charlie : 20.01 — Die wundervolle Widersprüchlichkeit menschlicher Wesen. Wahrnehmen. Denken. Lernen. Leben. Jenseits der Schall-platten-sprech-automaten bewegt sich das Meer. — stop
Aus der Wörtersammlung: meer
schlaftastatur
tango : 0.01 — Ich träumt von grüner Nacht, wo Schneeflocken sich legten
auf die Augen des Meeres gleich Küssen. Arthur Rimbaud
murmansk
romeo : 0.15 — Ich war im Zug gestern Abend in Murmansk gewesen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewegendem Meer schindelte zu meinen Füßen. Ein rostiges U‑Boot war da noch und junge Matrosen, sie spielten mit Äpfeln und winkten. Indem ich so wartete und die Geräusche des Eises und die Stimmen der Seeleute bewunderte, flatterten Kolibris um meinen Kopf herum. Sie trugen winzige Pelzmützen und Pelzjacken und ihre Flügel brummten in der glasklaren Luft nordischer Mittagsstunde. Dann wachte ich auf, fuhr in einer Straßenbahn spazieren, öffnete meinen Koffer und schon ist Mitternacht geworden. Ob ich vielleicht noch immer schlafe, noch immer träume? — stop
siatista
ulysses : 15.02 — Nördliches Griechenland. Karge Landschaft. Man erzählte mir von Siatista, dort sollen Wölfe leben in den Bergen, aus welchen die Steine der Häuser der kleinen Stadt geschlagen sind. Im Winter fällt Schnee und bleibt liegen. Dann kommen die Wölfe näher heran, sind zu hören in den Nächten, ihr heulendes Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Menschen in dieser Gegend, die sich widersetzen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist, leben sie einfach weiter. Sobald ein Winter endet und die Berge blühen für eine kurze Zeit in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann, liegt eine junge Frau auf einer Wiese herum. Diese Wiese ist weiß von den Körben der Kamille, eine Wiese, die die Gestalt der jungen Frau erinnert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an derselben Stelle in den Himmel schaut und glaubt über ein Eismeer zu fliegen. Wenn man sie besuchen, wenn man sich neben sie legen würde, könnte man Geschichten hören, die sie mit tiefer Stimme sogleich erzählen wird. Dass sie blau war zum Beispiel, ein blau häutiges Kind, dass sie nicht atmen konnte in der ersten Stunde ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Wasser taufte, weil man glaubte, sie werde ihre zweite Lebensstunde nicht betreten. Dass sie sich im Alter von vier Jahren im Schnee verirrte, dass zwei Wölfinnen sie wärmten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Partisanentochter sei, dass sie mit den Schildkröten sprechen könne und den Schlangen, den Faltern, den Fliegen. Dann wird sie ein wenig schweigen und eine Handvoll Akazienblüten reichen, sie schmeckten vorzüglich, man müsse sie sich auf die Zunge legen und warten, bis sie schmelzen. Jetzt liegt die junge Frau wieder auf dem Rücken zum Eismeer hin, erzählt weiter, erzählt von den langen Wegen im Winter zur Schule und dass sie ein Jahr zurück das erste Mal das Meer gesehen habe. Ein großer Frieden. Ihre Stimme, die so seltsam tief ist. Das Brummen dreihundert Jahre alter Insekten. Auch Wölfe fressen weiße Blüten. — stop
lampedusa
echo : 10.25 — In der vergangenen Nacht kurz vor Europa sind 500 afrikanische Menschen mit ihren Booten für immer im Meer versunken. — Ist das eine Nachricht? — stop
kofferzimmer
echo : 2.18 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Sogleich weiter gedacht. Seltsame Kerne leise in meinem Kopf hin und her bewegt, jene von den Schlafwaben zum Beispiel, von Kofferzimmern, in welchen erwerbslose Menschen dämmernd lagern. Wie ihnen schmerzlos die Zeit vergeht, wie sie, von besseren Zeiten träumend, Blutkonserven aus ihren Knochen destillieren. Kaum hatte ich aufgeschrieben und mich gewundert über das, was ich dachte, stand ich wieder in der Küche, aß eine weitere Banane und einen Pfirsich zum Nachtisch. Dann, endlich, bemerkte ich Geraldines Sommerhut, sein Schaukeln auf atlantischen Wellen. Ungeheure Stille. Absolute Stille. In dieser namenlosen Stille, ein Hut allein auf dem Meer. Kein Schiff. Kein Land. Aber einhundert Seemeilenkreise von Stille in einem Bild, das ich niemals mit Augen sehen, sondern immer wieder nur denken werde. stop. Guten Morgen!
