echo : 1.22 — Einmal, vor etwa 10 Jahren gegen sechs Uhr am Abend, rief ich bei Lions Writers Support Services an. Guten Tag, sagte ich, ich benötige dringend einen Capote zum Spazieren am kommenden Samstag. Haben Sie vielleicht einen für mich frei, den Sie mir leihen könnten von 3 Uhr am Nachmittag bis in die Nacht irgendwann? Das Fräulein am anderen Ende der Leitung antwortete: Einen Capote? Bitte warten Sie einen Moment. Also wartete ich. Ich wartete ungefähr fünf Minuten, hörte, wie sie mit irgendwelchen Leuten diskutierte. Ich glaube, sie bedeckte, während sie sprach, mit einer Hand die Mikrofonmuschel ihres Telefonhörers zu. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück: Ja, sagte sie, wir haben einen Capote frei am kommenden Samstag. Wo wollen sie ihn treffen? Ich antwortete, dass ich unbedingt am Strand von Coney Island spazieren müsse, Treibgut sammeln, Sturmzeichen notieren, das Meer betrachten, mit Truman über das Wasser sprechen, über digitale Schreibmaschinen, Funkbücher und alle diese Dinge. Treffpunkt also Brighton Beach Avenue Ecke 3th Street! Wird gemacht, bestätigte das Fräulein, Sie wissen schon, Capotes sind nicht ganz billig? Oh, ja, sagte ich, das will ich gerne glauben. Wie viel, fragte ich, was habe ich zu erwarten? — 150 Dollar die Stunde, antwortete das Fräulein. Sie machte eine kurze Pause, um bald hinzuzusetzen, dass sie etwas weniger berechnen würde, weil jener Capote, der für mich reserviert war, bereits für eine Freitagsparty gebucht worden sei. Er wird nicht ganz frisch am Samstag vor Ihnen erscheinen, sagen wir 120 Dollar, wäre das in Ordnung? — Aber natürlich wäre das in Ordnung, ich jubilierte, ein verkaterter Capote, eventuell leicht betrunken, wundervoll! Ich quittierte 1200 Dollar für zehn Stunden und notierte: Spaziergespräch mit Truman Capote. Samstag 18. Mai, 15 Uhr. Das war also vor bald 10 Jahren gewesen. Minuten später wurde mir per Kurier eine Gebrauchsanweisung für Herrn Truman Capote übermittelt. Ein Handbuch. 15 Seiten. — In einem Hauseingang auf einer Bank in der Nähe des Hafens der Stadt Mariupol soll eine alte Frau drei Wochen lang gewartet haben. Sie war von einem Splitter in den Bauch getroffen worden und starb vermutlich langsam in irgendeiner Nacht des frühen März. — stop
von nashornkäfern
india : 3.25 — Gestern, am späten Abend, habe ich wieder einmal den Versuch unternommen, das Wort Streichholz so lange wie möglich in meinem Kopf hin und her zu bewegen, ohne indessen ein weiteres Wort zu denken. Kurz darauf habe ich meinen Versuch wiederholt, in dem ich das Wort Streichholz durch das Wort Nashornkäfer ersetzte, ebensolches eine Zehntelstunde später durch das Wort Coleporter, welches selbst kurz vor Mitternacht im Wortloop der Hibiskusblüte endete. Vorgestern noch hatte ich eine ähnliche Nachtübung durchgeführt. Wörter waren folgende gewesen: Samshepard, Hummervogel, Tictacto, Leporello. Ich stelle fest: Die lang anhaltende Wiederholung des Wortes Leporello bewirkt noch immer einerseits ein deutliches Gefühl von Hitze, anderseits eine Ahnung der Farbe Gelborange, ohne dass diese Farbe selbst vor meinem inneren Auge sichtbar werden würde. — Ein ukrainischer Soldat soll einer Journalistin erzählt haben, dass in der Nähe einer Front im Niemandsland eine Herde verlassener Kühe weidete. „Sie wanderten ständig. So wussten wir, dass das Gebiet nicht vermint war. Wir dachten vielleicht sogar daran, uns als Kühe zu verkleiden, um die Russen anzugreifen. Trojanische Kühe. Aber dann haben die Russen die Herde erschossen.” — stop
nahe mariupol
frau mit löffel
india : 5.28 — Einmal machte ich einen Ausflug zu einer Tante, die seit über zehn Jahren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außerdem nicht mehr denken kann. Der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit anderen alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. Sie schliefen einerseits, andere betrachteten mich interessiert, so wie man Vögel betrachtet oder Blumen. Es ist schon seltsam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzählen in der Hoffnung, die Geschichte würde jenseits der Stille vielleicht doch noch Gehör finden. Ich erzählte meiner Tante von einer Wanderung, die ich unlängst in den Bergen unternommen hatte, und dass ich auf einer Bank in eintausend Meter Höhe ein Telefonbuch der Stadt Chicago gefunden habe, das noch lesbar gewesen war und wie ich den Eindruck hatte, dass ich aus den Wäldern heraus beobachtet würde. Ich erzählte von Leberblümchen und vom glasklaren Wasser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knisterte. Dohlen waren in der Luft, wundervolle Wolkenmalerei am Himmel, Salamander schaukelten über den schmalen Fußweg, der aufwärts führte. So erzählte ich, und während ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schlafen oder zuzuhören, wie immer, wenn ich sie besuche. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegenüber wartete eine andere alte Frau, sie trug weißes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Vor ihr stand ein Teller mit Erbsen. Die alte Frau hielt einen Löffel in der Hand. Dieser Löffel schwebte während der langen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zentimeter hoch in der Luft über ihrem Teller. In dieser Haltung schlief die alte Frau oder lauschte. — Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol zahlreiche Menschen hohen Alters leblos in ihren Wohnungen entdeckt. Sie bewohnten insbesondere höhere Etagen. Die Aufzüge waren defekt. — stop
