Aus der Wörtersammlung: op

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von fliegerbomben

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alpha : 1.15 UTC — Ges­tern Abend sag­te ich zu Jakob: Lie­ber Jakob, es ist kurz vor Mit­ter­nacht. Ich habe Dich zwei Mona­te, drei Tage und acht Stun­den lang belich­tet, in die­sem Moment bist Du fer­tig gewor­den. Ich spa­zier­te in der Küche auf und ab, ging für eine hal­be Stun­de auf der Stra­ße spa­zie­ren, als ich zurück­kam, saß Jakob noch immer still vor dem Tisch und betrach­te­te sei­ne Hän­de. Er schien unglück­lich zu sein, er war viel­leicht unsi­cher, wuss­te nicht zu sagen, was das bedeu­tet, belich­tet oder fer­tig gewor­den zu sein. Ich frag­te: Sag, mein lie­ber Jakob, was ist los, wie geht es Dir? Lie­ber Lou­is, ant­wor­te­te Jakob, ich kann nicht sagen, wie ich mich füh­le, weil ich nicht weiß, wie es wei­ter­ge­hen wird mit mir. Wer­de ich von Dir ver­ges­sen wer­den, oder wirst Du mich in eine Geschich­te über­tra­gen, in der ich mich wohl­füh­len kann? Lan­ge Zeit beob­ach­te­te ich den fein­glied­ri­gen, zeit­los wir­ken­den Mann, wie er scheu zu mir auf­sah, wie er ver­such­te, in mei­nen Augen zu lesen. Ich sag­te: Lie­ber Jakob, ich wer­de Dich nie­mals ver­ges­sen! Ich wer­de eine Geschich­te schrei­ben, die nur für Dich gemacht sein wird, für einen Mann von außer­or­dent­li­chem Fin­ger­spit­zen­ge­fühl. Ich wer­de für Dich sor­gen, lie­ber Jakob, in Dei­ner Frei­zeit wirst Du Brief­mar­ken sam­meln, ver­spro­chen, ich wer­de für Dich eine zar­te Geschich­te schrei­ben. — stop

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winterschlaf

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del­ta : 0.22 UTC — Ich bin nie in dem ukrai­ni­schen Städt­chen Awdi­jiw­ka gewe­sen. Ich habe von der Exis­tenz Awdijiwka’s erfah­ren, weil dort der Krieg aus sei­nem Win­ter­schlaf erwach­te, weil wie­der Schüs­se zu ver­neh­men sind. Ich hör­te also von die­ser Stadt nur aus einem Grund, weil sie gera­de zer­stört wird. Vor Jah­ren, als der Krieg noch nicht nach Awdi­jiw­ka gekom­men war, sol­len dort 34000 Men­schen gelebt haben. Wie vie­le Men­schen haben über­lebt? Wie geht es ihnen in die­ser Nacht? Haben sie von Mari­na Bon­das gehört? — stop

ping

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lichtzeituhr

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ulys­ses : 3.28 UTC — Es ist spät, ich fah­re mit dem Taxi. Ein Mar­der beob­ach­tet, wie ich aus dem Wagen stei­ge, er hockt auf dem Scha­len­sitz einer Kin­der­schau­kel im Park. Das Schlaf­zim­mer­fens­ter Mut­ters ist hell erleuch­tet, das ein­zi­ge Licht, das inmit­ten der Nacht noch brennt, ver­mut­lich ist sie mit der Zei­tung in der Hand ein­ge­schla­fen. Auf dem Tisch im Wohn­zim­mer ein Tel­ler, auf dem Tel­ler ruht ein Mohn­ku­chen, der noch warm ist. Ich lösche das Licht neben der schla­fen­den alten Dame, es ist kurz nach drei Uhr. Der Schal­ter der Lam­pe lei­se, sehr lei­se, ich wür­de bei­na­he sagen, der Schal­ter ist ein Schal­ter ohne Geräusch. Aber der Licht­wech­sel selbst, wenn das Licht aus­geht, scheint ein geräusch­vol­ler, hef­ti­ger Vor­gang zu sein. Und ich den­ke noch, mor­gen, wenn es wie­der hell gewor­den sein wird, am Nach­mit­tag bei Kaf­fee und Mohn­ku­chen, wer­de ich Mut­ter eine Geschich­te vor­le­sen, die sie nach­denk­lich stim­men könn­te. Die Geschich­te, die ich im Jahr 2015 notier­te, geht so: Liesl, die vor weni­gen Tagen 85 Jah­re alt wur­de, erzähl­te von einer Zeit­schalt­uhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzu­brin­gen wünsch­te. Er habe, hat­te ihr Sohn berich­tet, nachts immer wie­der ein­mal wahr­ge­nom­men, dass Liesl ein­schla­fen wür­de, ohne ihre Nacht­tisch­lam­pe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Licht­scheins, den er vom Schlaf­zim­mer der Mut­ter her kom­men sah, auf­ge­stan­den und habe sich vor­sich­tig an ihr Bett bege­ben und das Licht gelöscht. Ein­mal habe er über­legt, ob er nicht das Gesicht sei­ner schla­fen­den Mut­ter, wie zum Beweis foto­gra­fie­ren soll­te, ein so hel­les Gesicht, dass man sich kaum vor­stel­len konn­te, das Gesicht einer tat­säch­lich Schla­fen­den zu betrach­ten. Das war vor sechs Jah­ren gewe­sen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie kei­ne Zeit­schalt­uhr neben sich wün­sche, sie sei doch kein Aqua­ri­um, habe sie gesagt, lie­ber schla­fe sie im strah­len­den Licht der Nacht­lam­pe ein, plötz­li­che Dun­kel­heit, um Him­mels­wil­len, nein. Ihr Sohn reis­te wie­der ab. Liesl erzähl­te, dass sie mit ihm nie wie­der über Zeit­schalt­uh­ren gespro­chen habe, unlängst aber, in einer Sep­tem­ber­nacht, sei dann plötz­lich das Licht aus­ge­gan­gen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vor­sich­tig aus dem Bett gestie­gen, sei auf Knien durch das stock­dunk­le Zim­mer gekro­chen zu einem Licht­schal­ter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewe­sen, Don­ner­wet­ter! — stop
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photon

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echo : 22.08 UTC — Es wird berich­tet, dass sich mein Blick 12 Mal in Minu­ten­zeit für je 300 — 400 Mil­li­se­kun­den ver­dun­keln soll, weil sich die Lider mei­ner Augen schlie­ßen. Ein Zeit­raum, der so kurz ist oder klein, dass er sich ver­mut­lich jen­seits mei­nes Vor­stel­lungs­ver­mö­gens befin­det, und doch eine Zeit, die an mir selbst vor­kommt. Erstaun­lich. Eine Zug­fahrt nach Süden. Ich sum­mie­re Lid­schlag­zei­ten. Wie viel Dun­kel­heit oder Däm­me­rung wur­de in der Zeit mei­nes Lebens bereits durch Lid­schlag ver­ur­sacht? — stop

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spulen

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fox­trott : 1.15 UTC — Ein­mal beob­ach­te ich ein Käst­chen vol­ler Daten, wie es in Zeit­lu­pe zu Boden fällt. Kurz dar­auf tickt die Tast­ma­schi­ne, die im Käst­chen steckt, deut­lich ver­nehm­bar, als wäre sie eine Uhr. Ich ahne, dass sie blind gewor­den ist, etwas scheint zer­bro­chen zu sein. Kurz dar­auf kau­fe ich mir ein wei­te­res Käst­chen. Tage­lang den­ke ich dar­über nach, wie ich mei­ne Daten fest­hal­ten könn­te. Ich bemer­ke, dass Sicher­heit nicht wirk­lich exis­tiert. Ein ande­res Mal ste­he ich in der Küche. Ich habe eine Schach­tel auf den Tisch gestellt. Ich öff­ne das Gefäß, ent­neh­me Ton­band­spu­len, errich­te Tür­me, suche Bat­te­rien, die das Abspiel­ge­rät bewe­gen. Es ist das­sel­be Gerät, mit dem ich vor zwei Jah­ren zuletzt arbei­te­te. Ich set­ze das Gerät in Bewe­gung, zunächst Rau­schen, dann hel­le Stim­men, Stim­men wie von Lach­gas, immer­hin Stim­men, Geräu­sche, Gedan­ken, Fra­gen. Es ist eine gro­ße Freu­de, die­se Stimm­ge­räu­sche zu ver­neh­men. Wenn ich win­zi­ge Hebel auf der Rück­sei­te des Gerä­tes bewe­ge, wer­den die Stim­men noch hel­ler oder sehr dun­kel. Plötz­lich höre ich mei­ne eige­ne Stim­me. Ich erzähl­te vom Gedächt­nis. — stop
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von makis

