india : 20.18 UTC — In den Birkenwäldern südlich der Stadt Poliske sollen seltsame Tiere zu beobachten sein, Hirsche, Hasen, Raben, auch Mäuse, eine Herde Zebras, Elefanten, Feuersalamander, Pumas, Straußenvögel. All diesen Tieren ist gemein, dass sie leuchten, ein kaum noch sichtbares zartes Glimmen sei insbesondere nachts zu beobachten, als wären die Tiere elektrisch geladen. Es ist aber nicht so, dass diese Tiere leuchten, weil sie dort leben wo es gefährlich ist. Man muss sich nur einmal eine Karte vor Augen führen, um zu sehen, wo die kleine Stadt Poliske in der Landschaft liegt, man wird dann meinen, man wüsste genau, warum diese Tiere leuchten, als wären sie Wesen von tiefseeischer Dunkelheit. Überhaupt ist das so, dass wilde Elefanten eigentlich in den Birkenwäldern um Poliske natürlicherweise nicht vorkommen, auch Zebras nicht oder Pumas. Wie ist das nun alles zu erklären? Wenn doch wahr ist, dass sie alle leuchten. — stop
Aus der Wörtersammlung: elektrisch
marin
ginkgo : 15.05 UTC — Ein Botschafter soll kurz vor der Erstürmung seiner Dependance Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen haben, Dokumente, insbesondere papierene Dokumente, zu verbrennen oder mittels moderner Zerkleinerungsgeräte aus ihren natürlichen Zusammenhängen zu reißen. Nun ist gleichwohl denkbar, dass Menschen, deren Arbeiten ausschließlich als digitale Substanz gespeichert wurden, kurz vor einem drohenden dauerhaften Ausfall öffentlicher Stromversorgung, den starken Wunsch verspüren, ihre digitalen Dokumente auf Papier zu drucken, um sie in schweren Koffern mit sich auf eine Fluchtreise in die Wildnis nehmen zu können. Ich überlege ernsthaft, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, eine Mappe anzulegen, in welcher sich wirkliche Papiere befinden, Aufsätze, Briefe, Notizen, die in der Gegenwart nur lesbar sind, solange ich über elektrische Grundversorgung verfüge. — Das wundervolle marineblaue Licht des Schnees in der Dämmerung. — stop
zwergseerose bartholomä
nordpol : 5.08 — Ich hörte, irgendwo versteckt auf einem Hochplateau des steinernen Meeres, das sich zwischen dem schönen, grünblauen Obersee und dem mächtigen Hochkönig erstreckt, soll ein Mensch existieren, ein Junge von ungefähr acht Jahren, der in seinem bisherigen Leben keinerlei digitale Spur hinterliess, weder in der Welt behördlicher Computersysteme, noch in einer elektronischen Wolke. Der Junge, der möglicherweise heimlich geboren wurde, soll, von Schulbüchern umgeben, in einer Hütte mit Ziegen und fünf Murmeltieren leben, die ihm vertraut geworden sind. Es ist nicht bekannt, wie der Junge heisst, wie seine Mutter, wie sein Vater, auch nicht, wer ihm des Weiteren geholfen haben könnte, während der ersten Lebensjahre über strenge Bergwinter zu kommen. Ich stelle mir vor, dieser Junge könnte vielleicht der einzige lebende europäische Mensch sein, von dem niemals ein Lichtbild genommen wurde. Wer nach ihm suchte, kehrte zurück ohne einen Beweis, ohne eine Spur, er könnte reinste Erfindung sein, eine vorsätzliche Existenz, eine Vermutung, oder eine tatsächliche Person, die an dieser Stelle, in diesem Text einen ersten elektrischen Abdruck in der digitalen Sphäre hinterlässt, ein Verrat, ja, ein Verrat. Ich sollte meine Gedanken, meine Hinweise, demzufolge bald wieder löschen, um ihr Verschwinden und damit das Verschwinden des Jungen aus der digitalen Welt beobachten oder prüfen zu können. Signatur: Zwergseerose Bartholomä. — stop
