nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
Aus der Wörtersammlung: handschriftlich
handschreiben
echo : 0.28 UTC — Vor vier Jahren einmal dachte ich: Von mir sollte etwas Handschriftliches existieren. Ich sollte also mit der Hand schreiben, eine Spur von Hand notieren. Und ich dachte: Womit fange ich an? — Heute denke ich: Ich könnte von der Stadt Mariupol erzählen, in dem ich mit der Hand Sätze, die aus dem Radio dringen, auf dem Papier sichtbar werden lasse. Das Radio erzählte vor wenigen Minuten noch, die Luft der Stadt Mariupol berichte von Toten, die noch immer in ihren Wohnungen liegen. — stop
spur
echo : 0.12 UTC — Plötzlich dachte ich: Von mir sollte etwas Handschriftliches existieren. Ich sollte also mit der Hand schreiben, eine Spur von Hand notieren. Wo fange ich an? — stop
tasmanien
echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
kalkutta
delta : 5.02 — Ein Brief, 12.5 Gramm schwer, den ich vor zwei Jahren als Sonde per Luftpost nach Kalkutta schickte, ist gestern zu mir zurückgekommen. Irgendwann während der vergangenen Monate muss ich ihn doch tatsächlich vergessen haben. Jetzt, da der Brief vor mir auf dem Schreibtisch liegt, erinnere ich mich präzise, dass ich ihn an ein zweistöckiges Haus in einer Straße adressierte, die sich nicht in unserer Wirklichkeit befindet. Da in Kalkutta zahlreiche straßenlose Häuser existieren sollen, stellte ich mir vor, ein Briefträger habe sich in dem Wunsch, meinen Brief erfolgreich zustellen zu können, ein Haus ausgedacht, das an einer Straße liegt, die tatsächlich existiert, oder eine Straße, die nicht existiert für ein Haus, in dem ein Mann namens Sini Shapiro lebt. Spuren, die ich auf dem Kuvert des Briefes entdeckte, erzählen von drei oder vier Versuchen, das Schriftstück an Mr. Shapiro auszuhändigen, so finden sich auf der Ansichtsseite des Briefes die Stempelmotive Adresse insuffisante (Anschrift unvollständig) sowie Pas de boîte à ce nom (Kein Namensschild), auf der Rückseite indessen unlesbare handschriftliche Zeichen, die mit Füllfeder oder Bleistift aufgetragen worden waren. Möglicherweise lagerte mein Brief zwei Jahre lang auf einem Schreibtisch in Kalkutta unter weiteren Briefen, die nicht zustellbar waren. Möglicherweise, auch das ist denkbar, wurde von Zeit zu Zeit ein postalischer Späher in die Stadt entsandt, um nachzusehen, ob das Haus oder die Straße, die kurz zuvor noch nicht existierten, nun doch zu finden waren. Kürzlich wurde dann jeder weitere Zustellungsversuch aufgegeben. Ja, das ist denkbar. Ich werde meinen weit gereisten Brief sorgfältig verwahren. Sicher ist: Mr. Sini Shapiro existiert tatsächlich. Er lebt in Manhattan in einem Haus an der Park Avenue Höhe 70. St., er liebt Brooklyn. — stop
pocket george
tango : 2.58 — George schrieb vor wenigen Tagen einen handschriftlichen Brief. Er wende sich mit einer dringenden Bitte an mich, er benötige etwas Geld, weil er im Moment zu wenig davon habe. Seine Telefonrechnung sei ihm über den Kopf gewachsen, außerdem habe er sich bei einem Auftrag für den Druck eines Buches vertippt, er habe anstatt 200 Exemplaren 20000 Exemplare seiner Geschichte vom Walfischorchester bestellt. Diese wunderbare Auflage sei prompt und ohne jede Nachfrage geliefert worden. Während er sich noch wunderte, wie ein Paket nach dem anderen Paket von drei oder vier Männern in seine Wohnung verfrachtet wurde, war bereits ein erheblicher Betrag von seinem Konto abgebucht, sodass er jetzt kaum noch die Möglichkeit habe, sich Brot, Käse oder Wasser zu besorgen, er sei verschuldet bis über beide Ohren hinaus bereits seit drei Monaten. Natürlich habe er gehofft, aber sein Hoffen habe nicht gewirkt, nun seien nicht nur er selbst, sondern auch seine Archive bedroht, die er in digitaler Sphäre auf Position POCKET gesammelt habe. Ihm sei damit gedroht, bei weiterem Zahlungsverzug, sein professionelles Konto unverzüglich in ein nicht professionelles Konto zu verwandeln, seine Daten würden verloren gehen, weswegen er nun sehr verzweifelt sei, nicht nur verzweifelt, sondern müde, er zögere, seinen Computer überhaupt noch mit dem Internet zu verbinden, weil das Internet dann seine Daten sogleich aus seinen Speichern zurückholen würde, er habe nicht geahnt, dass er einmal in eine derart verzweifelte Lage kommen, dass sich das Internet als ein derart gefräßiges Tier darstellen würde, welches seinen Computer, seine Sammlung aus dem Web verschwundener Seiten an sich reißen würde, man kann mit diesen Raubtieren nicht einmal telefonieren, schrieb George vor wenigen Tagen.- stop
kym