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echo : 3.08 UTC — Ges­tern Abend habe ich ver­sucht, mei­ne Gedan­ken zu beob­ach­ten. Eigent­lich woll­te ich eine Lis­te mei­ner abend­li­chen Gedan­ken ver­fer­ti­gen, Gedan­ken in der Stra­ßen­bahn, Gedan­ken vor einer Super­markt­kas­se war­tend, Gedan­ken in der Beob­ach­tung eines Fern­seh­bild­schir­mes. Ich war sehr müde gewe­sen, hat­te lang gear­bei­tet, war, sagen wir, lang­sam mit dem Kopf, des­halb nicht aus­rei­chend schnell, um sagen zu kön­nen, das war nun ein Gedan­ke, der soeben abge­schlos­sen wur­de, nun beginnt gera­de ein wei­te­rer Gedan­ke, die­ser Gedan­ke No 18 (Herz­lich Will­kom­men!) beschäf­tigt sich mit der zen­tra­len Fra­ge, wovon Kobold­ma­kis sich eigent­lich ernäh­ren? Ich habe bemerkt, dass es mög­lich zu sein scheint, einen Gedan­ken fest­zu­hal­ten, um den Gedan­ken zu ver­grö­ßern, ihn also schwe­rer (Gra­vi­ta­ti­on) zu machen, sagen wir, den Gedan­ken mit Zeit­räu­men rück­wärts (erin­nernd) oder vor­wärts (spe­ku­lie­rend) zu ver­se­hen. Je län­ger ich an einem Gedan­ken­kno­ten fest­hal­te, des­to schläf­ri­ger wer­de ich. Ein Gedan­ke kann sich in ein Bild ver­wan­deln. Wenn ich in Gedan­ken die Augen eines Kobold­ma­kis zur Auf­füh­rung brin­ge, schla­fe ich ein. — stop
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kalkutta

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nord­pol : 0.15 UTC – Es ist an die­sem Abend selt­sam mit mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Ich wür­de gern einen Text for­mu­lie­ren, der von mei­ner Erwar­tung der Stadt Kal­kut­ta erzählt, aber es schreibt immer wie­der etwas ande­res auf den Bild­schirm: Make Euro­pe gre­at again! Eigent­lich will ich die­sen Satz nicht notie­ren, weil er mich an einen Satz erin­nert, der aus dem Mund eines Man­nes kommt, über den ich mög­lichst gar kein Wort ver­lie­ren möch­te, wenn er doch nur nicht so gefähr­lich wäre, oder genau­er gesagt, jene Per­so­nen gefähr­lich wären, die ihn umge­ben, die ihm zuflüs­tern, wenn sie Gele­gen­heit haben, ihn doch für eini­ge Minu­ten von sei­nem Fern­seh­welt­ge­rät zu lösen. Alle raten zur Gelas­sen­heit. Gelas­sen­heit ist immer gut. Auf nach Kal­kut­ta. — stop

