delta : 18.28 UTC — Abends kommt sie mir entgegen im Treppenhaus 2. Stock. Sie geht sehr langsam, rechte Hand am Geländer, ihre weitere Hand stützt auf ihrem linken Oberschenkel, derart drückt sie sich Stufe für Stufe zur Wohnung hoch. Sie sieht, dass ich oben auf dem Treppenabsatz warte, damit ich Platz machen kann, damit wir uns nicht zu nahe kommen. Vermutlich erkennt sie mich bereits an den Schuhen. Von unten ruft ein junger Mann, der ihr den Einkauf nach oben trägt, er gehe jetzt los. Und wie sie an mir vorüber kommt, sie lächelt hinter dem Mundsegel, entdecke ich, dass das schwere dichte Segel zu einem leichteren Segel geworden ist, das knistert, indem sie ein- oder ausatmet. Zwei Tage später höre ich, sie sei geimpft worden. Ihre dunklen Augen, ich erinnere mich, funkelten im Halblicht. Sie trug Sommerschuhe. Und sie wusste in ihrem beschwerlichen Aufstieg vermutlich schon, dass sie am Abend, begleitet vom geduldigen jungen Mann aus dem ersten Stock, mit ihrem Rollwägelchen in den nahen Park spazieren würde, um einer Bekannten Pfandflaschen weiterzureichen. Es sind dieses Mal nicht so viele, wird sie vielleicht entschuldigend sagen. — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Straße tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran, so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind außerdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachtrassen zur Zeit der Ausgangssperre: 150 €. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
luftschreiben
charlie : 6.55 UTC — Beim Nachbarn im Keller ruht auf einem kleinen runden Tisch, der von Wachsflecken bedenkt ist, eine mechanische Schreibmaschine. Immer wieder einmal denke ich an diese Schreibmaschine, wenn ich in den Keller absteige, um nach dem Stromzähler zu sehen. Gestern war sie noch immer dort in gelblichen Licht auf dem Tisch zu sehen, bedeckt von etwas feuchtem Staub und Mörtel, der von der Decke fällt, sobald die Erde bebt unter der Stadt. Ich dachte, ich sollte mir eine mechanische Schreibmaschine in die Wohnung holen, das Schreiben wiederholen wie früher noch ohne Möglichkeit einer Korrektur, auch mit der Kraft der Hände arbeiten. Da sind Geräusche der Kinderzeit, sofort kann ich sie aus dem Gedächtnis holen, wie ich mit jeder Taste einen Ton anschlage, manchmal so sanft, so vorsichtig, dass ich das Papier, das über einer Walze spannt, mit dem Druckzeichen nicht erreiche, dass ich, sagen wir, Zeichen in die Luft setze, weich. — stop
loop
romeo : 0.58 UTC — Noch ehe ich das Fernsehgerät in Gang setze, weiß ich was gespielt wird. Vielleicht wird es mich im Herbst wieder fröhlicher stimmen? Seit heute verfüge ich über einen feinen Pinsel, mit dem ich Kaffeepuder aus den Magazinen meiner Kaffeemühle fächern werde. Als ich Kind war, lernte ich, dass ich mit einem Pinsel dieser Art nicht in Farbtöpfe fahren darf. Wie es wohl kommt, dass Geschichten plötzlich wie aus dem Nichts entstehen? Die Geschichte von den Apfelbäumen zum Beispiel. Im Radio morgens noch war von Haarpinseln und Bienen die Rede gewesen. — stop
kabinenlicht
romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schlafe, wache ich immer wieder einmal auf, während meine Hände weiterschlafen. Das ist seltsam, meine Hände wachen zurzeit ein wenig später auf als ich selbst. Ich trete ans Fenster. Manchmal ist früher Morgen. Es ist noch dunkel. Straßenbahnen queren den Platz weit da unten. In ihrem Kabinenlicht sitzen Menschen mit Masken vor Mund und Nase. Es sind dieselben Personen, wie mir scheint, die ich gestern am Abend bereits durch mein Opernglas beobachtet habe. Sie werden vermutlich für das Umherfahren bezahlt. Zwei Tauben sitzen tief unter mir auf einer Straßenlaterne, sie schlafen wie meine Hände, die nun langsam wach werden, weil ich mit ihnen schreibe. Guten Morgen! — stop
ai : CHINA
