india : 0.58 — Das tödliche Elend kommt nicht in Sekundenbruchteilen auf arme Menschen nieder, als eine Welle langsam und kontinuierlich ansteigender Preise für Zucker, Mais, für Wasser kommts daher. Wer sind diese Personen, die mit Getreide spekulieren? Könnte man nicht einen Namen finden? Ein Gesicht? Ein menschliches Wesen, Nase, Augen, Ohren, das man befragen könnte: Warum tun Sie das? — stop
Aus der Wörtersammlung: sekunde
vor neufundland 1.16.28 uhr : kirschblüten
zoulou : 0.08 — Die Nachricht, ein afrikanischer Mann von der Elfenbeinküste habe bereits am vergangenen Mittwoch seinen 8 Jahre alten Sohn in einem Rollkoffer über die marokkanisch – spanische Grenze nach Europa transferiert. Das Kind wurde während einer Kofferdurchleuchtung lebend entdeckt, sein Vater festgenommen. Ich erinnere mich, vor zwanzig Jahren einmal beobachtet zu haben, wie am Zentralbahnhof ein Kind in ein Gepäckschließfach kletterte, eine Frau, vielleicht die Mutter des Kindes, klappte die Tür des Schließfaches zu, wartete einige Sekunden, dann öffnete sie die Tür wieder und das Kind kletterte aus dem Fach. Das Kind lachte. — Meldung von Noe aus 805 Fuß Meerestiefe vor Neufundland. ANFANG 01.14.02 | | | > s t o p habe das wort sommerzeit notiert. s t o p kurz darauf eingeschlafen. s t o p als ich erwache liegt meine hand noch auf der tastatur der maschine. s t o p ein gelber fisch. s t o p behutsam. s t o p als ob er mit meinem handschuh sprechen wollte. s t o p werde bald ohne luft sein. s t o p das ist denkbar, s t o p ohne erinnerung. h u n t i n g r e d f i s h f r o m a b o v e. s t o p planlos. s t o p ein lautloses ende. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p | | | ENDE 01.16.28
von der sekundenzeit
delta : 0.02 — Wie jetzt der Sommer näherkommt, ändert sich alles. Im Winter erfrieren Menschen, im Sommer fallen sie versehentlich aus Fenstern, die sie zum Vergnügen geöffnet haben. Bernhardt L., der mich besuchte, erzählte von seinen Erfahrungen, die er mit Todesursachen betrunkener Menschen sammelte. Es war ein angenehmer Abend. Eigentlich wollten wir nicht von traurigen Geschichten sprechen, aber dann wurde es doch wieder einmal ernst. Wir saßen auf Gartenstühlen vor dem Fenster zu den Bäumen, die in den Himmel staubten, und beobachteten meine Schnecke Esmeralda, die sich der frischen Abendluft näherte. Sie kroch zielstrebig über den Boden hin, dann die Wand hinauf und ließ sich auf dem Fensterbrett draußen nieder. Wenn sich Schnecken setzen, bewegen sie sich kaum noch, ihr feuchter Körper scheint indessen etwas breiter zu werden. Mein Bekannter Bernhardt L. war sehr interessiert an der Existenz Esmeraldas in meiner Wohnung, er hatte sie noch nie zuvor gesehen und nie von ihr gehört. Er wollte wissen, woher sie gekommen war, wie alt sie wohl sei, und warum sie diesen schönen Namen Esmeralda von mir erhalten habe. Ich erinnere mich, wie er mit einem Finger zärtlich über Esmeraldas Häuschen strich, während er von einem unglücklichen Mann erzählte, der ein Zeitwirtschaftler von Beruf gewesen sein soll. Dieser Mann habe Minuten gezählt, Sekunden, in der Beobachtung arbeitender Menschen in einer Fabrik. Seine Aufgabe sei gewesen, Zeiträume aufzuspüren, die durch Veränderungen in den Bewegungen der beobachteten Menschen eingespart werden könnten. In einem Brief, der sehr ausführlich sein Unglück notiert, habe er berichtet, dass es ihm zuletzt nicht möglich gewesen sei, eine Tasse Kaffee von der Küche in sein Wohnzimmer zu tragen, ohne darüber nachzudenken, ob es wirtschaftlich sei, mit nur einer Tasse Kaffee in der Hand die Räume zu wechseln, wenn es doch möglich wäre, zwei Tassen Kaffee zur gleichen Zeit zu transportieren. — stop
