tango : 16.55 UTC — Ich spreche zu schnell, dachte August, ich spreche zu schnell, zu häufig und zu lang. Ich werde von nun an langsamer sprechen und seltener und leise. Er hatte sich, noch ein Kind, vorgenommen langsamer und deutlicher zu sprechen, weil seine Freunde und seine Eltern und seine Lehrer immer wieder einmal bemerkt hatten, dass er viel zu viel sprechen würde. Du sprichst, lieber August, zu lang und zu schnell. Wenn er sich erinnerte, entdeckte er zahlreiche Wochen, Monate, Tage seines kurzen Lebens, da er versuchte, stiller zu werden. Er war durchaus erfolgreich gewesen, aber immer nur so lange er sich selbst zuhörte und sich in Gedanken sagte, langsam sprechen, August, langsam sprechen, jetzt hörst du auf zu sprechen. Du sagst einmal zehn Minuten lang nichts. August sah auf seine Uhr. Mutter fragte ihn, wie es in der Schule gewesen war, aber August sagte nichts, sah auf die Uhr und wartete. Warst du denn in der Schule, fragte Mutter. Natürlich, war ich in der Schule gewesen, dachte August, ich erinnere mich, gerade eben bin ich zurückgekehrt. Er sah auf die Uhr und war ganz still und er fühlte sich wohl und dann waren zehn Minuten Zeit der Stille des kleinen August vergangen. Kaum waren zehn Minuten Zeit vergangen, war August schon in den Garten gerannt. Mutter saß im Gras in der Sonne und schälte Kartoffeln. Heute habe ich kaum etwas gesagt in der Schule, erzählte August. Er sprach sehr langsam. Ich war ganz still, sagte August, fast bin ich eingeschlafen. Dann habe ich etwas gesagt, aber ich war wieder viel zu schnell. Da hab ich dann geschwiegen, habe nur die Hälfte erzählt von dem, was ich erzählen wollte. Da bin ich dann eingenickt. Und als ich wach wurde, habe ich diese furchtbare Stimme gehört. — Das Radio erzählt heute von einem jungen Mann, der eine Nachricht aus Mariupol an seine Geliebte sendete. Er schrieb: Ich habe Deine Mutter in der Nähe des Kindergartens begraben. — stop
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echo : 18.56 UTC — e n g e l s h a a r
ein seltsames buch
lima : 22.16 UTC — Zwei Stunden lang, es war Winter gewesen, beobachtete ich ein Buch, das kein gewöhnliches Buch gewesen war, sondern ein seltsames Buch. Ich notierte: Ich beobachte gerade eben ein seltsames Buch. Dass es sich um ein seltsames Buch handelt, ist dem Buch natürlich zunächst nicht anzusehen, weil das Buch seiner äußeren Gestalt nach, ein übliches Buch zu sein scheint. Dieses Buch hier auf meinem Tisch ist von einer tiefblauen Farbe. Sobald ich das blaue Buch nun in die Hände nehme, werde ich spüren, dass das Buch atmet, weil an seiner Rückseite durch feine Lamellen warme Luft auszutreten scheint. Das ist deshalb so, weil sich in dem Buch eine Recheneinheit befindet, ein sehr kleiner Computer, der sich mit dem Text oder mit der Geschichte, die sich in dem Buch befindet, beschäftigt. Es handelt sich bei dem Buchkörper bei genauer Betrachtung nämlich um eine Versammlung hauchdünner Bildschirme, auf welchen sich Zeichen befinden, Bildschirme, die man umblättern kann. Was zunächst zu sehen ist, gleich auf welcher Seite das Buch aufgeschlagen wird, sind eben erwähnte Buchstaben oder Ziffern, die sich rasend schnell bewegen, sodass man nicht lesen, vielmehr nur ahnen wird, was sich dort befinden könnte. Es ist dies der Moment, da der Computer des Buches jenen Text, den man mit eigenen Augen gerne sofort lesen würde, zu entschlüsseln beginnt. Ein möglicherweise aufwendiges, zeitraubendes Verfahren. Als ich das Buch kaufte, konnte mir der Händler der verschlüsselten Bücher nicht sagen, wie lange Zeit ich warten müsse, bis der Text des Buches für mich sichtbar werden würde. Es bereitete ihm Freude, ich bin mir sicher, auszusprechen, was ich längst dachte, dass die Entschlüsselung des Textes eine Stunde, einen Tag oder zweihundert Jahre dauern könnte, das sei immerhin das Prinzip, weshalb man ein Buch dieser Art erwerben wollte, dass man ein Buch besitzt, von dem man nicht sagen könne, ob es jemals lesbar werden wird. — Kurz vor Mitternacht. Das Radio erzählte gerade eben noch in Echtzeit von Menschen, die unter der Stadt Charkiw in Kellern sitzen. Eine Geige, sie war sehr fein gerade noch hörbar, spielte zur Beruhigung. Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. — stop
vom warten
lima : 22.07 UTC — Über eine Million Augenpaare werden in der digitalen Sphäre verzeichnet, die in den vergangenen 24 Stunden das Livebíld des Maidanplatzes beobachtet haben sollen. Einmal frage ich in englischer Sprache im begleitenden Chat, was präzise man erwartet zu sehen, weshalb diese Aufmerksamkeit. Es geschieht ja nichts. Nur der Platz ist zu sehen, kaum ein Mensch, aber ein paar Tauben, die über die Straßen tucken. Ein Antwort etwas später gleichwohl in englischer, dann von demselben Avatar in russischer Sprache: Alle hier warten auf Panzer! — stop
maidan 23 uhr 15 MEZ
ginkgo : 23.30 UTC — Der Platz in orangefarbenem Licht. Eine Livefilmaufnahme von einer Webkamera aus. Von dort Stille, Stille, die keine wirkliche Stille ist, rauschende Stille, das Geräusch des Mikrophons selbst vermutlich, welches sich bemüht etwas jenseits der Stille da draussen einzufangen. Hin und wieder, sehr selten, das Fauchen eines Automobiles, auch vielleicht Luftsummen von Ventilatoren. Dann plötzlich Sirenen, unheimlich, laut, Sirenengeheul, das ich von Kindheit her kenne. Als noch Tageslicht, waren Panzersperren zu sehen in Richtung umgebender Strassen. Um Mitternacht beginnt es leicht zu schneien. Kein Mensch, wirklich kein Mensch. In dieser Nacht leuchten die Ampeln des Platzes rot, vor Tagen waren sie noch grün und blieben grün. Vereinzelt Leuchtreklamen. Ein Auto für eine Minute, groß wie ein Fiat 500, ein ziviles Fahrzeug, vielleicht eine Patrouille. Unter einer Arkade blinkt langsam ein Licht: Singing Mountains — Vorübergehend geschlossen. Die Stadt scheint hell beleuchtet zu sein, vielleicht um Angreifer zu erfassen, die in Gruppen vom Himmel fallen könnten. — stop
vor odessa
morgens gegen 7
tango : 8.18 UTC — Morgens gegen 7 Uhr hocken vier Tauben vor dem Fenster auf dem schmalen Sims unter dem Dach, das sich weit hinaus über die Hauswand wölbt. Sie sitzen und sind ganz still und feucht von der Luft, sitzen dicht an dicht, als wären sie gekommen, um in meiner Nähe Schutz zu suchen. Vermutlich würden sie sofort in mein Zimmer stürzen, wenn ich das Fenster öffnete. — Das Fernsehen erzählt, man habe Menschen nahe Mariupol die Flucht über Korridore befohlen. Wer nicht flüchtet, sagt man, dürfe getötet werden. Von wem hier die Rede ist? Man nennt sie Orks in der digitalen Sphäre! Sie sind über eine Grenze gekommen, zu Fuß oder auf Panzern sitzend. Irgendwo im Norden, wo Orks noch nicht sind, wird eine alte Frau in einem Rollstuhl sitzend über einen Fluss getragen. Sie sticht mit ihrem Gehstock in die Luft. — stop
im winter in münchen
echo : 22.28 UTC — Ich bin ein paar Jahre alt. Auf dem Schlitten fahre ich einen Berg hinab. Das ist lustig, ich bin glücklich. Wenn ich müde bin zieht mich Großmutter den Berg wieder hinauf. Andere Kinder sind müde wie ich und werden von ihren Vätern oder Müttern gezogen. Auf dem Berg steht ein Kreuz. Ich frage Großmutter, warum ein Kreuz auf dem Berg steht. Großmutter sagt: Weil das der Schuttberg ist. Ich frage: Was ist ein Schuttberg? Großmutter antwortet: Das ist ein Berg von dem Schutt der Häuser, die zerbombt worden sind. Sie erzählt, dass in dem Berg viele Menschen begraben seien, die habe man nicht alle gefunden, die habe man mit dem Schutt begraben, deshalb habe man ein Kreuz auf den Berg gestellt, wegen der Knochen, die sich im Berg befinden. Und schon fahre ich wieder den Berg hinunter. Und der Wind pfeift mir um die Ohren und ich lache und die Großmutter dampft aus dem Mund und ist bald wieder fröhlich geworden. Ich trage eine rote Wollmütze auf dem Kopf. — stop
dubrowka — theater
tango : 22.18 UTC — Im Februar 2008 unterhielt ich mich mit einem Ermittlungsbeamten Organisierte Kriminalität. Wir kamen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot. — Frauen waren damals unter den Geiselnehmern gewesen. Sie trugen Sprengstoffgürtel oder Sprengstoffwesten, und waren vermummt. Man berichtete, sie seien nach Moskau gekommen, um ihre Männer zu rächen, die in Tschetschenien von russischen Soldaten getötet worden waren. — Das Radio erzählt an diesem Tag, heute, auf einem Fluss, der durch die Stadt Moskau fliesst, wurden auf dem Eis mit grauer Farbe Inschriften übermalt, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. — stop
PHZ 2022
MELDUNG. Ameisengesellschaft PHC — 2022 [ Pharaoameise : Monomorium pharaonis ] Position 46°28’N 30°45’O im Shevchenko Park zu Odessa / Folgende Objekte wurden bei winterlichen Temperaturen am 12. März von 9.00 — 10.02 Uhr MEZ über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwölf trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], achtundachzig Baumstämme [ à 2 Gramm ], elf Raupen in Weiss, sechs Raupen in Rot, vierzehn Insektenflügel [ vermutlich der Gattung Zitronenfalter,], vierhundertzweiundzwanz Streichholzköpfe [ à ca. 1.1 Gramm ], sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 502 Gramm des vergangenenen Jahres ], einhundertunddrei Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], vierzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], siebenhundertsiebenundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], secszehn hellgraue Diebkäfer [ schlafend ], fünfundfünfzig Aaskugeln eines afrikanischen Pillendrehers, einhunderachtundachzig Wildbienen, zweiundzwanzig Galläpfel, vierundvierzig Projektile 45 mm je 3.5 Gramm. — stop