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transcript

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echo : 22.08 UTC — Zu stän­di­gen Erin­ne­rung > Meryl Streeps Gol­den Glo­be Speach, 8. Janu­ar 2017 : Plea­se sit down. Thank you. I love you all. You’ll have to for­gi­ve me. I’ve lost my voice in screa­ming and lamen­ta­ti­on this weekend. And I have lost my mind some­time ear­lier this year, so I have to read. Thank you, Hol­ly­wood For­eign Press. Just to pick up on what Hugh Lau­rie said: You and all of us in this room real­ly belong to the most vili­fied seg­ments in Ame­ri­can socie­ty right now. Think about it: Hol­ly­wood, for­eig­ners, and the press. / But who are we, and what is Hol­ly­wood any­way? It’s just a bunch of peo­p­le from other places. I was born and rai­sed and edu­ca­ted in the public schools of New Jer­sey. Vio­la was born in a sharecropper’s cabin in South Caro­li­na, came up in Cen­tral Falls, Rho­de Island; Sarah Paul­son was born in Flo­ri­da, rai­sed by a sin­gle mom in Brook­lyn. Sarah Jes­si­ca Par­ker was one of seven or eight kids in Ohio. Amy Adams was born in Vicen­za, Ita­ly. And Nata­lie Port­man was born in Jeru­sa­lem. Whe­re are their birth cer­ti­fi­ca­tes? And the beau­tiful Ruth Neg­ga was born in Addis Ababa, Ethio­pia, rai­sed in Lon­don — no, in Ire­land I do belie­ve, and she’s here nomi­na­ted for play­ing a girl in small-town Vir­gi­nia. Ryan Gosling, like all of the nicest peo­p­le, is Cana­di­an, and Dev Patel was born in Kenya, rai­sed in Lon­don, and is here play­ing an Indi­an rai­sed in Tas­ma­nia. So Hol­ly­wood is craw­ling with out­si­ders and for­eig­ners. And if we kick them all out you’ll have not­hing to watch but foot­ball and mixed mar­ti­al arts, which are not the arts. / They gave me three seconds to say this, so: An actor’s only job is to enter the lives of peo­p­le who are dif­fe­rent from us, and let you feel what that feels like. And the­re were many, many, many powerful per­for­man­ces this year that did exact­ly that. Breath­ta­king, com­pas­sio­na­te work. But the­re was one per­for­mance this year that stun­ned me. It sank its hooks in my heart. Not becau­se it was good; the­re was not­hing good about it. But it was effec­ti­ve and it did its job. It made its inten­ded audi­ence laugh, and show their tee­th. It was that moment when the per­son asking to sit in the most respec­ted seat in our coun­try imi­ta­ted a dis­ab­led repor­ter. Someone he outran­ked in pri­vi­le­ge, power and the capa­ci­ty to fight back. It kind of bro­ke my heart when I saw it, and I still can’t get it out of my head, becau­se it wasn’t in a movie. It was real life. And this instinct to humi­lia­te, when it’s mode­led by someone in the public plat­form, by someone powerful, it fil­ters down into everybody’s life, becau­se it kin­da gives per­mis­si­on for other peo­p­le to do the same thing. Dis­re­spect invi­tes dis­re­spect, vio­lence inci­tes vio­lence. And when the powerful use their posi­ti­on to bul­ly others we all lose. O.K., go on with it. O.K., this brings me to the press. We need the prin­ci­pled press to hold power to account, to call him on the car­pet for every outra­ge. That’s why our foun­ders enshri­ned the press and its free­doms in the Con­sti­tu­ti­on. So I only ask the famously well-hee­led Hol­ly­wood For­eign Press and all of us in our com­mu­ni­ty to join me in sup­port­ing the Com­mit­tee to Pro­tect Jour­na­lists, becau­se we’re gon­na need them going for­ward, and they’ll need us to safe­guard the truth. One more thing: Once, when I was stan­ding around on the set one day, whi­ning about some­thing — you know we were gon­na work through sup­per or the long hours or wha­te­ver, Tom­my Lee Jones said to me, “Isn’t it such a pri­vi­le­ge, Meryl, just to be an actor?” Yeah, it is, and we have to remind each other of the pri­vi­le­ge and the respon­si­bi­li­ty of the act of empa­thy. We should all be proud of the work Hol­ly­wood honors here tonight. / As my fri­end, the dear depar­ted Prin­cess Leia, said to me once, take your bro­ken heart, make it into art. — stop / fund­ort

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