MENSCH IN GEFAHR: „Die Bürgerjournalistin Zhang Zhan (张展) ist von der Polizei in Shanghai inhaftiert worden und wird zurzeit im Gefängnis des neues Bezirks Pudong festgehalten. Sie ist willkürlich inhaftiert, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt hat. Diese Recht ist in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verankert. / Zhang Zhan reiste im Februar 2020 nach Wuhan, um über den Ausbruch von Covid-19 zu berichten. She berichtete über die Inhaftierung unabhängiger Reporter_innen und die Schikane der Familienangehörigen der Betroffenen. Am 15. September wurde sie angeklagt, “Streit angefangen und Ärger provoziert” zu haben (寻衅滋事罪). Darauf stehen bis zu fünf Jahre Haft. Ihr droht diese Haftstrafe nur aufgrund ihrer Berichterstattung über einen Sachverhalt von öffentlichem Interesse. / Zhang Zhan trat in den Hungerstreik, um gegen ihre Inhaftierung zu protestieren und ihre Unschuld zu betonen. Obwohl sie die Absicht hatte, den Hungerstreik fortzusetzen, sollen Gefängnis-beamt_innen ihr gegen ihren Willen Nahrung verabreicht haben. Sie muss darüberhinaus Fußfesseln tragen und ihre Hände sind seit über drei Monaten Tag und Nacht gefesselt. Diese Maßnahmen verstoßen gegen das absolute Verbot der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und stellen eine Verletzung der Verpflichtungen Chinas unter internationalen Menschenrechtsnormen dar. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf den Gesundheitszustand von Zhang Zhan geben Anlass zu großer Sorge. Ihr Zustand hat sich seit September sehr verschlechtert.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
schwarmerzählung
nordpol : 15.08 UTC — In den Monaten Dezember und Januar lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Akutagawa . Ammerseestraße . Aquarianergeschichte . Birders . Blütenbestäuber . Drohnenleuchten . Drohnenwabe . Erzählräume . Favicon.ico . Heron . Karpenzungenpastete . Holzstegfeder . Kolonialwarenladen . Lichtenbergfalter . Lichtfangmaschine . Lochplattenspieldose . Makitage . Mundnasemaske. Mundschutzalgorithmus . Nashornkäfer . Pistazienhühnchen . Rückenpropellerdrohne . Pigafetta . Propellerkäfer . Perlschiff . Picon . Schneekugelgestalten . somnolent . Schwarmerzählung. — stop
augenaffe
ulysses : 17.02 UTC — Lesen in der digitalen Sphäre wie Netzwerken folgen, Flüssen, die kein Ende finden. Lesen also von Stunde zu Stunde, auf einer Spur sich weiter hangeln, ein Augenaffe, durch Blattwerk, das unendlich geworden zu sein scheint. Ich sollte eine Uhr stellen, die mich weckt. Oder eine Uhr, der ich erlauben werde, das Licht über dem Schreibtisch auszuschalten oder meine Schreibmaschine selbst, die zum Schreiben nämlich, nicht zum flüchtigen Lesen bestimmt worden ist. — stop
wolken
quebec : 22.45 UTC — Unlängst meinte ich den Begriff Cordon sanitaire verstanden zu haben, ein zunächst schönes Geräusch war zu einer unheimlichen Geschichte geworden, die ich selbst bewohne. Wenn ich in dieser seltsamen Zeit unter freiem Himmel spaziere, beobachte ich das Licht in den Fenstern der Häuser. Dort wiederum Menschen, wie sie auf die Straße spähen, oder das Licht der Fernsehgeräte, seltsam blau, immerzu blau, Rückzugsgebiete, sichere Orte oder Quarantänestationen. Ein Mann erzählt, er habe Furcht, sich zu bücken, um seine Schuhe zu binden. Er stellte sich vor, dort würde Viren warten, Virenwolken von Winden getragen über Gehsteige wandernd wie Sand über Meeresböden in Ufernähe. — stop
kolibri m5
india : 0.14 UTC — Es ist tatsächlich 0 Uhr und 14 Minuten, kurz nach Mitternacht. Ich habe lange Zeit gewartet, nämlich von 22 Uhr des vergangenen Tages an bis zu dieser Minute, um folgenden Text zu wiederholen, das heißt, ich werde Zeichen für Zeichen notieren, was ich vor Jahren bereits zur selben Stunde aufgeschrieben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tastatur? Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris herzukommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop