marimba : 20.56 UTC — Wie nur nennt man diese Verrücktheit, dass einer gern Bücher auf einer Schreibmaschine tippt, anstatt sie zu lesen, wie einen, der nur lesen kann, was er auch schreibt mit den Händen? — Wenn ich das Wort Schreibmaschine höre, denke ich an Lebewesen meiner Kindheit, an Kreaturen mit Walze und Tasten, die merkwürdige Geräusche erzeugten, sobald man sie bewegte. Was waren das damals doch für Ungetüme, Knöpfe auf Stelzen, so groß, dass sie von meinen kleinen Fingern kaum bewegt werden konnten. Hoch oben auf einem Tischchen ruhte die Schreibmaschine, manchmal war sie verborgen unter einer Haube, dann wieder klapperte sie. Mutter saß am Tisch und tippte vor sich hin. Bisweilen setzte sie mich auf ihren Schoß und ich sah ihren Fingern zu, wie sie sich bewegten, indessen Mutter mit mir sprach oder dem Radio zuhörte. Ich glaubte manchmal in den Bewegungen ihrer Hände, etwas Freies, Unabhängiges zu sehen, als wären die Hände meiner Mutter eigensinnige Lebewesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: sprechen
ein schneckenforscher
sierra : 20.15 UTC — Ein Freund erzählte, er habe endlich, nach langen Jahren unentwegten Sprechens, gelernt zu schweigen. Das Gespräch mit mir sei eine Ausnahme. Er habe Freude daran gefunden, nur selten und nur noch das unbedingt Notwendige zu sprechen. Deshalb lese er ein Buch nach dem anderen. Kurz darauf manchmal, eigentlich immer, schreibe er auf, was ihm die Stimmen in den Büchern erzählten. Er sagte, man könne Bücher, die man gelesen habe, nacherzählen. In dieser Weise würden doch ganz andere Texte entstehen, Texte, die sich mit den gelesenen Büchern unterhielten. Irgendwann lösten sich die Texte von den erinnerten Büchern. Manchmal wisse er nicht, mit welchem Buch er sich gerade schreibend unterhalte. Sobald er den Blick von seinem Text lösen würde, wenn er auf den See hinausschaue und eine Schildkröte bemerke, sei er plötzlich in einer Spur gefangen, die von Schildkröten erzählte, oder von sich liebenden Schecken und ihren Forschern. — stop
drummer man
bamako : 3.28 UTC – Wie wir auf den Schultern unseres Vaters durch die Welt schaukelten, als säßen wir auf dem Rücken eines Dromedars, das die menschliche Sprache sprechen konnte. Wie er uns das Licht erklärte, die Geschwindigkeit und die Zeit, die das Licht unterwegs gewesen war, um zu uns zu kommen. Seine großen Schuhe, in welchen wir durch den Garten segelten. Und Gene Kruppa, Drummer Man, dort, noch lange vor unserer Zeit, Vater, mit Schlips im Anzug als junger Mann. Heute Nacht erzählen wir uns Geschichten. Und schon ist es kurz nach zwei Uhr geworden. Ich habe ganz heimlich meine Schreibmaschine angeschaltet, um eine weitere kleine Geschichte aufzuschreiben, weil Geschichten auf Papier oder Geschichten, die man von einem Bildschirm lesen kann, wie alle anderen Geschichten als leise betende Stimmen zu vernehmen sind. Diese Geschichte nun geht so. Immer an Freitagen, ich war fünf oder sechs Jahre alt gewesen, brachte mein Vater aus dem Institut, in dem er als Physiker arbeitete, Karten mit nach Hause, die ich bemalen durfte, Computerlochkarten, kräftige, beige Papiere, in welchen sich seltsame Löcher befanden. Diese Löcher waren niemals an derselben Stelle zu finden, und ich erinnere mich, dass ich mich über ihr Verhalten heftig wunderte. Ich war zu jener Zeit ein begeisterter Maler, ich malte mit Wachskreide und ich malte in allen Farben, über die ich verfügen konnte, weil ich das Buntsein schon immer mochte. Ich malte blaue Kamele und schwarze Blumen und rote Monde. Einmal fragte ich meinen Vater, was jene Löcher bedeuteten, über deren Existenz ich mich freute, weil sie versteckte Bilder zeigten, die ich so lange suchte, bis ich sie gefunden hatte. Hör zu, sagte mein Vater. — stop
pompeo
zoulou: 0.01 — Plötzlich wieder Fragen, vertraut: Wie schnell können wir denken? Wie schnell können wir sprechen? Wie schnell können wir beten? Verfügen wir über Dolmetscher für unsere Götter, für unsere Propheten? - stop / koffertext
jonathan
echo : 20.12 UTC — Ich habe Jonathan ungefähr drei Jahre lang nicht gesehen. Als ich ihm zuletzt begegnete, erzählte er von einem Film, der ihn hörbar beeindruckt hatte. Er sprach damals so schnell und aufgeregt, dass ich ihm nicht folgen konnte. Ich dachte nur immer wieder: Jonathan, dass Du so schnell und unentwegt sprechen kannst, wo hast Du das gelernt? Vor wenigen Minuten setzte sich Jonathan im Zug zu mir und ich machte mich auf eine weitere rasende Geschichte gefasst. Es war aber ganz anders gekommen, er sprach zunächst kaum ein Wort: Hallo Louis, lang nicht gesehen. Kurze Pause. Ja, ich arbeite noch immer in der Nacht. Lange Pause. Fünf Minuten schwieg Jonathan. Er sah zu seinen Händen hin, die in seinem Schoß ruhten. Dann begann sich seine linke Hand behutsam zu bewegen. Seine rechte Hand indessen war geöffnet. Jonathan schien einen Text zu schreiben auf einer nicht sichtbaren Tastatur, die dort für ihn sichtbar sein musste. Weitere fünf Minuten vergingen in dieser Weise des Notierens. Plötzlich hörte er auf, zu schreiben. Er führte seine rechte Hand unter seine linke Hand und begann zu lesen. — stop
wieder koffer unsichtbar
alpha : 19.52 UTC — An diesem Abend spaziere ich hinüber zum Friedhof, um zwei Kerzen anzuzünden auf dem Grab meines Vaters, das nun auch das Grab meiner Mutter sein wird. Vater ist also schon da, und Mutter wird bald hierher zu ihm kommen. Das gefrorene Gras knistert unter meinen Schuhen. Es ist still, der Sternhimmel klar. Viel schöne kleine Lampen leuchten unter den Bäumen. Ein paar Katzenaugen werden auch darunter gewesen sein. Auf dem Heimweg erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren notierte. Sie geht so: Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
schlafende mutter
delta : 22.02 UTC — Wie viele Tage schon sitze ich an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder denke ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Hör zu, ich werde Dir eine Geschichte vorlesen, die ich Dir schon einmal las vor über einem Jahr. Einen Winter und einen Frühling und einen Sommer lang warst Du aufgewacht, um nun wieder zu schlafen. Ich ahne, dass Du meine Stimme hören kannst, ich habe gelernt. Erinnerst Du Dich an meine Geschichte, die von Deinen Brillen erzählt: Es war noch dunkel im Haus. Ich hörte ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich, es kam über die Treppe abwärts heran. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kam näher, durchquerte das Wohnzimmer, kreiste einmal um meinen Kopf, landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du, wie ich vergeblich hoffte, einmal wieder Platz nehmen würdest. Über drei Brillen verfügtest Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen konnte fliegen. Eine Brille stationierte im Dachgeschoss, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie blinkten, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientierten. Jetzt liegen sie auf dem Tischchen reglos neben Deinem Bett, als würden sie schlafen wie Du, liebe Mutter. – stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop
im juli
echo : 0.10 UTC — Einmal, vor einem Jahr präzise, ging ich im Haus der alten Menschen herum. Da waren geöffnete Türen, und da schaute ich hinein in die Zimmer. Ich beobachtete einen alten Mann, der vor seinem Rollstuhl kniete, und eine alte Dame mit schlohweißem Haar, die lag wie ein Mädchen, mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen im Bett wie in einer Sommerwiese. An einem weiteren Tag beobachtete ich ein Bett, in dessen Kissentiefe ein kleiner Mensch ruhen musste. Nur Hände waren von ihm zu sehen, die sich bewegten, die Schatten warfen, die spielten oder mit der Luft sprachen, Stunde um Stunde, Tag für Tag. — Und jetzt ist ein Jahr später geworden, es ist November, es ist Zeit zu berichten, dass der kleine unsichtbare Mensch im August gestorben ist. Vielleicht ist er an den Wirkungen der Zeit gestorben oder aber in seinem Bett an den Folgen eines ohrenbetäubenden Lärms, der auf ihn einwirkte monatelang, weil man das Haus über ihm um ein Dachgeschoss erweiterte, während er noch immer in seinem Bett lag. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung öder eine Befürchtung oder eine Behauptung, nichts weiter. — stop
wellen
tango : 6.52 UTC — Vielleicht kann ich, wenn ich das Meer in den Straßen Venedigs beobachte, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbtageswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Regen, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop