india : 6.32 — Meine Schreibmaschine ist ein merkwürdiges Ding. Sie ist flach und sie verfügt über einen Bildschirm und außerdem über einen lichtempfindlichen Sensor, der ins Innere meiner Schreibmaschine zu melden scheint, ob Tag ist oder Nacht, ob Helle oder Dunkel. Ich habe soeben eine Viertelstunde nach der Position dieses Sensors gesucht, zunächst mittels meiner Augen selbst, etwas später mit einer Lupe, je ohne eine beweiskräftige Spur aufnehmen zu können. Es ist Samstag. Ich mag das Wort Samstag gut leiden. Gerade fällt mir ein, dass ich bald ein weiteres Jahr gelebt haben werde, ohne einen Finger verloren oder um einen Finger zugenommen zu haben. Oft, so auch heute, habe ich mich gefragt, wie sich ein nachwachsender Finger zunächst bemerkbar machen würde? Würde sich neben einem bereits existierenden Finger eine Fingerknospe bilden, die nach und nach sich zu einem vollständigen Fingerglied erheben würde? Oder würde sich vielleicht einer meiner älteren Finger in seiner Mitte teilen? Das sind sehr interessante Fragen, die vielleicht ein wenig unheimlich zu sein scheinen. Vor wenigen Stunden, das geht mir nicht aus dem Kopf, habe ich am Flughafen mit einem jungen Mann gesprochen, der in einem Waschraum stand und eine sehr traurige Geschichte erzählte. Manchmal musste er weinen. Seine Augen röteten sich und er beugte sich rasch über das Waschbecken und begann sein Gesicht mit Wasser zu benetzen. Dann richtete er sich auf, erzählte weiter und weinte erneut, um sich wiederum über das Waschbecken zu beugen bis er so nass geworden war, dass er stehenblieb und erzählte und weinte zur gleichen Zeit, ohne sich noch verbergen zu wollen. — stop
Aus der Wörtersammlung: fragen
falterherz
lima : 5.48 — Ich erinnere mich, im August des Jahres 2008 einen Strauß Fragen notiert zu haben. Ich wollte wissen, ob es Menschen möglich ist, einen alt und müde gewordenen Falter am offenen Herzen so lange zu operieren, bis er wieder fliegen kann? Wie also betäubt, wie beatmet man einen Falter? Mit welchen Materialien werden geöffnete Falterbrustkörbe günstigerweise wieder geschlossen? Ich habe auf diese Fragen bisher keine Antworten gefunden. Manchmal denke ich, dass das Sammeln seltener Fragen an sich ein großes Vergnügen bedeutet. Meine Fragen haben jedenfalls einen derart nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass ich keinen Falter, der seither nachts zu mir zu Besuch gekommen ist, betrachten konnte, ohne sofort an die Möglichkeit einer Notoperation zu denken. – Freitag. Regen. Kühle Luft. — stop
zezito lopes
india : 0.05 — Während Zugfahrt nach einer Textstelle in Pete L. Munkis Roman Nautilus gesucht, die ich vor einigen Tagen markiert hatte, um sie bei Gelegenheit noch einmal lesen zu können. Der Erzähler der Geschichte, ein junger Mann namens Zezito Lopes, ruhte im 10. Stock eines Hauses in der Lexington Avenue auf einer Treppenstufe. Früher Nachmittag. Ein schwerer Behälter von gepanzertem Glas, in dem sich zwei Molluskenfische der Gattung Nautilus befanden, stand neben dem wartenden Mann auf dem Boden. Ich erinnere mich, dass der junge Mann, er war ein gut trainierter Träger, sich kurz darauf erhob, um an einer der Wohnungstüren, die auf den Flur führten, zu klingeln und nach einem Glas Wasser zu fragen. Unverzüglich wurde geöffnet, ein Gespräch entwickelte sich, in dessen Folge Zezito Lopes sich bückte, seinen gepanzerten Behälter in die Hände nahm und mit ihm in der Wohnung verschwand. So weit, so gut. Als ich nun aber das Buch im Zug öffnete, konnte ich die markierte Textstelle nicht finden. Sofort der Gedanke, ich hätte möglicherweise fantasiert, eine beunruhigende Vorstellung. Nicht minder beunruhigend scheint mir in diesem Moment der Gedanke zu sein, das Buch selbst könnte sich verändert haben, weiter- oder umgeschrieben worden sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte. Eine Nacht leichter Verwirrung. Das Beste ist, einfach weiterzumachen. — stop
windrad
bamako : 8.05 — Auf meiner letzten Ruhestätte könnt einmal ein Windrad stehen. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung. Ob man vom Musikgeräusch etwas vernehmen könnte an der Erdoberfläche? Wie würden Eichhörnchen reagieren? Ob sie sich vielleicht um die Musik, die aus dem Boden kommt, versammeln werden? All diese Fragen. — stop
die stimme meines Vaters