geraldine verliert ihren sommerhut
~ : geraldine
to : louis
subject : MEIN SOMMERHUT
Es ist windig heute, Mr. Louis, aber das Meer bewegt sich nicht. Kleinste Wellen nur, als würde das Wasser frieren. Weil dazu die Sonne scheint, hatte Papa am Vormittag den Schiffsfotografen und meinen Sommerhut mitgebracht. Jetzt schwimmt mein Hut auf dem Atlantik, weil ich einen Moment nicht aufgepasst und ihn nicht festgehalten habe. Bald werde ich eine Fotografie besitzen mit einem Hut, den es nicht mehr gibt. Eine lustige Geschichte, nicht wahr? Aber was erzähle ich Ihnen da für unwichtige Dinge? Ich muss immerzu an meinen kleinen, lieben Steward denken. Seit zwei Tagen liegt er in seiner Kajüte, weil er krank geworden ist. Nichts Ernstes, nur ein Schnupfen und etwas Husten. Und natürlich darf ich nicht zu ihm, ich könnte mich infizieren mit Himmelweißwas und das würde mich umbringen, sagt der Doktor, obwohl ich das nicht glaube, weil ich doch sehr verliebt bin. In zwei Tagen darf ich vielleicht zu ihm. Bis dahin schicke ich kleine Briefe, weshalb ich eigentlich überhaupt keine Zeit habe, an Sie zu schreiben. — Ahoi, Mr. Louis, Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 22.02.2009
22.18 MEZ
GERALDINE TO LOUIS / ENDE
luftpost
alpha : 23.52 – Einmal lag ein buntes Stück Papier auf meinem Schreibtisch, ein Luftpostbrief. Als ich das Couvert des Briefes genauer betrachtete, das heißt, als ich den Brief so nahe an meine Augen heranführte, dass ich die Stempeleinträge seiner Anschriftenseite entziffern konnte, bemerkte ich, dass der Luftpostbrief bereits vor langer Zeit in Europa aufgegeben und über den Atlantik geflogen worden war. In Santiago de Chile dann angekommen, konnte der Brief nicht zugestellt werden, vermutlich weil die Zeichen, die den Brief beschrifteten, kaum zu entziffern gewesen waren. Nach einigen Wochen Wartezeit, reiste der Brief, nun markiert mit einem Schildchen in blauer, spanischer Farbe: Imposible de entregar! *, über den Atlantik zurück, um sich nur wenige Tage später erneut auf den Weg über das Meer nach Chile zu begeben. Ein weiterer Schriftzug war hinzugekommen, ein feiner, aber großzügiger Stempelaufdruck: -Diese Sendung wurde von einem Blinden geschrieben!- Zwei frische Wertmarken, nichts sonst verändert. Und so machte sich der Brief bald darauf ein viertes Mal auf den Weg über das Meer wieder nach Europa zurück und landete, weiß der Himmel, warum, in meiner Nähe, in der Nähe meiner Schreibmaschine. — stop
* Nicht zustellbar
eine frage der winde
echo : 2.26 — Eine jedem Propellerkäfer zutiefst verbundene Leidenschaft ist, auf Bäumen zu sitzen und nach Winden Ausschau zu halten. Sie sind in diesem Warten und Schauen außergewöhnlich geduldige Persönlichkeiten. Wochen, gar Monate sitzen sie kaum wahrnehmbar in Gestalt kleiner Zigarren auf knorrigen Ästen, Stämmen und Blättern herum, indessen sie ihre Augen stets geöffnet halten, blaue, sehr blaue Augen, auch wenn sie schlafen, was nicht ganz sinnvoll zu sein scheint, weil doch heranwehende Winde eher zu hören, als zu sehen sind. Wenn man nun einen Propellerkäfer