delta : 15.33 UTC — Vater vor vielen Jahren, wie er sich über einen Tisch beugt, der leuchtet. Er trägt ein weißes Hemd und einen kamelfarbenen Pullover. Diesen erinnerten Pullover hatte ich heute Nachmittag auf einer Fotografie entdeckt, die meinen Vater zeigt auf einem Segelboot vor der kalifornischen Küste im Jahr 1965. Ich bin mir nun nicht sicher, welches der Objekte zunächst in meinem Kopf gegenwärtig war, die Erinnerung an die Farbe des Pullovers, den Vater trug, als er sich über einen Leuchttisch beugte. Oder war es die Begegnung mit der Fotografie des Seglers gewesen, die eine Erinnerung färbte oder überhaupt erst möglich machte? Vater betrachtete ein Dia, das vor ihm auf dem Tisch lag. Zwischen seinem Auge und der Fotografie klemmte eine SILVESTRI — Lupe; es war deshalb, weil Vater, mich mir vorstellte, so tief oder so weit wie möglich in die Fotografie hineinsehen wollte. Ich erinnere mich, dass ich selbst immer wieder Fotografien in dieser Weise betrachtete. Ich entdeckte, dass es möglich war, rein erfundene Gegenstände oder Gesichter oder Tiere in den Tiefen der besichtigten Fotografie wahrzunehmen, demzufolge zu halluzinieren und für eine kurz darauffolgende Erzählungen der Lichtaufnahme in Gedanken festzuhalten. — stop
nächtliche flieger
echo : 22.33 UTC — Es ist nun gewiss. Fliegen existieren, die fliegen nur nachts in der Dunkelheit in meinen Zimmern herum. Sobald Licht wird, das der Sonne oder das Licht meiner Lampen, fliegen sie nicht. Sie sitzen dann sofort im Verborgenen und beobachten diesen seltsamen Herrn, wie er mit Papieren wedelnd in der Hand durch die Gegend streift, um sie aufzustöbern, um sie durch die Luft über Wände hin jagen zu können, mit Werkzeugen, die ohne einen Zielort wirkungslos bleiben. — stop
IBM System/360 Modell 91
mit welchem mein Vater und sein Team
nach kleinsten Teilchen suchte
Blick in die Zentraleinheit
eine wespe
alpha : 8.15 UTC — Ich habe den Eindruck, dass Eichhörnchen in der sommerlichen Hitze gern weit oben in den Bäumen sitzen. Kaum Schatten, aber vielleicht Hoffnung auf etwas Wind. Heut flimmert die Luft schon am frühen Morgen. Nachts ist eine Wespe nahe dem Fensterbrett in einer Kaffeetasse ertrunken. Ich lese, in der Stadt Kyjiw wurden Menschen dreifach von Luftalarm geweckt, während ich schlief. Ein Anfänger in der Erfahrung eines Luftalarms, wird vielleicht empört sein, dass eine aggressive Macht ihn beschießt, das ist denkbar. Ich würde gern ein Buch elektrischer Seiten mit einem kleinen Gehirn erfinden, in dem sich im Verborgenen eine wunderbare Geschichte befindet. Einmal im Jahr, an einem Tag zu einer präzise ausgemachten Stunde träumt das Buch und die Geschichte wird sichtbar für diese eine besondere Stunde. — stop
von eichhörnchen
tango : 6.58 UTC — Im Traum lese ich ein Buch von Papier. Das Buch ruht auf meinem Schreibtisch. Schriftzeichen sehr gut lesbar, ein Buch, das ich ohne Brille verstehe. Ich lasse das Buch geöffnet auf dem Schreibtisch liegen, wenn ich spazieren gehe. Oder zum Einkaufen. Oder ins Kino. Sobald zurückgekehrt, lese ich weiter. Der Eindruck plötzlich, der Text des Buches, den ich zuletzt noch gelesen hatte, würde sich verändert haben, während ich dem Buch den Rücken kehrte. Ich lese einen Satz und präge mir ein, was ich gelesen hatte. Dann stehe ich auf und trete ans Fenster. Ein Eichhörnchen sitzt im Baum jenseits der Straße, es scheint zu grüßen. Kaum zurück vor dem Schreibtisch, der Verdacht, nein, die Gewissheit, dass sich wiederum Zeichen des Buches in meiner Abwesenheit verändert haben oder sich verändert haben könnten. Ich suche nach meinem Fotoapparat. Ich nehme eine Fotografie des geöffneten Buches aus nächster Nähe. Ich wache auf. Es ist Samstag. Feuchte Luft. 30° Celsius. Wunderbar. — stop
von farben
marimba : 23.18 UTC — S. ist schwarz und ich bin weiß. Seltsame Formulierung. Stempelsatz, dem zahlreiche weitere seltsame Stempelgedanken folgen, Gedanken, die eben nicht hörbar, aber sehr wirkungsvoll sind. Ich stellte ihr vorsichtig eine Frage, die sie mir selbst vermutlich nie stellen würde. Ich frage, wie sie Rassismus in ihrem Alltag erlebe. Sie könne hunderte Geschichten erzählen, vom Übersehen werden, von Menschen, die ihr in seltsamer Sprache antworten würden, als sei sie ein Baby, vom offenen Staunen, dass sie einen deutschen Pass besitzen würde, der Pass wird mehrfach kontrolliert, einmal flog sie wieder zurück über den Atlantischen Ozean, weil man ihr die Einreise grundlos verweigerte. Ein junger Mann bemerkte im Zug, dass sie Truman Capote lese. Sie sei intelligent, setzte er hinzu. Im Blick mancher Menschen, wenn sie sie betrachteten, würde etwas flackern, sehr seltsam, sagte sie, spooky. — stop
