india : 15.03 UTC — Vor wenigen Stunden war ich im Stadtwald spazieren. Ich ging um einen Teich herum, in dem Schildkröten unter der Wasseroberfläche gegeneinander kämpften. Plötzlich hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand möchte Dich wecken. Und ich dachte, Du kennst diese Geschichte, das hast Du schon einmal geträumt. Du musst zunächst versuchen, wach zu werden, dachte ich. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich wanderte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich bemerkte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: leben
von sammlern
echo : 22.01 UTC — Weil ich mich nun für 12 Monate (oder längere Zeit) mit der Beobachtung von berühmten Käfersammlern beschäftigen werde, mit Ernst Jünger, zum Beispiel, oder Carl von Linné, nach ihrem Wesen, ihren Sammlermotiven, ihrer Leidenschaft fragen, erinnerte ich mich an einen Brief, den ich vor langer Zeit einmal an Jean-Henri Fabre in der Hoffnung sendete, er würde doch irgendwie in der Lage sein, ihn wahrzunehmen. Ich notierte: Mein lieber Monsieur Fabre, an diesem wunderschönen, eiskalten Dezembertag gegen Zehn, habe ich entlang Ihrer feinen Zeichenkette die Besteigung des Mont Ventoux in Angriff genommen. Nun bin ich wieder einmal begeistert von hinreißender Landschaft, von der dünner werdenden Luft, von Ihren geliebten Wespen, die ich noch nie in meinem Leben mit eigenen Augen wahrgenommen habe. Heute Morgen sehr früh, als ich vor dem Fenster saß und meine Polarspinne beobachtete, wie sie sich freute, nach einer sehr langen Zeit im Eisfach endlich unter der freien, kalten Luft die Sterne betrachten zu können, hatte ich die Genauigkeit Ihres Sehens erinnert, die Geduld Ihrer Augen, und sofort in Ihr kleines, bedeutendes Buch von der Poesie der Insekten geschaut. Man kann das Atmen vergessen. Wie lange Zeit werden Sie wohl eine grabende Sandwespe betrachtet haben, ehe Sie einen ersten Satz formulierten? Und was, zum Teufel, hatten Sie unter der Lupe, als Nadar Sie fotografierte? — Ihr Louis, mit besten Grüßen. — stop
unterwegs in den wolken
delta : 5.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, solch ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — stop /koffertext
auf dem friedhof
bamako : 20.16 UTC – Es war im Traum ein Sommerabend, schon Dämmerung. Ich spazierte über einen vertrauten Friedhof. Vertraut der Friedhof darum, weil ich schon als Kind dort gewesen war. Auf dem Friedhof lagen viele Menschen in den Gräbern, die ich, das Kind, noch kannte, da waren sie sehr lebendig und mächtig, weil eben erwachsen gewesen. Nun waren sie tot und dringend auf Hilfe angewiesen. Im Traum waren plötzlich Lichter in der Luft, sie kamen vom Westen her angeflogen, verteilten sich über den Kronen der alten Bäume, um kurz darauf langsam abzusteigen. Ich saß im Traum am Grab meiner Eltern, beobachtete aus nächster Nähe, wie sich eine Drohne näherte. Über einem Plateau von Handtellergröße hielt sie inne. Die Drohne summte sehr schön. Bald öffnete sich ihr transparenter Leib, die Drohne setze behutsam mittels einer Greifhand von blitzendem Metall ein Teelicht ab. Kurz darauf schloss sich ihr Bauch und sie flog schnell davon, auch Hunderte weiterer Drohnen summten da und dort. Licht nun über und unter den Bäumen. — stop
lichtbild
alpha : 20.22 UTC — Einmal, vor zwei Jahren, notierte ich eine Geschichte, von der ich damals dachte, sie würde für reine Erfindung gehalten, weil kaum vorstellbar gewesen war, was ich in wenigen Sätze erzählte. Ich hatte mein Fernsehgerät beobachtet, dort waren auf dem Bildschirm Menschen zu erkennen gewesen, die auf Wagondächern eines Güterzuges von Mittelamerika aus durch Mexiko nach Nordamerika reisten. Eine gefährliche Fahrt, junge Männer, aber auch junge Frauen, immer wieder, so erzählt man, wurden sie beraubt oder fielen auf die Geleise und wurden vom Zug überrollt oder von Blitzen heftiger Gewitter getroffen. Lang waren die Überlebenden bereits unterwegs gewesen, hatten nach einiger Zeit kaum noch zu essen oder zu trinken. Hunger und Durst würden sie ganz sicher gezwungen haben, vom Zug zu springen, wenn da nicht weitere Menschen gewesen wären, arme Menschen, die entlang der Zugstrecke warteten, um den Zugreisenden Wasser und Nahrungsmittel in Tüten zuzuwerfen. Eine Frau, Maria, erzählte, sie und ihre Familie würden immer wieder hierherkommen zu den Zügen mit ihren Broten, dabei hätten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Wenige würden sie gerne teilen, immerzu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unternehmen, um den Flüchtenden zu helfen. Bald verschwand sie aus dem Bild, trat in den dichten Wald zurück, auch der Zug entfernte sich langsam. — Lichtbilder, das ist denkbar, die erinnert werden, verdichten sich, werden zu Bildern, die wie von selbst zurückkehren. Es scheint so wie mit Lügen zu sein, die X Male wiederholt, schrittweise scheinbar zu Wahrheit werden. — stop
