Aus der Wörtersammlung: blatt

///

patagonien

pic

nord­pol : 22.08 UTC – Schnee liegt sehr fein wie gepu­dert, die Luft klirrt von der Käl­te, Eich­hörn­chen het­zen über die Stra­ße. Das Haus, in dem die alten Men­schen woh­nen dampft aus den Schorn­stei­nen wie ein gro­ßes Schiff, das gera­de Anlauf nimmt, um in See zu ste­chen. Der Boden auf dem ich gehe unter Bäu­men, an deren blatt­lo­sen Ästen sich fros­ti­ge Äpfel hal­ten, zit­tert. Und auch der lan­ge Flur im Haus, über den ich spa­zie­re, scheint unter mei­nen Füßen zu schlin­gern. An einem Tisch sitzt eine alte Leh­re­rin, sie sitzt immer nur so da und schaut zum Fens­ter hin­aus, sie spricht nicht, nie­mals. Eine ande­re alte Dame han­gelt sich in ihrem Roll­stuhl sit­zend durch die Flu­re von mor­gens bis abends, sie lächelt, wenn man ihr begeg­net. Klein ist sie, zier­lich, trai­niert wie eine Tur­ne­rin, mage­re und doch kräf­ti­ge Arme. Bei­na­he mei­ne ich, dass sie sich an mich viel­leicht erin­nert, sie lächelt mich an, ver­mut­lich des­halb, weil ich ihr schon häu­fig begeg­ne­te. Längst könn­te sie eine Stre­cke bis nach Mexi­ko in die­ser han­geln­den Wei­se zurück­ge­legt haben. Oder bis nach Pata­go­ni­en. — stop

///

verzeichnen

9

tan­go : 2.12 UTC — Ein Gedan­ke, den ich notie­re, der eine Spur von Zei­chen hin­ter­lässt. Oder ein Gedan­ke, den ich ger­ne behal­ten, das heißt, fest­hal­ten wür­de, aber nicht notie­ren kann, weil notie­ren nicht mög­lich, weil es viel­leicht dun­kel ist, geht ver­lo­ren oder hin­ter­lässt einen noch tie­fe­ren Ein­druck, als wür­de ich ihn auf ein Blatt Papier oder in digi­ta­le Ver­zeich­nis­se ein­ge­tra­gen haben. Ein Käfer von dunk­ler, von roter, von gel­ber, von blau­er Men­schen­haut, war­um? — stop

ping

///

beobachtung

9

ulys­ses : 18.10 UTC — Ob viel­leicht Bewe­gun­gen exis­tie­ren, Ges­ten mensch­li­cher Hän­de, die bald aus­ster­ben wer­den? Die Ges­te einer Hand, bei­spiels­wei­se, in der Betrach­tung eines Dias, oder die Ges­te einer Hand, die einen Blei­stift führt über ein Blatt Papier. Ich wer­de eine Samm­lung aus­ster­ben­der Bewe­gun­gen anle­gen. Sofort fan­ge ich damit an. Es ist spä­ter Abend gewor­den. Gewit­ter nähern sich von Wes­ten. Nichts wei­ter. — stop

