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5 stunden

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nord­pol : 10.22 – Ich beob­ach­te das Fern­seh­ge­rät. Eine Repor­te­rin des ame­ri­ka­ni­schen Fern­se­hens berich­tet aus St. Denis, einer klei­ne­ren Stadt nord­öst­lich der grö­ße­ren Stadt Paris. Sie erzählt in Echt­zeit fünf lan­ge Stun­den lang. Die Sen­dung beginnt gegen 4 Uhr mor­gens, da ist es noch dun­kel am Him­mel, aber eine Stra­ße der klei­ne­ren Stadt wird hell erleuch­tet von Blau­licht und Schein­wer­fern der Kame­ras, die nach Bil­dern und Geräu­schen eines schwe­ren Kamp­fes suchen. Schüs­se sind zu hören, rhyth­misch, drei oder vier dump­fe Deto­na­tio­nen. In Haus­ein­gän­gen, vor Stra­ßen­ecken, auf einer Kreu­zung war­ten Poli­zis­ten und Sol­da­ten, sie bewe­gen sich so, als wäre tiefs­ter Win­ter, sie schei­nen über­haupt ner­vös zu sein. Hin­ter der Flucht alter Häu­ser­fas­sa­den, die auf dem Bild­schirm in einer schein­bar unver­rück­ba­ren Ein­stel­lung zu sehen ist, tobt die­ser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mit­tels eines Spreng­stoff­gür­tels getö­tet, von Fest­nah­men wird berich­tet, Namen jun­ger, berühm­ter Ter­ro­ris­ten wer­den pos­tu­liert. Weil doch nur sel­ten hör­bar geschos­sen wird, wer­den etwas spä­ter, es ist Tag gewor­den, hell, immer wie­der Sze­nen einer Zeit auf den Bild­schirm gespielt, als noch Dun­kel war am Him­mel, als noch geschos­sen wur­de, sodass alle es hören konn­ten, die gera­de erst wach gewor­den sind. Ges­tern erzähl­te mir Nas­rin, die in einem Café am Flug­ha­fen arbei­tet, ein Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che habe sie gefragt, ob M., ein wei­te­rer Kol­le­ge, viel­leicht sich freu­en wür­de, dass in Paris so vie­le Men­schen getö­tet wor­den sei­en. Sie habe geant­wor­tet, er sol­le M. doch selbst befra­gen, wor­auf­hin der Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che gesagt habe, ihm wür­de M. ja doch nie­mals die Wahr­heit sagen. Da habe sie nicht wei­ter­ge­wusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort ein­zu­schla­fen oder auf­zu­wa­chen. – stop
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im zug kürzlich

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india : 0.12 – Ein Mäd­chen, das mög­li­cher­wei­se gera­de erst spre­chen lern­te, in einer Spra­che, die ich nicht ver­ste­he, steht im Zug vor mir. Ich notie­re auf ein Blatt Papier, als ich die klei­ne Per­son bemer­ke. Ich sage: Hel­lo! Sofort schließt das Mäd­chen die Augen, bleibt aber wie ange­wur­zelt vor mir ste­hen. Weni­ge Meter ent­fernt sit­zen zwei Frau­en und vier Män­ner, sie tra­gen Ano­raks, die zu groß sind, die Frau­en außer­dem Kopf­tü­cher und Hand­schu­he, obwohl es im Zug warm ist. Sie schei­nen müde zu sein, nie­mand spricht. Einer der Män­ner beob­ach­tet mich, ein ruhi­ger, auf­merk­sa­mer, freund­li­cher Blick, ich den­ke noch, was sieht er in mir, da öff­net das klei­ne Mäd­chen sei­ne Augen wie­der, schaut mich an, kein Lächeln, als ich eine Hand hebe und win­ke. Ein Gesicht, blass, fast weiß, tie­fe, dunk­le Rin­ge unter den Augen, die glän­zen. Was haben die­se Augen gese­hen in den ver­gan­ge­nen Wochen, Mona­ten, Jah­ren, viel­leicht Men­schen, die tot sind, wie sie auf einer Stra­ße lie­gen, eine Hand der Mut­ter, die  Augen des Mäd­chens bede­cken im Moment ein­stür­zen­der Häu­ser, Luft vol­ler Flie­gen unter einem Zelt­dach, das nächt­li­che Meer, schrei­en­de Men­schen vor Sta­chel­draht bewehr­ten Toren, rasen­de Schä­fer­hun­de, die in Ungarn gebo­ren wor­den sind? – Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, auch damals fing es so an. Ein Kind woll­te sehen. / Juli­an Bar­nes Arthur & Geor­ge – stop
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paris : 5 minuten