radionuklid
alpha : 10.08 UTC — In der Vergangenheit, heute wieder, habe ich mir oft gewünscht, mein Leben würde aus der Sicht eines Vogels aufgezeichnet, aus der Sicht eines Vogelwesens, das mich begleitet, Gespräche beispielsweise, die ich täglich mit Menschen führe oder heimliche Gespräche mit mir selbst. Auch würde aufgenommen, was ich gesehen habe, während ich reiste, einen Kentauren auf einer der Uschkanji-Inseln, Regentropfen am Strand von Coney Island, eine Ameise auf Georges Perec’s Schulter während einer Fahrt in der Pariser Metro, meinen schlafenden Körper. Manchmal ist es angenehm, sich zu wünschen, was nicht möglich zu sein scheint, eine große Freiheit der Spekulation. In den vergangenen Jahren wurde mir immer wieder einmal bewusst, dass die Verwirklichung eines mich begleitenden Vogelwesens nicht länger utopisch ist. Ich vermag mir eine fliegende Maschine, ohne weitere Anstrengung vorzustellen, ein künstliches Luftwesen, vier Propeller, angetrieben von einer leichten Radionuklidbatterie, die sich tatsächlich für Jahrzehnte an meiner Seite in der Luft aufhalten könnte, ein beinahe lautloses Wesen in der Gestalt eines Kolibris, eines Taubenschwänzchen oder einer Biene. Kaum wird das Flugobjekt aus seiner Transportbox gehoben und aktiviert, wird es für immer meiner Person verbunden sein, meinem persönlichen Luftraum, den ich mit mir führe, wohin ich auch gehe. Seltsam ist vielleicht, dass es gleichwohl unmöglich sein wird, dieses Wesen je wieder einzufangen, weil es sehr schnell ist in seinen Reaktionen, schneller als meine Hand, schneller als eine Gewehrkugel, ein Wesen, das über die Flugfluchtfähigkeiten einer Stubenfliege verfügt. — stop
wieder koffer unsichtbar
alpha : 19.52 UTC — An diesem Abend spaziere ich hinüber zum Friedhof, um zwei Kerzen anzuzünden auf dem Grab meines Vaters, das nun auch das Grab meiner Mutter sein wird. Vater ist also schon da, und Mutter wird bald hierher zu ihm kommen. Das gefrorene Gras knistert unter meinen Schuhen. Es ist still, der Sternhimmel klar. Viel schöne kleine Lampen leuchten unter den Bäumen. Ein paar Katzenaugen werden auch darunter gewesen sein. Auf dem Heimweg erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren notierte. Sie geht so: Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop
libellengeschichte
echo : 1.28 — Heut Nacht sitz ich zum fünften Male im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich vor einigen Jahren einmal gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte vom Tee, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Ich dachte, vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte Geschmack gefunden an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich in zahlreichen Nächte seither je einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um kurz darauf das Licht zu löschen. Dann warten und lauschen. Auch jetzt höre ich seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
erste fotografie
tango : 15.00 UTC — Ich habe sie heute wiederentdeckt in einer Schachtel, die ich unter meinem Sofa versteckte, eine Fotografie, die zeigt, wie ich kurz nach meiner Geburt ausgesehen habe. Ich war schon geputzt, aber noch immer zerfurcht vom langen Warten unter Wasser. Vor vielen Jahren, als ich mich an diese erste Fotografie meines Lebens erinnert hatte, war mir bewusst geworden, dass eines Tages einmal eine weitere Fotografie existieren wird, eine Fotografie, die die letzte Aufnahme gewesen sein wird, meiner Person als einer lebenden Person. Auch war mir bewusst geworden, dass das ZUR WELT KOMMEN mit Entfaltung zu tun haben könnte. Mein erster Schatten. Ich wäre im Jahr meiner Geburt in Farbe bereits möglich gewesen. — stop