wildlaborbiene
alpha : 10.58 — Nehmen wir einmal an, eine Untersuchungsmaschine von der Größe einer Wildbiene existierte, ein wanderndes Labor, welches sich aus eigener Kraft innerhalb oder über Körper olympischer Athleten bewegen würde, wäre das nicht eine beruhigende, ja begeisternde Vorstellung, da eine feine Bohrung in Muskeltiefe, dort eine Messung elektrischer Salzwasserströme, stündlich eine Blutprobe, die im Sondenkörper sogleich ausgewertet sein würde, jede erdenkliche Substanz, die der nichtnatürlichen Leistungssteigerung diente, würde unverzüglich entdeckt und per Funksignal gemeldet sein. — stop
frankie x 12
echo : 2.28 — Jemand erzählte mir unlängst, irgendwo in Brooklyn existiere ein Laden, in dem man ausgestopfte Eichhörnchen kaufen könne, äußerlich vollständige Wesen, die aus einer gewissen Entfernung betrachtet, von noch lebenden Artgenossen nicht zu unterscheiden seien. In ihrem Inneren sollen sich elektrische Motoren bewegen, so dass jedes dieser Eichhörnchen, entweder geduckt, oder ein anderes Mal aufrecht sitzend erscheint oder gar in der Haltung eines kurz vor dem Sprung stehenden Tieres. Javier Menlo, der in Meeresnähe auf Staten Island lebt, habe ein gutes Dutzend dieser Eichhörnchengespenster am Strand platziert, wo sie in einer Gruppe sitzen und seltsamer Weise von Möwen nicht behelligt werden. Unsichtbare, weil im Erdreich verlegte Drähte versorgen Javiers Eichhörnchen mit dem Strom einer Autobatterie. Kein Hinweis weit und breit, der die Existenz dieser Eichhörnchengruppe erklären würde, weswegen sie möglicherweise unheimlich erscheinen, bedeutungsvoll, wie ein Gebet, eine Anrufung, eine Drohung oder Erinnerung. — stop
morgenzeitung
himalaya : 0.36 — Meine Mutter überlegte vor einigen Tagen, ob sie ihre geliebte Zeitung, die sie ein halbes Leben lang jeden Morgen in aller Frühe studierte, nicht vielleicht abbestellen sollte, weil sie nicht mehr so schnell lesen würde wie früher noch, also weniger Zeitung wahrnehmen könne in der selben Zeit. Sie rief bei der Zeitung an. Ein junger Mann, der die Gefahr erkannte, eine treue Leserin zu verlieren, machte ihr unverzüglich ein großzügiges Angebot. Er sagte, wenn sie die Zeitung weitere 2 Jahre abonnieren würde, müsste sie ein halbes Jahr lang für ihre Zeitung nichts bezahlen, weswegen meine Mutter sofort von ihrem Wunsch, sich um ihr Lesevergnügen zu bringen, Abstand nahm. Sie abonnierte also die Zeitung für weitere 2 Jahre, obwohl sie doch möglicherweise langsamer und noch langsamer lesen wird von Zeit zu Zeit, also jener Teil der Zeitung, der ungelesen, größer werden wird. Der junge Mann am Telefon hatte im übrigen auch für dieses Problem ungelesener Zeitungsabteile eine beruhigende Mitteilung zu machen. Er sagte, die Zeitung würde auch dann gedruckt, wenn Mutter sie abbestellen würde, was vermutlich der Fall ist, ein Argument, das wirkte. Als ich Mutters Geschichte hörte, dachte ich, man müsste einmal elektrische Papiere erfinden, hauchdünne Computerbildschirme, die zu einem Gefäß versammelt sind, das sich anfühlt wie eine Zeitung. Über Funk würden Zeichen gesendet werden, gerade so viele Zeichen wie üblicherweise gelesen werden von dem Besitzer des Zeitungsgefässes, Zeichen über Literatur und Lokales und über die Politik der großen, weiten Welt. Eine Zeitung mit Augen, eine Zeitung, die vermerkt, wie viele ihrer Zeichen präzise gelesen werden, eine Zeitung beinahe wie ein Computer, oder, genauer gesagt, ein Computer, der sich wie eine Zeitung anfühlen würde, in dem man blättern könnte, ein Computer der raschelt, oder eben eine Zeitung, die man ausschalten kann. — stop
