sierra : 10.02 UTC — Morgens höre ich in meiner Vorstellung wie das Radio angeschaltet wird unten im Wohnzimmer, unten in der Küche. Eine Stimme erzählt von Pablo Neruda. Die Stimme wird immer wieder von Musik unterbrochen, von feiner indianischer Musik. Das sind Geräusche wie früher, sehr viel früher noch, Geräusche einer Verbindung zur Welt, die sich fortsetzt. Weil Sommer ist, blühen im Garten Tulpen, rot, gelb, blau, orange. Man müsste einmal Blumen erfinden, die nachts ihre Blüten öffnen und leuchten, Nachtbienen, Nachtlibellen, Nachtwespen, Nachthummeln. — stop
Aus der Wörtersammlung: alt
ahorn no 2
echo : 22.18 UTC — Im geöffneten Fenster, das ich für eine Stunde lesend außer Acht gelassen hatte, bewegte sich vor Tagen ein Spinnfaden in einem Wind, der nicht spürbar gewesen, aber in der Bewegung des Fadens sichtbar geworden war. Irgendjemand, dachte ich, wird vermutlich angekommen sein, während ich las, ist entweder schon auf dem Weg abwärts wieder zur Straße zu den Bäumen hin oder aber sitzt im Kakteenwald auf dem Fensterbrett und wartet, dass es dunkel werden wird. Und ich dachte, solange ich mein Fernsehgerät nicht anschalten würde, sei hier oben in den Räumen unter dem Dach alles sehr friedlich an jenem Abend. Tatsächlich hatte ich vergessen, was das Radio vor zwei Stunden noch erzählte. Ich musste mich mühen, um an das Gehörte zu kommen. Ich notierte einen Text. Und ich dachte sehr lange Zeit nach, indessen die Besucherin, die zunächst verschwunden gewesen war, zur Nachtstunde ein Netz über Stachelhornwälder einer Mammillaria fraileana zu weben begann. Gegen Mitternacht erinnerte ich mich, was oder wovon das Radio erzählte. — stop
“Hi!” — “Hi!”
romeo : 0.33 UTC — War Zeuge einer Begegnung zweier Algorithmen bei mir Zuhause auf einem Bildschirm, der sich teilte, und zwar in der Mitte. In rasender Geschwindigkeit wurden dort Zahlenketten erzeugt. Nach drei oder vier Minuten stoppte die Zahlenproduktion in der linken Spalte. Nach wenigen weiteren Sekunden erschien die Zeichenfolge: Hi! Kurz darauf stoppte auch in der rechten Spalte die Zahlenproduktion, wiederum für wenige Sekunden Stille oder Leere. Dann erschien auch hier die Zeichenfolge: Hi! Ich war gerührt, man stelle sich das einmal vor, Algorithmen, die sich zur Begrüßung einer Sprache bedienten, die ich zu lesen, in der Lage gewesen war. — stop
teriberka
whiskey : 20.01 – Ich erinnere mich an Ludwig, er war gerade 8 Jahre alt geworden, als er beobachtet wurde, wie er eine Schuhschachtel vor das Fenster seines Zimmers stellte, um 1 Stunde lang das Licht eines frühen Nachmittags einzufangen. Er wendete in dieser Stunde nicht eine Minute seinen Blick von dem Behälter, den er sodann sorgfältig mit ernster Miene verschloss, um ihn noch an demselben Tag mit seiner Mutter zu einem Postamt zu bringen. Das ist für meinen Freund Janos, erklärte Ludwig dem Beamten, der bei der Verfertigung einer zollamtlichen Erklärung behilflich war, 1 Stunde Sonne für meinen Freund, der in Teriberka weit im Norden in Russland wohnt. Ludwig wartet. Es hoffte, dass er seinerseits zur Weihnacht vielleicht etwas Winternachtlicht geschenkt bekommen würde. Ich sollte Ludwig einen Brief schreiben. — stop
radiotauben
echo : 22.05 UTC — Gestern, am späten Abend, folgte ich einem Hyperlink, der von meiner Particlesmaschine automatisch erzeugt worden war nach Regeln, die ich nicht präzise beschreiben könnte. In dieser Weise arbeitend, begegnete ich einem Text, der von einem Radio erzählte. Es ist seltsam, ich konnte mich zunächst nicht erinnern, diesen Text selbst geschrieben zu haben. Ich las ihn und dachte: Diesen Text musst Du erfundenen haben, rein erfundene Texte lassen sich nicht so leicht erinnern, wie Texte, die von einer erlebten Geschichte berichten. Nun also, in dem ich meinen Text, den ich im April des vergangenen Jahres notierte, lese, schreibe ich ihn zum zweiten Male, er wird mir vermutlich ein weiteres Jahr später, noch in Erinnerung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wiederholte, also erlebte, weil ich ihn in mein Leben versetzte: Ich stellte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
ahorn
nordpol : 22.01 UTC — Im geöffneten Fenster, das ich für eine Stunde lesend außer Acht gelassen hatte, bewegte sich ein Spinnfaden in einem Wind, der nicht spürbar gewesen, aber in der Bewegung des Fadens sichtbar geworden war. Irgendjemand, dachte ich, wird vermutlich angekommen sein, während ich las, ist entweder schon auf dem Weg abwärts wieder zur Straße zu den Bäumen hin oder aber sitzt im Kakteenwald auf dem Fensterbrett und wartet, dass es dunkel werden wird. Solange ich mein Fernsehgerät nicht anschalten werde, ist hier oben in Räumen unter dem Dach alles sehr friedlich an diesem Abend. Tatsächlich habe ich vergessen, was das Radio vor zwei Stunden noch erzählte. Ich muss mich mühen, um an das Gehörte zu kommen. Meine suchende Bewegung in der Erinnerung scheint weniger die Bewegung eines Bohrers, vielmehr die Bewegung eines Propellers zu sein. — stop
bonsaimenschen
papiere
himalaya : 16.15 UTC – Heute Morgen beobachtete ich einen Mann in der Straßenbahn, der eine Zeitung von Papier entfaltete. Da war ein Geräusch, das ich seit Jahren nicht gehört zu haben glaubte. Für eine kurze Zeit war der Kopf des Mannes nicht mehr zu sehen, aber seine Hände, die die Zeitung hielten. Mal bewegte sich einer seiner Finger da und dort, dann waren seine Hände wieder ohne Bewegung. Nach zwei oder drei Stationen legte der Mann die Zeitung auf seine Knie und faltete sie wieder zusammen. Dann stand er auf und verließ die Straßenbahn. Ich beobachtete, wie er sich die gefaltete Zeitung über den Kopf hielt, vermutlich deshalb, weil es regnete. — stop
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR: „Die Festnahme von Scott Warren erfolgte nur Stunden nach der Veröffentlichung eines Berichts, der die vorsätzliche Vernichtung humanitärer Hilfsgüter im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko durch die Grenzbehörden dokumentiert. / Scott Warren leistet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation No More Deaths lebenswichtige humanitäre Hilfe, um das Recht auf Leben von Migrant_innen zu schützen und weitere Todesfälle von Migrant_innen und Asylsuchenden in der Sonora-Wüste zu verhindern. Menschenrechtsaktivist_innen aus Städten entlang der Grenze, die in Hilfsorganisationen, Glaubensgemeinschaften oder Aktivistengruppen organisiert sind, unterstützen Migrant_innen bereits seit vielen Jahren. / Straf‑, Zivil- und Verwaltungsgesetze sollten nicht dazu missbraucht werden, Menschenrechtsverteidiger_innen zu schikanieren, die sich für die Rechte von Migrant_innen, Asylsuchenden und Flüchtlingen oder anderen einsetzen, deren Leben gefährdet ist und denen Menschenrechtsverletzungen drohen. Regierungen sollten sicherstellen, dass Menschenrechts-verteidiger_innen und ihre Organisationen ihre Arbeit in einem sicheren und unterstützenden Umfeld ohne Angst vor Repressalien nachgehen können. / Die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe und von einfachsten Gesten der Unterstützung, bei denen nicht nach der Staatsangehörigkeit gefragt wird, ist ein Angriff auf die Menschenrechte.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30. Juni 2019 unter > ai : urgent action
regenschirmtiere vol.3
ulysses : 0.12 UTC — Ein Journalist, der für das Radio arbeitet, erzählte unlängst am Telefon, er habe einmal an einer Reportage gearbeitet, die von der Entdeckung der Regenschirmtiere berichtete. Ungefähr in der Mitte seines Beitrages habe er einen Fehler entdeckt. Er saß vor dem Radiogerät und hörte der Stimme einer Sprecherin zu, die seinen Text sehr deutlich las, es war also zu spät, der Journalist konnte an seinem Fehler nichts ändern. Das versendet sich, wurde er von einer Redakteurin getröstet. Und ich dachte, das ist ein schönes Wort für verlorene Worte oder Gedanken, das ist wie mit Träumen, die sich von der Erinnerung lösen wie Regenwasser, das sich nicht wirklich festhalten, nicht wirklich begreifen lässt mit Händen, dieses helle Wasser, das die Luft erhellte in einem Traum, den ich gerade noch erzählen konnte auf einem Blatt Papier, ehe der Traum sich verflüchtigte, in dem ich mich wunderte, dass ich, beide Hände frei, durch die Stadt gehen konnte, obwohl ich doch allein unter einem Regenschirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und staunte, weil ich nie zuvor eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, Haut von der Art der Flughaut eines Abendseglers. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnet noch immer. Ich werde gleich telefonieren. — stop