ulysses : 22.18 — Im Sommer des Jahres 2007, während ich gerade an meiner Birdymaschine arbeitete, telefonierte ich mit meinem Vater. Es war eine warme Zeit gewesen, die Fenster im weit entfernten Arbeitszimmer standen offen. Ich hörte über eine Telefonleitung, die vermutlich durch den Weltraum führte, Vögel im Garten pfeifen. Und da war noch etwas anderes, da waren Funkgeräusche und der Gesang der Wale und ein Raspeln, das Stimmgeräusch Birdys. Ich erinnere mich, mein Vater beobachtete in jenem Sommer Birdy täglich stundenlang vor seinem Computer sitzend. Sobald er einen Fehler bemerkte, meldete er den Fehler unverzüglich an mich weiter. Er nahm in dieser zeitlichen Nähe Instrumente der kleinen Erzählmaschine wahr, die ich gerade erst in Betrieb genommen hatte. Von jeder Entdeckung berichtete er in einer Weise, als ob er der erste Mensch gewesen sei, der sie zu Gesicht bekommen hatte, aufgeregt, kommentierend, fragend. Ein sanfter Gedanke an einem Tag, da ich seit wenigen Stunden weiß, dass ich die Stimme meines Vaters nie wieder hören werde. — stop
steinuhren
delta : 0.01 — Wieder die Fragen: Existieren steinerne Uhrwerke, die aufziehbar sind? Welche Gesteine präzise würden als Uhrwerkfedern dienen? Wie schwer oder leicht würden steinerne Uhrwerke sein? Wären diese Uhren tragbare Uhren? Wären sie genau? Könnte ein Mensch sie mit der Kraft seines Körpers bewegen? — stop
minutengeschichten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : MINUTENGESCHICHTEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Grüß Euch ganz herzlich! Früher Morgen hier unten bei uns. How are you doing? Ich hatte, seltsame Sache, in der vergangenen Nacht das Gefühl, irgendjemand würde mir, während ich mit meinem Bleistift arbeitete, über die Schulter schauen. Mehrfach habe ich mich umgesehen, auch vorgegeben, rein gar niemanden bemerkt zu haben, und dann plötzlich, na, Ihr wisst schon, ich bin mir sicher, Ihr wart in meiner Nähe gewesen, wie noch vor wenigen Wochen, als ich unterwegs war in New York, da habe ich Euch leibhaftig gesehen nachts an Bord der John F. Kennedy – Fähre, wie ihr übers Salondeck huschtet, Gespenster, würde man vielleicht sagen, Geister, reizende Erscheinungen. Sagt, habt Ihr nun gelesen, was ich notierte? Jenen kleinen Text der Minutengeschichten, den ich so gern mit der Hand wiederhole in schweren Zeiten? Ich schick ihn Euch zur Sicherheit noch einmal mit, ja, ja, die Büchermenschen, das solltet Ihr wissen, das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden- und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. – Ahoi! Euer Louis — stop
gesendet am
13.03.2012
06.05 MEZ
3015 zeichen
zikaden
alpha : 0.50 – Einem Menschen vorzulesen, von dem ich nicht weiß, ob er mir zuhören kann, ob er vielleicht schläft oder beides. Ja, eine solche Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht von Zeit zu Zeit, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinen Atem. Manchmal ging ich spazieren in der Wohnung oder in den Garten. Es war August, eine Handvoll Zikaden musizierte, schwüle, süße Luft. Dann wieder am Bett. Mit Mühe die Augen offengehalten. In der Küche Kaffee gemacht. Nach Atem gelauscht. Das Buch geöffnet und weitergelesen. Stimme, manchmal fragende Stimme: Hörst du mich, hörst Du mir zu? Soll ich weiterlesen? Also lese ich weiter, ich lese Ágota Kristóf, ich lese davon, wie man Schriftsteller wird. Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben. Selbst wenn es niemanden interessiert. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass es niemals jemanden interessieren wird. Selbst wenn die Manuskripte sich in den Schubladen stapeln und man sie vergisst, während man neue schreibt./ Am Anfang gab es nur eine einzige Sprache. Die Objekte, die Dinge, die Gefühle, die Farben, die Träume, die Briefe, die Bücher, die Zeitungen waren diese Sprache. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine andere Sprache geben könnte, dass ein Mensch ein Wort sprechen könnte, das ich nicht verstehe. — Ja, es war Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinem Atem zu. — stop
central park : grammophon
foxtrott : 0.15 — Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich soeben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. — stop
manhattan midtown — käfer der stille
echo : 0.18 — Wie viele Cent würden Käfer kosten, die sich in meine Ohren schmiegen und von der Stille summend erzählen? In welcher Art Wohnung hausen Käfer, die von der Stille erzählen? Was und wie viel würden sie fressen? Sind Orte bekannt, da ihre Lieblingsspeisen zur Abholung lagern? Leben Käfer der Stille für sich oder leben sie in Gruppen? All diese Fragen! All diese Fragen! — Ich habe ein kleines Loch in den Zeigefingerstrumpf meines rechten Handschuhs fabriziert, um in der Kälte meine iPad-Schreibmaschine bedienen zu können. Aber es ist warm geworden in New York. 15 °C. Regen. Alles dampft. Auf den Dächern der Häuser schnurren die Turbinen. — stop