delta : 5.05 — Gestern Abend entdeckte ich einen Brief, den ich vor langer Zeit einmal erhalten und damals nicht geöffnet hatte. Im Brief befand sich ein von handschriftlichen Zeichen bedecktes Stück Papier, weiterhin eine Fotografie, die einen blühenden Garten zeigt. Außerdem bewahrte das Kuvert, welches den Brief umhüllte, eine hauchdünne, in Seidenpapier eingeschlagene Scheibe Christstollens, die steinhart geworden war. Der Brief wurde einst von meiner Großmutter auf den Weg gebracht, sie ist längst gestorben. Ich legte das Gebäck, – Rosinen, Anis, Zimt, Marzipan, Mohn, – vorsichtig auf einen Teller ab, bald landeten Fliegen auf der Zuckerscheibe. Kurz darauf näherte sich eine Zebraspringspinne, sodass ich mittels meiner Lesebrille dramatische Szenen beobachtete. — Dämmerung. Große Hitze unter dem Dach. Maceo Parker Shake everything you’ve got. — stop
ein pinguin
india : 6.38 — Ludwig, ich traf ihn am Freitagabend während eines Spaziergangs zufällig unten am Fluss, erzählte von einem Experiment, das er vor wenigen Wochen im April gestartet haben will. Es gehe, sagte Ludwig, um den Versuch, Luftpostbriefe nach Aleppo zu verschicken. Weder habe er selbst Freunde noch Familienangehörige in Aleppo, trotzdem habe er ein gutes Dutzend Briefe in die zerstörte Stadt geschickt, zufällige Straßen, zufällige Häuser, zufällige Namen. Eine Freundin habe ihm bei seiner Arbeit geholfen, Lucille, die die arabische Sprache mühelos sprechen und schreiben könne. 5 seiner Briefe seien nach wenigen Tagen bereits zurückgekommen, sie waren je mit einem handschriftlichen Vermerk in deutscher Sprache versehen: Zurzeit nicht zustellbar. 12 weitere Briefe seien noch verschollen, 1 Brief war jedoch zu ihm zurückgekehrt. Der Brief schien tatsächlich bis in die Stadt Aleppo gekommen zu sein, ein Stempel in französischer Sprache begründete die Rücksendung des Briefes: Adresse insuffisante. Diese Nachricht hatte Ludwig erwartet, nicht aber, dass auf dem Briefumschlag selbst eine Nachricht in der Gestalt eines handgezeichneten Pinguins hinterlassen worden war. — stop
von fröschen
echo : 5.16 — Ein Buch, das ich gestern in einer Postfiliale, Prenzlauerstraße 86, abholen wollte, war nicht erreichbar, da die Postfiliale, die mich von der Lagerung des Buches telefonisch unterrichtet hatte, geschlossen werden musste, die Angestellten der Filiale sind in einen Streik getreten. Das war nicht weiter schlimm, weil vorsorglich am Abend zuvor Briefe und Büchersendungen in eine benachbarte Postfiliale abtransportiert wurden, wie eine handschriftliche Notiz bezeugte. Ich setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr in die Berlinerstraße 8, wo sich mein Buch inzwischen aufhalten sollte. Aber auch dort war niemand anzutreffen, allerdings der Hinweis, alle Sendungen dieser Filiale, sowie übernommene Sendungen der Prenzlauerstraße 86, seien wegen außerordentlicher Betriebsversammlung in die Filiale am Madrider Platz verbracht. Zügig radelte ich weiter, eine doch beträchtliche Strecke war zurückzulegen quer durch die Stadt, es regnete, und ich dachte noch, der Himmel scheint beheizt zu sein, sommerlich warmes Wasser, die Luft duftete nach Flieder, über den Asphalt der Straßen hüpften tausende umbrafarbene Frösche, weiche Körper, lautlos, klaglos. Nahe dem Madrider Platz, unter Kastanienbäumen, hockten ein paar Leute wie unter Schirmen dicht an dicht. Es wurde langsam dunkel. Ich meine, zu diesem Zeitpunkt bemerkt zu haben, dass man an der Art und Weise, wie Menschen sich Schutz suchend auf den Boden setzen, erkennen kann, wie alt sie sind. – stop
von stäbchen von rädchen
delta : 6.12 — Im Traum hatte ich an einer Apparatur gearbeitet, mit deren Hilfe ich bald in der Lage sein werde, handschriftliche Notizen derart zu verkleinern, dass ich Papiere von der Größe einer Briefmarke beschreiben könnte, sagen wir, eine Erzählung von 85 Seiten à 1800 Zeichen auf einer Luftpostmarke Finnlands zu 80 Cent. Ich könnte in dieser Arbeit der Verkleinerung oder Verdichtung auf eine Lupe verzichten, würde auf üblichen Papieren notieren, während mittels mechanischer Übertragung, fast geräuschlos von hunderten Stäbchen zu hunderten Rädchen, Zeichen für Zeichen in mikroskopische Dimensionen transkribiert werden würde. Eine Bibliothek könnte in wenigen Jahren mit mir in einem Briefmarkenalbum reisen, eine Bibliothek, deren Mikrogrammbücher selbstverständlich nicht lesbar wären, ohne sie unter ein Mikroskop zu legen, eine Bibliothek jedoch, die mich glücklich stimmen würde, ich wüsste, dass sie existiert und mit ihr die Möglichkeit des Lesens all der versteckten Geschichten, die im Moment des erinnernden Gedankens, schon wieder so groß geworden sind, wie sie immer waren. — stop