von menschen und affen
nordpol : 0.22 – Wäre es nicht vielleicht doch sinnvoll, anstatt unschuldige Kindermenschen der Stadt Rakka zu bombardieren, elektrische Datennetze zu attackieren, welche von Riad aus Gotteskrieger mit Entwicklungshilfe versorgen? Immer wieder das Fragen üben. Auch nach Fragen suchen. Gestern sprach ich mit einer jungen Muslima über ihre Schulzeit, viel zu kurz, sagte sie, viel zu früh zu Ende. Es ist so, dass sie, H., der festen Überzeugung ist, von Adam und Eva unmittelbar abzustammen. Da sie jedoch nicht dogmatisch lebe und denke, wäre sie bereit, zu akzeptieren, dass ich, Louis, ein Affenmensch sei oder eben ein Menschenaffe. Wir lachen ganz herzlich. It works! — In der vergangenen Nacht habe ich mein Radio gelehrt, in der beruhigenden Sprache der Nachtzikaden zu sprechen. Guten Morgen! – stop
aylan kurdi
sierra : 23.25 — Ich hatte bis zum späten Abend keine Zeitung gelesen und auch die Fernsehmaschine nicht angestellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, fragte, ob ich die Fotografie mit dem Jungen gesehen hätte, der aus Kobane geflüchtet, vor einem Urlauberstrand der Türkei ertrunken und Land gespült worden sei. Er sagte, er habe mir die Aufnahme gerade eben geschickt, und ich hörte genau in diesem Moment das Geräusch einer ankommenden E‑Mail mit dem Betreff: Der Junge. Eine halbe Stunde später öffnete ich die Datei. Auf der Fotografie war der Körper eines Kindes am Strand zu erkennen, einsam, unendlich einsam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrunken war, seinen Körper behutsam am Strand abgelegt, seht her, schaut was geschehen ist, öffnet die Grenzen, lasst Flüchtlingsmenschen endlich mit Flugzeugen zu euch kommen, wehrt sie nicht ab, errichtet keine Zäune, hört auf, Waffen zu liefern, mit welchen tatsächlich auf Menschen geschossen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekommen seid. Millionen elektrische Exemplare dieser Fotografie eines leblosen Kindes sollen sich innerhalb weniger Stunden um die Welt verbreitet haben, eine Fotografie, die nie wieder verschwinden wird, ein Gedächtnisbild möglicherweise, wie das Bild ( Pulitzerpreis 1973 ) der durch friendly fire schwer verletzten Kim Phúc und der Geschwister des Mädchens, fliehend auf einer Straße im Süden Vietnams, ein Gedächtnisbild, an das sich die Menschheit nun gewöhnen wird, das Bild betrachten und bedenken, damit es seinen Schrecken verliert, bis man es nicht mehr wahrnehmen wird. Der Name des Jungen: Aylan Kurdi. Er wurde 3 Jahre alt. Nicht alle werden sich gewöhnen. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billets beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um solange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken geworden war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
serpentine
MELDUNG. Man erzählt, ein Mobiltelefon, welches sich wahllos mit weiteren elektrischen Apparaturen verbinden wollte, habe am gestrigen Abend nahe King’s Cross in einem Wagon der Londoner Subway das plötzliche Ableben folgender Personen bewirkt: Henry L. Miller, 82, Eddy M. Litty, 91, sowie Lisbeth Fergurson, 78. Im Hyde Park, westlich der Serpentines, sollen leuchtende Kühe unter Linden bei zärtlichem Liebesspiel beobachtet worden sein. — stop