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sier­ra : 3.15 – Der jun­ge Mann will wis­sen, ob ich viel­leicht gera­de Nach­rich­ten lese, die von der Stadt Paris erzäh­len. Sein Gesichts­aus­druck, indem er auf mein Mobil­te­le­fon deu­tet, ist ernst. Ich woh­ne in Paris, sagt er, ich bin dort auf­ge­wach­sen, ich stu­die­re in Deutsch­land, ich habe ver­sucht mei­nen Groß­va­ter zu errei­chen, aber er mel­det sich nicht, ich kom­me nicht durch, ich bin so auf­ge­regt, auch mei­ne Freun­din ist ver­schwun­den. Wir ste­hen am Bahn­hof, war­ten auf einen Zug, der in Rich­tung des Flug­ha­fens fährt. Es ist kurz nach Mit­ter­nacht. Auf dem Mobil­te­le­fon des jun­gen Man­nes wird von acht­zehn Todes­op­fern berich­tet, auf mei­nem sind bereits über vier­zig Men­schen gestor­ben. Der jun­ge Mann läuft immer wie­der ein­mal eini­ge Meter den Bahn­steig ent­lang, schaut auf sein Tele­fon, hält es an sein Ohr, kommt wie­der zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neu­es in Erfah­rung brin­gen konn­te. Ich sage: Ich glau­be, für Frank­reich wur­de gera­de der Aus­nah­me­zu­stand erklärt. Oh Gott, ant­wor­tet der jun­ge Mann, was ist nur gesche­hen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir ken­nen uns eigent­lich nicht gut. Fünf oder sechs Minu­ten Zeit sind ver­gan­gen, seit der jun­ge Mann frag­te, ob ich Nach­rich­ten lese, die von der Stadt Paris erzäh­len. Plötz­lich klin­gelt sein Tele­fon. – stop

fest

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lissabon

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MELDUNG. Jun­ge Engel, Schu­le zu St. Nazai­re, sind in der Nacht von Mon­tag auf Diens­tag kom­men­der Woche von 2 bis 5 Uhr bei leich­ter Flie­ge­rei über dem Jar­dim da Tor­re de Belem zu Lis­sa­bon anzu­tref­fen. Ein­tritt frei. – stop

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zwergdrache

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marim­ba : 2.24 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Som­mer 1958. Auf einem Fähr­schiff, des­sen Name ich nicht ermit­teln konn­te, steht am Heck ein Jun­ge im Alter von unge­fähr 12 Jah­ren. Es ist frü­her Nach­mit­tag, die Schu­le ver­mut­lich gera­de vor­über, der Jun­ge fährt mit dem Schiff von Man­hat­tan nach Hau­se. Er trägt Halb­schu­he, ein hel­les Hemd, eine Kra­wat­te und ein dunk­les Jackett, sei­ne Schul­ta­sche lehnt an einem Pfei­ler, der für schwe­re Schiffstaue vor­ge­se­hen ist. Im Hin­ter­grund, am Hori­zont, sind Krä­ne zu erken­nen, die wie eiser­ne Vögel auf stel­zen­ar­ti­gen Füs­sen ste­hend, zu war­ten schei­nen. Eini­ge Meter über dem Jun­gen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Jun­ge selbst, reg­los in einer Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie gefan­gen. Zwei älte­re Per­so­nen, eine Frau in einem hel­len Kleid, und ein Mann, der einen dunk­len Anzug trägt, lun­gern auf einer Bank. Sie küs­sen sich gera­de auf den Mund, sind viel­leicht eigent­li­che Ursa­che der Foto­gra­fie, der Jun­ge, der gefähr­lich nah an der Kan­te zum Was­ser steht, ist also mög­li­cher­wei­se ver­se­hent­lich mit auf das Bild gera­ten. Eine Hand des Jun­gen ist nach vorn hin aus­ge­streckt, es ist sei­ne lin­ke Hand, wäh­rend sei­ne rech­te Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sicht­bar ist, um die­se lin­ke aus­ge­streck­te Hand wickelt, als wäre sie eine Spu­le. Der Jun­ge scheint im Moment der Auf­nah­me mit sei­ner Arbeit des Wickelns bei­na­he fer­tig gewor­den zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sicht­bar, ein klei­ner Dra­che von Papier ist dort befes­tigt, ein Dra­che nicht län­ger als zehn Zen­ti­me­ter und nicht brei­ter als sechs Zen­ti­me­ter, ein Zwerg­dra­che, in der ein­fach gekreuz­ten Form der Kin­der­dra­chen, des­sen Kör­per mit Sei­den­pa­pier bespannt gewe­sen sein könn­te, unbe­kann­te Far­be, viel­leicht blau, viel­leicht gelb. Eine erstaun­li­che Ent­de­ckung. Zwei­ter Blick. – stop

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propeller

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tan­go : 6.52 – Die­ses Wort, Pro­pel­ler­wort, das sich seit eini­gen Stun­den, weiß der Him­mel, woher es gekom­men ist, in mei­nem Kopf bewegt, scheint in der wirk­li­chen Welt noch nicht zu exis­tie­ren. Ich such­te in Wör­ter­bü­chern, ich such­te in der digi­ta­len Sphä­re, ver­geb­lich. Was also könn­te unter einem Pro­pel­ler­wort exakt zu ver­ste­hen sein? Ein Wort viel­leicht, das in der Lage wäre, wei­te­re Wör­ter, die vor oder hin­ter ihm in einem Satz­ver­bund notiert wor­den sind, im Geis­te eines Lesen­den zu beschleu­ni­gen, oder den Lesen­den selbst in sei­ner Art des Lesens hef­tig anzu­re­gen. In die­sem Augen­blick kommt mir kein Wort in den Sinn, das in die­ser Wei­se wirk­sam wer­den könn­te. Statt­des­sen dach­te ich an das Wort Zwerg­see­ro­se, wel­ches ich ges­tern noch notier­te, das Wort Zwerg­see­ro­se könn­te für mich zu einem Pro­pel­ler­wort wer­den, weil es mich leich­ter wer­den lässt, weil ich mich freue, sobald ich das Wort den­ke oder höre, weil ich sofort wei­te­re Zwerg­wör­ter bemer­ke, die mir gefal­len, das Wort Zwerg­li­bel­le bei­spiels­wei­se, oder das Wort Zwerg­amei­sen­pferd, von den Amei­sen­pfer­den habe ich bereits erzählt, auch das Wort Ohr­fei­ge, wenn ich das Wort Ohr­fei­ge hin­sicht­lich der Baum­früch­te betrach­te, scheint sich gleich­wohl zu einem Pro­pel­ler­wort zu ent­wi­ckeln. Oh, Du schö­ner Früh­lings­mor­gen. – stop
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lilly

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marim­ba : 2.05 – Auf der Suche nach einem Kie­men­mäd­chen namens Lil­ly Man­gold war ich gegen Mit­ter­nacht ein­ge­schla­fen, da öff­ne­te tief im Gehör­gang mei­nes rech­ten Ohres knis­ternd eine Zwerg­see­ro­se ihre Blü­te. Ich hör­te, man kön­ne Zwerg­see­ro­sen in Kaf­fee­tas­sen züch­ten. Ist das eine Nach­richt? – stop

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mitado muje

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oli­mam­bo : 2.02 – In einem Post­amt der neu­see­län­di­schen Stadt Wha­kata­ne arbei­te ein Nacht­schicht­be­am­ter mitt­le­ren Alters, der beson­de­re Namen samm­le. Er soll, so ein Gerücht, auf einem Dreh­stuhl vor einem Fächer­re­gal sit­zen und Brie­fe in zwei­er­lei Hin­sicht sorg­fäl­tig betrach­ten, ob sie näm­lich einer­seits aus­rei­chend fran­kiert sind, um ihren Bestim­mungs­ort errei­chen zu kön­nen, ander­seits wür­de er Namen von Adres­sa­ten, die sich in aller Welt befin­den, ihrem Klang nach inspi­zie­ren. Sobald der Nacht­mann einen Namen, der ihm gefällt, ent­deckt, wür­de der Name auf einem Zet­tel notiert: Sakona­kis Pina, Emi­lie Lio­nel, Pol­lie Pata­tas, Josef Tho­mey, Lai­ly Pina, Cla­ra Lorenz, Phil­li­pe Odil. Es heißt, man kön­ne die­se Namen im Inter­net erwer­ben, viel­leicht, wenn man einen geräusch­vol­len Namen benö­tig­ten wür­de, weil man eine Per­son erfin­den möch­te, die sich in poe­ti­scher Wei­se dar­zu­stel­len wünscht, 10 Cent. Ich muss das über­prü­fen. – stop

blume

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tod in peking 5

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kili­man­dscha­ro : 0.27 – Ori­gi­nal-Nach­richt / Betreff: Unde­li­ver­ed Mail Retur­ned to Sen­der Datum: 2015–11-08T00:47:36+0100 – I’m sor­ry to have to inform you that your mes­sa­ge could not be deli­ver­ed to one or more reci­pi­ents. It’s atta­ched below. For fur­ther assis­tance, plea­se send mail to post­mas­ter. If you do so, plea­se include this pro­blem report. You can dele­te your own text from the atta­ched retur­ned mes­sa­ge. NOTE: Lie­ber Ted­dy, drei Jah­re sind ver­gan­gen, seit ich hör­te, dass Du in Peking gestor­ben sein sollst. Eini­ge Tage zuvor waren damals Freun­de in einem Restau­rant ver­sam­melt gewe­sen, um gemein­sam Enten und Gän­se zu ver­spei­sen. Du hat­test Dei­nen Besuch ange­kün­digt, kamst aber nicht. Wir war­te­ten ver­geb­lich auf Dei­nen Anruf, hat­ten kei­ne Vor­stel­lung davon, was gesche­hen sein konn­te, ein kal­ter Tag, eisig, der 20. Novem­ber 2012. Wenn ich im Inter­net nach Dei­nen Spu­ren suche, ist immer noch alles so wie im ver­gan­ge­nen Jahr anzu­tref­fen, Dei­ne Foto­gra­fien, Dei­ne Web­sei­te, Spu­ren in Foren. Bemer­kens­wert ist eine beson­de­re Anfra­ge, die in hin­zu­ge­kom­men ist im Bezirk einer Such­ma­schi­ne, deren Dienst­leis­tung initi­iert wer­den muss­te, irgend­je­mand erkun­digt sich nach Dir in einer außer­ge­wöhn­li­chen Wei­se. Wie in den Jah­ren zuvor, lie­ber Ted­dy, siche­re ich auch in die­sem Jahr eine Dei­ner Foto­gra­fien, von deren Geschich­te Du mir lei­der nie erzäh­len wirst. – Dein Lou­is < t.s@posteo.de: host mx02.posteo.de[89.146.194.165] said: 550 5.1.1 < t.s@posteo.de>: Reci­pi­ent address rejec­ted: unde­li­vera­ble address: Reci­pi­ent address look­up fai­led (in rep­ly to RCPT TO com­mand) – The mail sys­tem – stop

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