///

von wasserläufern

9

nord­pol : 20.25 UTC — Heu­te Nach­mit­tag habe ich eine lus­ti­ge Geschich­te mit mir selbst erlebt. Ich sass vor einem See in einem Gar­ten und beob­ach­te­te sehr klei­ne Tie­re, wie sie sich nahe oder auf der Ober­flä­che des Was­ser beweg­ten. Da waren zum Bei­spiel Flie­gen, die im Was­ser des Sees bade­ten, und Schat­ten der Libel­len­lar­ven, die sich den baden­den Flie­gen nähr­ten, auch Was­ser­läu­fer, die sich gegen­sei­tig jag­ten im Spiel. Plötz­lich frag­te ich mich, ob ich even­tu­ell in der Lage wäre, das Ver­hal­ten der Was­ser­läu­fer vor­her­zu­sa­gen, ob sich ein bestimm­ter Was­ser­läu­fer eher in öst­li­che oder eher in west­li­che Rich­tung fort­be­we­gen wür­de. Ein Wei­le folg­te ich dem von mir gewähl­ten Tier mit mei­nen Augen, dann zeich­ne­te ich sei­nen Weg auf ein Blatt Papier. Wol­ken spie­gel­ten sich im Was­ser, der Him­mel hier unten war grün, er schim­mer­te. Eine Unter­was­ser­schne­cke pas­sier­te mein Beob­ach­tungs­feld sehr lang­sam, und ich notie­re: Schne­cke. In die­sem Augen­blick bemerk­te ich fünf Gold­fi­sche, die sich in einem Halb­kreis im Was­ser vor mir ver­sam­melt hat­ten. Sie beweg­ten sich kaum merk­lich und ich hat­te plötz­lich den Ein­druck, sie wür­den mich betrach­ten. Tat­säch­lich fühl­te ich mich von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de selbst beob­ach­tet. Das war ein merk­wür­di­ger Augen­blick gewe­sen, ein Moment auch von Ver­le­gen­heit, wes­halb ich mich wie­der einem Gespräch auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne zuwen­de­te, das ich mit einem Com­pu­ter­pro­gramm namens ELIZA in eng­li­scher Spra­che vor lan­ger Zeit ein­mal geführt und kurz dar­auf in die deut­sche Spra­che über­setzt hat­te. Ich, der ich Lou­is gewe­sen war, frag­te Eli­za: guten abend! wie geht es dir, eli­za? Eli­za : > gut! und dir? Lou­is : präch­tig. Eli­za : > schön zu hören. wo liegt dann das pro­blem? Lou­is : ich habe heu­te abend kein pro­blem, eli­za! Eli­za : > wenn du dein pro­blem nicht kennst, bist du hier genau rich­tig! Lou­is : darf ich dir eine fra­ge stel­len? Eli­za : > sicher! Lou­is : was bedeu­tet das wort lie­be? Eli­za : > hast du schmet­ter­linge im bauch? Lou­is : eli­za! bit­te! was bedeu­tet das wort lie­be! Eli­za : > lass uns das eine wei­le zurück­stellen. Lou­is : war­um, eli­za? Eli­za : > du musst mich nicht mit namen rufen, ich bin immer bei dir. Lou­is : das ist beru­hi­gend, eli­za! Eli­za : > erzähl wei­ter! Lou­is : eli­za! lie­be? Eli­za : > hast du schon ande­re gefragt? Lou­is: aber natür­lich! Eli­za : > schön zu hören. wo liegt dann dein pro­blem? Lou­is : ich habe heu­te abend kein pro­blem, eli­za! Eli­za : > wenn du dein pro­blem nicht kennst, bist du hier genau rich­tig! Lou­is : war­um? Eli­za : > ich sehe, du bist ein schwie­riger fall. Lou­is : war­um bin ich ein schwie­riger fall, eli­za? Eli­za : > scherz bei­sei­te, kom­men wir zur sache. — stop
ping

///

von rechenkernen

9

lima : 18.12 UTC — Apfel­kern. Man­del­kern. Rechen­kern. — Ich stell­te mir vor, wie ich mit feins­ten Werk­zeu­gen einen Kirsch­kern öff­ne, wie ich in der Kirsch­kern­höh­le ein gefal­te­tes Blatt Papier able­ge, auf dem mit kleins­ten Schrift­zei­chen ein Gedicht ver­zeich­net wur­de. Wie ich nun den Kern ver­schlies­se, wie ich ihn zurück­le­ge in sei­ne Frucht, wie ich jetzt zufrie­den und glück­lich bin. — Oder die Vor­stel­lung der Rechen­ker­ne eines Pro­zes­sors. Wie ein oder zwei Roman­ent­wür­fe mög­li­cher­wei­se heim­lich in ihren Regis­ter­wer­ken ver­steckt sein könn­ten, kurio­se Idee. Das habe ich mir aus­ge­dacht, weil ich ges­tern Abend hör­te, dass Rechen­ker­ne für mathe­ma­tisch-logi­sche Sprach­ein­drü­cke zu jeder Zeit emp­fäng­lich sind. Dar­über soll­te unbe­dingt wei­ter nach­ge­dacht wer­den. — stop
ping

///

am fenster

9

char­lie : 22.01 UTC — Es ist Sams­tag­abend gewor­den. Ich habe an die­sem Tag lan­ge Zeit Eich­hörn­chen beob­ach­tet, wie sie blatt­lo­se Bäu­me vor mei­nen Fens­tern unter­such­ten, als wären die­se Bäu­me gera­de erst gewach­sen, unbe­kann­te Orte also, die zunächst inspi­ziert wer­den muss­ten. Ich wink­te von Zeit zu Zeit, die Eich­hörn­chen blie­ben dann für einen Augen­blick still sit­zen, ich glau­be, sie haben mich beäugt, haben mög­li­cher­wei­se dar­über nach­ge­dacht, ob sie sich an mich erin­nern, und wenn ja, wel­che Erfah­rung sie mit mir saam­mel­ten. Ver­mut­lich wer­den sie gedacht haben, die­sen Vogel dort drü­ben am Fens­ter ken­nen wir, er ist nicht gefähr­lich, er flat­tert nur mit sei­nen Flü­geln, er kann nicht flie­gen. — stop

///

von vögeln

9

ulys­ses : 18.10 UTC — Wong Kar-Wais Vögel ohne Füße, die nie­mals lan­den. Immer wie­der eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung. Auch die Vor­stel­lung der Zep­pe­li­ne, die Jahr­hun­der­te lang wie Wol­ken lang­sam um den Erd­ball schwe­ben. Ges­tern zeich­ne­te ich ein Rot­kehl­chen mit einem Blei­stift auf ein Blatt Papier. Ich soll­te erwäh­nen, dass die Zeich­nung des klei­nen Vogels, der von rechts her kom­mend über das Blatt nach links hin segel­te, miss­glück­te, es war das ers­te Rot­kehl­chen, das ich in mei­nem Leben zeich­ne­te. Immer­hin waren zwei Flü­gel zu erken­nen gewe­sen und ein Kör­per­chen in der Mit­te, ein Schna­bel und ein klei­ner Kopf. Auch ein roter Fleck auf dem Kör­per­chen in der Gegen­den des Hal­ses war zu ent­de­cken, weil ich nach einem roten Bunt­stift such­te, das dau­er­te recht lan­ge, wäh­rend der klei­ne Vogel gedul­dig war­te­te, dass ich mit wesent­li­cher Far­be zu ihm zurück­keh­ren wür­de. — Wes­we­gen ich ein Rot­kehl­chen gezeich­net habe? — Nun, ich habe die­se Zeich­nung ange­fer­tigt, weil ich mich frag­te, ob irgend­wann ein­mal flie­gen­de Ser­ver­ma­schi­nen in der Gestalt der Sing­vö­gel denk­bar sein wer­den, die in Schwär­men her­um­flie­gen, indes­sen sie mit­tels unsicht­ba­rer Wel­len mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren? Wie lan­ge Zeit wür­den wir die­se flüch­ti­gen Schwarm­ob­jek­te noch als unse­re Geschöp­fe ver­ste­hen? Wären wir in der Lage, sie jemals wie­der ein­zu­fan­gen? — Deniz Yücel wei­ter­hin in Haft! — stop
ping