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen sollen. — stop
eine vernünftige schreibmaschine
echo : 0.08 UTC — Eine Schreibmaschine, die jedes Zeichen, das ich notiere, im Moment der Speicherung in eine Hieroglyphe verwandelt, so dass ich schreibe einerseits, also einen Text speichere, anderseits nicht sofort wiederholend lesen kann, was ich für mich oder andere aufgehoben habe. Schreiben. Denken. Auf dem Wasser laufen. Nicht immer oder nicht länger scheint folgender Satz gültig zu sein: Eine vernünftige, das heißt, eine gute Schreibmaschine, ist mit dem Internet niemals verbunden. 2 Schreibmaschinen sind denkbar. Eine der Schreibmaschinen sollte mit der digitalen Sphäre verbunden sein. Die Zweite der Schreibmaschinen ist von der digitalen Sphäre vollständig zu trennen. Auch sind zwei Zimmer denkbar, das eine Zimmer ist ein Zimmer von blauem Licht. In dem Zimmer nebenan lagern in Regalen Papiere, die nicht nur von Hand zu beschreiben sind. — Das Fernsehen zeigte heute einen Sternenhimmel, hunderttausende leuchtende Perforationen des Daches einer Flugzeugwartungshalle, verursacht durch Splitter einer Bombe. In der Halle lagen Körper von Menschen herum, die sich nicht bewegten. — stop
wortfindung : wirklichkeitsdokument
olimambo : 10.22 UTC – Das seltsame Wort Wirklichkeitsdokument, plötzlich anwesend, ein Wort, das an diesem heutigen Tag, einem Mittwoch, am frühen Vormittag in den Archiven der Google — Suchmaschine noch nicht zu finden gewesen ist. — Im Radio wird erzählt, dass in einem höhergelegenen Stockwerk eines Wohngebäudes in der Stadt Mariupol in Meeresnähe eine brennende Frau hohen Alters in einem Sessel sitzend beobachtet worden sein soll. — stop
krimlinie
nordpol : 15.12 UTC — In den vergangenen Tagen lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Asowregiment . aufpilzen . Bajonettmesser . Bellingcat . Berdyansk . Beschüsse . Clonodin . Doscht . Drohnenvogelschwarm . Elefantenmodellbauer . Evakuierungsgebiet . Evakuierungszonen . Ferghana . Funkmessfühler . Funkkommunikationsmodule . Gefechtsfeldbeleuchtung . Gefiederkarten . Halabuda . Hostomel. Krimlinie . Kirsjusha . Loznitsa . Lwiw . Marineinfanteriebrigade . Marineinfanterieeinheiten . Marineinfanterietruppen . Mariupolis . Mariupolstories . Maschinengewehrgeschosse . Maschinengewehrschüsse . Melitopol . Mobilfunkturm . Notfallkoordination . Panzerglaschiffe . prorussisch . Peskow . Putin-Versteher . Quinoa . Rachmaninow . Radarlesegerät . Radikalisierungsmaschinen. — stop
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : ““Am 11. April durchsuchte die Polizei die Wohnung von Aleksandra Skochilenko, nahm sie fest und verhörte sie bis 3 Uhr des 12. April. Am 13. April verhängte das Bezirksgericht Vasileostrovsky in Sankt Petersburg Untersuchungshaft bis zum 1. Juni 2022 gegen sie. Es ist wahrscheinlich, dass die Untersuchungshaft verlängert wird. / Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie, einer genetischen Glutenintoleranz. Wenn sie glutenhaltige Nahrung zu sich nimmt, kann das den Beginn eines Organversagens, Krebs oder Autoimmunerkrankungen verursachen. Amnesty International hat erfahren, dass Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshafteinrichtung keine glutenfreien Nahrungsmittel erhält und ihrer Familie nicht gestattet wird, ihr diese zu schicken. / Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert. / Am 20. April hieß es, dass sich Aleksandra Skochilenkos Gesundheitszustand durch das Fehlen glutenfreier Nahrungsmittel verschlechtert habe. Am 21. April teilte ihr Rechtsbeistand Amnesty International mit, dass die Haftanstalt ihr schließlich erlaubt habe, ein Lebensmittelpaket ihrer Familie zu erhalten, das ihrer glutenfreien Ernährung entsprach./ Am 23. April wurde sie von einer provisorischen Haftanstalt in ein Untersuchungsgefängnis gebracht./ Nach einem Besuch bei Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshaftanstalt am 25. April berichtete einer der Rechtsbeistände, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie kann nichts essen, da sie nicht das für sie erforderliche glutenfreie Essen erhält und ihre Familie ihr auch kein Essen schicken darf. Sie fühlt sich die meiste Zeit über schwach. Sie erzählte auch, dass sie von den Wärter_innen der Haftanstalt und ihren Zellengenoss_innen unter Druck gesetzt wurde. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter »> ai : urgent action
rose
kilimandscharo : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — Das Radio erzählt an diesem warmen Tag im Mai von einer alten Dame, die in Mariupol auf offener Straße von einem Scharfschützen erschossen worden sein soll. — stop