delay line
zoulou : 23.02 UTC — Ein heißer Tag vor 12 Jahren. Tatsächlich Sommer. Vater, der im Rollstuhl im Garten sitzt, bittet mich, ein Glas Milch zu holen. Ich stehe vor dem Kühlschrank. Die Tür des Kühlschranks ist offen. — In der vergangenen Nacht im Halbschlaf immer wieder der Gedanke, dass ich vergessen hatte, Vater das Glas Milch in den Garten zu tragen. Ich suchte im Traum nach dem Kühlschrank. Ich holte ein Glas Milch und trat in den Garten. Ich dachte noch: Es ist Nacht, Vater ist längst nicht mehr unter uns. Ich stellte das Glas auf einen Tisch und legte mich wieder ins Bett zurück — Im Jahr 1978 besuchte ich Vater an seinem Arbeitsplatz im Kernforschungszentrum CERN. In der Box der Wissenschaftler war es heiß und schwül. Ventilatoren rauschten. Vater war jung gewesen. Der Pullover, noch bekannt im Sommer vor 12 Jahren, vermutlich auch die Hose, die er auf einer Fotografie festgehalten war, welche ich gestern entdeckte. Vater und sein Team verlegten Leitungen, Kilometer um Kilometer über Spulen, um Signale in der Zeit zu verzögern. Elektrische Signale sind lautlose Wesen. — Sommer. Die Nächte warm. — stop
CERN
im Sommer einer
Nachtschicht
von ziffern
bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Koffer. Harte, sehr harte Schale, hart wie die Schale der Pekannüsse. Ich lege Hemden hinein, und Hosen und eine Jacke, es könnte kalt werden nachts dort, wohin ich reise. Brille, Turnschuhe, bunte Strümpfe und 1 Paar Handschuhe, Halstücher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzählen, 1 Landkarte, 2 starke Batterien für Schreibmaschine, 1 Gummiband, Seife, 1 Stetson Hut, 1 Pullover taubengrau, 1 Pullover gelb, 1 Telefon. Letzte Phase vor Abreise. Ich sitze und schau mir an, was ich als Reiseordnung betrachte. Ich klappe den Koffer zu und verschließe mein Gepäck, in dem ich das Zahlenschloss wild bewege. Der Koffer ist zu, ich kann ihn nicht öffnen. Ich suche nach einem Zettel. Ich bin aufgeregt. Ich mahne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleichmütig, Louis! Geduld, Louis! Eine Zahl ist zu erinnern, vier Stellen. Noch ist Zeit. Ich beginne mit der Zahl 001. Zwei Fliegen sausen herum. Im Café um die Ecke wird gefeiert. Ich beobachte, als gehörten sie nicht zu mir, meine Finger, die in rhythmischer Bewegung Zahlen versuchen. Astor Piazzolla: Tiempo Nuevo. Es geht darum, keine der möglichen Zahlen zu übergehen, es geht um Präzision. Eine wunderbare Nacht, noch früh. — stop
polarnacht
romeo : 2.15 UTC — In der Nacht seltsam dunkel. Er steht auf, öffnet die Tür zur Diele. Kein Licht in der Küche. Auch nicht von der Straße her. Kühlschrank dunkel. Himmel dunkel. Fenster der Wohnungen des Hauses im vierten Stock gegenüber ohne Licht. Im Treppenhaus dort irren Taschenlampenlichter oder Mobiltelefone. Hier, sagt er laut, ist der Tisch, und hier ist der Herd und hier sind Klinke und Tür zu Bad. Er bemerkt in diesen Minuten einer Nacht ohne Elektrizität, dass er das Licht seiner Vorstellungskraft zu erhellen vermag, in dem er von den Gegenständen spricht, an die er sich erinnern will. Tür zum Arbeitszimmer. Schreibtisch gleich links. Vorsicht Lampenschirm. Ein Buch. Schreibmaschine. Kaffeetasse. Zwei Stifte, tatsächlich. — stop
louis
alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wilhelm Genazino Folgendes > Geheimnisse des Wohnens: Im Sommer: eine einzelne Fliege ist im Zimmer: Sie stößt manchmal an eine Scheibe, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewohner in Ruhe. Angenehmes Gefühl, mit einem solchen Tier einen Nachmittag zu verbringen. — Fliege Louis, von der ich kürzlich erzählte, sitzt seit drei Tagen bereits reglos auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Es ist hell geworden, dann wieder dunkel, und wieder hell. Unverändert sitzt Fliege Louis, seit drei Phasen der Dunkelheit bereits auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Noch immer bewege ich mit behutsam. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre
von nicht sichtbaren spuren
alpha : 20.02 UTC — Vor wenigen Wochen erzählt ein junger Mann, er habe einen Mensch getötet. Ein Hinweis, nicht Geständnis. Er wolle nicht weiter darüber sprechen, er setzt hinzu: Heutzutage nahe einer Front Spuren in der elektromagnetisch Sphäre zu hinterlassen, sei Selbstmord. — stop