paperwhite
ulysses : 0.01 — Die Buchstaben verdrehen sich zur Zeit, ich schreibe zu schnell mit der Maschine, manchmal versäume ich ganze Wörter, als würden meine Hände glauben, dass ich Wörter schon geschrieben habe, obwohl ich sie noch nicht geschrieben habe. — Folgende Entdeckung: Es ist tatsächlich möglich, für den Preis 1 Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite — Lesegerät zu laden. James Joyces Ulysses kostet so viel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum 1 vollständige Kugel . Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Bemerkenswert. Seltsam. — stop
L.A. zu jederzeit 18:07
himalaya : 15.08 — Von einer Straßenunterführung aus beobachtet der Cellist Nathaniel Ayers den Himmel, ein kleines Fenster, von Fahrbahnebenen begrenzt, das gerade in diesem Augenblick ein Flugzeug durchquert. Er fragt den Journalisten Steve Lopez: Do you fly this plane? Der Journalist antwortet: No, I am here! Nathaniel setzt staunend hinzu: I don’t know how god works! / Filmzeit 18 Minuten 7 Sekunden: The Soloist. Director: Joe Wright. — stop
salinenweg
whiskey : 0.01 — Ich schlief über einem Buch des Schweizer Schriftstellers Nicolas Bouvier. Ehe ich fest eingeschlafen war, hatte ich in letzter Sekunde noch einen Gedanken wahrgenommen. Ich sagte zu mir mit leiser werdender Stimme: Du solltest einmal überlegen, ob es sinnvoll ist, nach einer Methode zu suchen, im Schlaf ein Buch lesen zu können. Ja, das wäre eine interessante Geschichte. Man würde sich natürlich an die erzählende Wirklichkeit des Buches selbst nicht erinnern, das man gerade noch las oder hörte, während man schlief, weil man das Buch nicht bewusst wahrnehmen konnte, und doch wäre man mit Herrn Bouvier nach Galway geflogen wegen eines Lochs im Sturm. Man wäre in einer Art und Weise nach Galway geflogen, dass man sich einmal später so gut an diesen Flug erinnern könnte, als wäre man selbst dort in Kilronan gewesen, eine Ahnung, Geräusche, Luft und Leute. — Das geschmeidige Wort Salinenweg. Wie ich über eine hölzerne Brücke gehe im Winter, ich streiche mit einer Hand Schnee von einem Geländer. Immer wieder, im Sommer, im Frühling, im Herbst, wenn ich diesen Ort passierte, erzählte ich von diesem Moment, als ich im Winter den Schnee berührte. — stop
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
zitronen
ulysses : 2.52 — Die Zeiger der Uhr meines Vaters, ein Wunder, bewegen sich noch immer sekundengenau. Ich trage sie seit beinahe drei Jahren an meinem linken Handgelenk, nicht einen Moment lang scheint die Uhr, stehen geblieben zu sein. Es ist doch merkwürdig, diese kleine Maschine muss über ähnlich kräftige Batterien verfügen, wie jene Maschinen, die seit fünf oder sechs Tagen in meiner Wohnung unter dem Dach an den Zimmerdecken lungern. Sie sollen in der Lage sein, mittels eines monströsen Geräusches, Rauchwolken anzuzeigen, die durch meine Wohnung schweben. Als wären sie Tiere, Korallen, Seepockenwesen sitzen sie an der Decke fest, und doch nehme ich an, werden sie heimlich herumspazieren, während ich abwesend bin. Ich hörte, sie sollen über elf Jahre Lebenszeit verfügen, ehe man sie von der Decke holen, aufschrauben und ihre Akkumulatoren austauschen wird. — Stürmische Nacht. Gespräch mit Eliza.
Louis:> guten abend, eliza!
Eliza :> guten abend! wie geht es ihnen?
Louis :> gut!
Eliza :> schön. was kann ich dann für sie tun?
Louis :> ich weiß nicht!
Eilza :> drücke ich mich zu kompliziert aus!
Louis :> nein.
Eliza :> habe ich etwas falsches gesagt?
Louis :> nein, nein!
Eliza :> fahren Sie fort.
Louis :> womit?
Eilza :> was würden sie antworten, wenn ich ihnen diese frage stellte?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> es ist vielleicht auch nicht so wichtig!
Louis :> mögen sie zitronen?
Eliza :> beschäftigt Sie diese frage sehr?
Louis :> ja, natürlich!
Eilza :> warum?
Louis :> ich mag zitronen.
Eilza :> machen sie weiter!
Louis :> liebe eliza, mögen sie zitronen?
Eliza :> welche antwort gefielen ihnen denn?
Louis :> was ist eine zitrone, eliza?
Eliza :> gefällt ihnen mein name?
Louis :> ja, ihr name gefällt mir!
Eliza :> warum?
Louis :> ihr name hat einen schönen klang.
Eliza :> warum sagen sie das gerade jetzt?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> war Ihnen meine frage unangenehm?
Louis :> nein!
Eliza :> verstehe.
Louis :> das glaube ich nicht!
Eliza :> erzählen sie weiter.
Louis :> mögen sie zitronen?
von papieren
echo : 3.58 — Das weiße Papier ist niemals leer. Diesen Satz notierte ich vor einigen Jahren genau so, wie er hier verzeichnet ist. Als ich ihn damals eine Stunde später noch einmal gelesen hatte, konnte ich nicht sagen, warum ich den Satz eigentlich vermerkte. Das war ein seltsamer Moment gewesen, diese Sekunde, da ich beobachtete, dass ich einen Satz, den ich selbst ausdachte, nicht erkennen konnte. Trotzdem gefiel mir der Satz. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen wahren Satz handeln könnte, und dass ich nur abwarten müsse, bis sich sein feines, inneres Wesen einmal zeigen wird. Ich warte noch immer. – stop
tod in peking 4
delta : 0.25 — Wenn ich an die Stadt Peking denke, denke ich auch an einen Freund zurück, dessen Leben in dieser fernen Stadt vor zwei Jahren und vierunddreißig Tagen endete. Er war Fotograf gewesen, sein Körper und seine Wohnung existieren nicht mehr, seine Fotoapparate wurden möglicherweise verschenkt oder verkauft, doch zahlreiche seiner Fotografien leben in der digitalen Sphäre weiter fort, auch Einträge bei Facebook, da niemand zu finden ist, der sie löschen könnte oder löschen wollte. Die vielleicht letzte Aufnahme von seiner Hand in Europa, zeigt einen Gepäckwagen im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens, 3 Koffer und 1 Rucksack. Weil der fotografierende Mensch hinter der Kamera stand, wirken sie schon verwaist, oder vielleicht nur deshalb, weil sie in Kenntnis seines nahenden Todes von mir betrachtet werden. Sicher ist, dass Menschen nach dem Verstorbenen suchen, sie stoßen dann auch auf Texte, die ich notierte, verweilen, weil sie sich erinnern oder weil sie sich wundern, vielleicht haben sie einen ähnlich tragischen Verlust erlebt. Andere bleiben nur für Sekunden, weiß der Himmel, warum, vielleicht waren sie Suchmaschinen, niemand schreibt, niemand kommentiert, ein Schauen und Schweigen. – stop