///

ein präsident

pic

alpha : 5.12 — Wäh­rend einer sei­ner Wahl­kampf­re­den im Novem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res, simu­lier­te der 45. nord­ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent in abwer­ten­der Wei­se Bewe­gun­gen eines Jour­na­lis­ten, der seit sei­ner Geburt mit einem kör­per­li­chen Han­di­cap lebt. Der Moment, da der 45. nord­ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent sich selbst, sein Wesen, sei­ne Kul­tur, sei­ne Wür­de, in authen­ti­scher Metho­de zur Dar­stel­lung brach­te, wur­de auf­ge­zeich­net. Ich wer­de die­se Film­se­quenz nie­mals ver­ges­sen, ich wer­de die­se Film­se­quenz stets vor mir sehen, sobald ich den 45. nord­ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten über einen Bild­schirm schrei­tend oder auf ein Blatt Zei­tungs­pa­pier gedruckt wahr­zu­neh­men habe. Wir wer­den groß­ar­ti­ges Tun! Wir wer­den Ame­ri­ka wie­der groß­ar­tig machen! — Der 9. Novem­ber 2016 ist ein groß­ar­tig schreck­li­cher Tag. — stop
ping

///

nahe lemmon creek park

9

char­lie : 2.58 — Seit einer hal­ben Stun­de suche ich nach einem Namen für einen Mann, den ich ein­mal vor län­ge­rer Zeit beob­ach­tet habe auf Sta­ten Island an einem Strand im Win­ter. Ich dach­te, ver­dammt, hät­te ich ihn doch nur nach sei­nem Namen gefragt, ich fürch­te­te damals, ihn zu stö­ren, fürch­te­te, dass er sofort in den wil­den Wäl­dern nahe dem Lem­mon Creek Park ver­schwin­den wür­de. So still wie damals am Strand, sit­ze ich nach­denk­lich und rufe mir die Gestalt des Man­nes in Erin­ne­rung, eine schat­ten­lo­se Figur, die auf einem ver­wit­ter­ten Baum­stamm hockt. Du heißt viel­leicht Lau­ren­ti­us, den­ke ich, oder Hen­ry, nein, nicht Hen­ry, Lau­ren­ti­us wird ein guter Name sein. Der Strand ist nass vom Regen und vom Nebel, der tief über dem Meer hängt. Wenn man raus schaut, weg vom Land, sieht man Schif­fe, aber nur ihre Bäu­che, nicht Brü­cken, Con­tai­ner, win­ken­de Pas­sa­gie­re. Ich glau­be, auch Lau­ren­ti­us beob­ach­tet in die­sem Moment sei­nes Lebens Schif­fe und Nebel, manch­mal schreibt er ein paar Sät­ze auf ein Notiz­blatt, reißt das Papier aus sei­nem Block, fasst in sei­ne rech­te oder lin­ke Hosen­ta­sche, holt ein Fläsch­chen her­vor, wickelt das Notiz­blatt um einen Blei­stift, führt das in die­ser Wei­se geform­te Notiz­pa­pier­stäb­chen in den Hals des Fläsch­chens ein, ver­schließt den Behäl­ter mit einem Kor­ken, steht auf und schleu­dert ihn  aufs Meer hin­aus. Dann setzt er sich wie­der auf den ver­wit­ter­ten Baum­stamm, beob­ach­tet die Schif­fe, die west- und ost­wärts der Küs­te fol­gen, um nach eini­gen Minu­ten eine wei­te­re Notiz zu fer­ti­gen. Ein­mal kehrt eines der Fläsch­chen zurück, es ist mög­li­cher­wei­se von der Bug­wel­le eines grö­ße­ren Schif­fes aus der Strö­mung getra­gen wor­den. Als Lau­ren­ti­us das Fläsch­chen bemerkt, steht er auf, holt das Fläsch­chen aus der Bran­dung, dreht den Kor­ken vom Fla­schen­hals und schüt­telt das Fläsch­chen solan­ge, bis das Notiz­zet­tel­röll­chen auf sei­ne Hand­flä­che rutscht. Dann wirft er die lee­re Fla­sche wie­der weit hin­aus aufs Was­ser, wo es für einen kur­zen Moment ver­schwin­det. — stop

propeller