kindergenerationen in Wohnhäusern, in Erdlöchern, in Bunkern, die Höhlenzelte bauen. Sie haben, noch ehe sie zu schreiben lernen, Kinderfeinde, die gleichfalls nicht schreiben können, die sie töten wollen. Etwas weiter, drei oder vier Flugstunden südwärts, existieren kleine Wesen von dunkler Haut, die im Geheimen so leicht geworden sind, dass jeder kräftige Wind sie mit sich in die Wüste tragen könnte. Nahe Aleppo das schneeweiße Gesicht eines Mädchens, das nie wieder schlafen wird. — stop
depesche aus neuseeland
ulysses: 6.58 — Vielleicht liegt die Fotografie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flughafen mit ihrem Handy von mir machte, soeben in Neuseeland auf einem Holztisch in der Küche ihres Hauses, dunkelgrüne Weiden, Schafe vor den Fenstern. Ja, vielleicht, das ist denkbar. Sicher ist, dass diese Aufnahme tatsächlich gemacht wurde, und dass ich auf ihr vermutlich etwas unruhig wirken könnte, weil ich Rahel so viele Jahre nicht gesehen hatte, wie sie plötzlich vor mir sitzt, ein Geist sozusagen, ich glaubte, sie sei längst gestorben. Man hatte mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plausibel, so wie Rahel lebte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde war sie in dem Moment der Nachricht ihres Ablebens nach Jahren vollkommener Abwesenheit, wieder zu einer Anwesenden geworden, eine Tote nun mit einem Status. Jahre war sie ein Nichts gewesen, weder da noch dort, eine Leere. Und plötzlich saß sie in meiner Gegenwart im Zug und nannte mich beim Namen. Sie wunderte sich, sie fragte: Warum siehst Du mich so seltsam an? Ich antwortete, dass ich überrascht sei. Liebe Rahel, sagte ich, ich kann noch nicht glauben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigentlich hören zu können. Leider war kaum Zeit für ein Gespräch gewesen, ehe Rahel aus dem Zug stürmen würde, um das Nachtflugzeug nach Singapur noch zu erreichen. In dieser Zeit, die nur Minuten dauerte, erzählte sie, dass sie damals, vor vielen Jahren, nach Neuseeland gereist und dort geblieben sei. Sie habe Europa beinahe vergessen, sie sei nur deshalb zurückgekommen, weil ihre Mutter gestorben war. Stolz erwähnte sie, dass sie zwei Töchter habe, und ich stelle mir nun vor, wie sie vielleicht in diesem Moment, da ich meinen Text notiere, jene Fotografie gemeinsam betrachten, die auf dem hölzernen Tisch der Küche in Neuseeland liegt, ausgedruckt in schwarzer und weißer Farbe, das Gesicht eines Mannes, der staunt, der im Grunde glaubt, zu träumen. Gestern war dieses Bild zu mir gekommen, durch Luft, sagen wir, Signale. Ich hörte, wie mein Telefon ein Geräusch machte, als die Fotografie vollständig eingetroffen war. Unter dem Bild war eine kleine Notiz zu finden. Rahel schrieb: Lieber Louis, ich freu mich sehr, Dich gesehen zu haben. Ich glaubte, Du wärest nicht mehr unter uns. Melde mich wieder. r. – stop
valletta
zwei kleine köpfe
echo : 0.15 — Im Traum beobachtete ich mich selbst in einem Präpariersaal, wie ich Haut und Knochen und Muskelteile aus einem Behälter nahm, um sie wieder zu einem Körper zu fügen, zu einem Zusammenhang, der an einen gewesenen Menschen erinnern könnte. Ich hörte, wie ich mit mir schimpfte, weil ich nicht nähen konnte, was ich mir wünschte, eine groteske Gestalt mit zwei kleinen Köpfen lag auf dem Tisch, eine Hand, es war die linke, fehlte, und Füße waren überhaupt nicht vorhanden, dafür hatte ich eine Kniescheibe zu viel. Es war doch ein beunruhigender Anblick, ich selbst und dieser kleine Mann, ein Präparator, der sich neben mich setzte. Er betrachtete meine flinken Hände, manchmal sah ich ihn fragend an. Einmal bemerkte er mit sanfter, gütiger Stimme, ich würde nun schon sehr lange Zeit hier sitzen, zweihundert Jahre, ich sollte doch endlich einmal schlafen. — stop