bei seiner leidenschaftlichen Arbeit, insbesondere den Präludien seiner Arbeit beobachten möchte, sollte man geduldig sein und immerfort an seiner Seite, weil man nie vorhersagen kann, ob ein Wind, der sich näherte, unserem Propellerkäfer gefallen wird. Manche Winde, so seltsam das erscheinen mag, noch feinste Stürme, die vom Meer her kommen, lassen unseren Propellerkäfer vollkommen kalt, während bereits die leiseste Ahnung ganz anderer Winde, heftigste Erregung erzeugen kann. Dann, von einer Sekunde zur anderen, ändert der Propellerkäfer seine Farbe, ob er will oder nicht, er sieht jetzt ein wenig so aus, als würde Feuer in ihm brennen. Seine Füße indessen haben kleine Zehen ausgefahren, Fantasien der Natur, rein nur zur Verankerung ausgedacht, weil der Propellerkäfer sich sofort wild entschlossen mit jedem seiner Propeller gegen den Wind stemmen wird. Stürme, gerade Stürme will er fangen. So sitzt er mit geschlossenen Augen hinter pfeifenden Rotoren bebend und knistert und wartet, wartet, bis all das wilde Wetter vorübergezogen sein wird. Der Ordnung halber sei Folgendes noch rasch gemeldet: Propellerkäfer sind friedvolle, aber doch gefährliche Wesen, sobald sie aufgeladen sind. Mal haben sie sechs, mal acht, mal zehn Propeller, die sie je in ihrem Leib verbergen, um für Wochen, für Monate wieder zur Baumzigarre zu werden. Jetzt hören wir sie leise und zufrieden knallen. — stop
elefanten
zoulou : 8.30 — In der vergangenen Nacht träumte ich eine lustige Geschichte, das heißt, ich träumte mich in ein Bild, das mir bekannt zu sein schien, weshalb ich ein Selbstgespräch führte, in etwa so, als würde ich einen Film kommentieren. Als ich wach geworden war, erinnerte ich mich, vor einiger Zeit eine Traumgeschichte aufgezeichnet zu haben, die von seltsamen Menschenohren erzählte. Und tatsächlich habe ich diese Geschichte und mit ihr den Traum der vergangenen Nacht soeben wiedergefunden, sodass heute Morgen nichts zu tun ist, als die Wiederholung des Traumes von den seltsamen Ohren und seinen Zeichenschatten auch an dieser Stelle zu dokumentieren. Ich saß also vor längerer Zeit und noch vor wenigen Stunden > in einem Café nahe einem Meer unter Männern, die Go oder etwas anderes spielten mit kleinen, runden, bernsteinfarbenen Steinen. Die Luft an diesem Ort war heiß und trocken, deshalb wunderte ich mich nicht, dass die Männer, die von hohem Alter gewesen waren, sich mit gewaltigen Ohren Luft zufächelten in der Art und Weise der Elefanten. Seltsame Geräusche waren zu hören, schwere, knarzende Töne, als würde an hölzernen Schrauben gedreht. Und doch war die Haut der Ohren so fein, dass man durch sie hindurch sehen konnte. Sobald sie hinter den verwitterten Köpfen zusammenschlugen, wurden die Augen der Herren zu Schlitzen, bewegten sich die luftigen Häute zurück, öffneten sie sich. Hinter dem Tresen dämmerte ein weiterer Mann, der hatte sich mit seinem Pergament das Gesicht zugedeckt. Ich betrachtete ihn eine Weile, und schon war ich, noch im Stehen, dem heutigen Tag zu eingeschlafen. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag.