Aus der Wörtersammlung: dame

///

calle de hernán cortéz No 7

9

nord­pol : 0.02 – Ich habe einen Brief geschrie­ben. Der Brief geht so: Lie­be Mrs. Kek­ko­la, lie­ber Mr. Kek­ko­la, Ihrem Sohn geht es gut! Sei­ne künst­li­chen Lun­gen arbei­ten, als hät­te er nie zuvor ohne sie gelebt. Jona­than wan­dert der­zeit unter wil­den Bären in nord­ame­ri­ka­ni­schen Wäl­dern. Lei­der habe ich Ihnen mit­zu­tei­len, dass Ihre Woh­nung [Cal­le de Hernán Cor­téz No 7, 8. Eta­ge], die Sie, wie wir unse­ren Unter­la­gen ent­neh­men, seit 75 Jah­ren nicht ver­las­sen haben, undicht gewor­den ist. Ihr l.k. mit bes­ten Grü­ßen – Kurz, nach­dem ich den Brief zu Ende notiert hat­te, der Ein­druck, dass ich mir selbst ein wenig unheim­lich wer­de, war­um? — stop
ping

///

loop

9

sier­ra : 0.08 — Geschich­ten, die sich gut begrün­det wie­der­ho­len, ver­traut gewor­de­ne Geschich­ten. Die­se hier, zum Bei­spiel, im Febru­ar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zei­ten der Vogel­grip­pe, bei klei­ne­ren Tur­bu­len­zen, im Gang eines Flug­zeu­ges eine uralte Lady ent­ge­gen­ge­kom­men, deren Gesichts­zü­ge mich sofort an Coco Cha­nel erin­ner­ten. Von zier­li­cher Gestalt trug sie einen dunk­len Man­tel, leich­te, fla­che Schu­he und mach­te Schrit­te wie ein Matro­se auf hoher See. Vor allem ihr schloh­wei­ßes Haar und ihr äußerst wil­lens­star­ker Blick sind nah geblie­ben, auch ihr hell­rot geschmink­ter Mund, der min­des­tens acht­zig Jah­re alt gewe­sen sein muss­te, und doch bei­na­he wirk­te wie der Mund einer jun­gen Frau. Eines Abends, wäh­rend ich einer Nach­rich­ten­sen­dung folg­te, erin­ner­te ich mich an die­se selt­sa­me Frau, und ich stell­te mir vor, wie sie aus der drit­ten Eta­ge eines Miets­hau­ses in den Kel­ler steigt, um ein Roll­wä­gel­chen zu suchen, das sie dort für immer abge­stellt hat­te, nach­dem sie beim Ein­kau­fen um ein Haar gestürzt war. Es ist also frü­her Mor­gen, es ist Win­ter und noch dun­kel, als die alte Dame das Haus ver­lässt. Ich sehe sie mit vor­sich­ti­gen Schrit­ten in ihrem Man­tel und Pelz­stie­fel­chen über die Stra­ße gehen. An der ers­ten Ampel biegt sie nach links ab, über­quert einen Platz, folgt einer wei­te­ren schma­len Stra­ße, jetzt ist sie vor einem Super­markt ange­kom­men. Sie stellt ihr Roll­wä­gel­chen in der Nähe der Kas­se ab, geht in die Geträn­ke­ab­tei­lung und nimmt eine Fla­sche Was­ser aus dem Regal. Sie trägt die Fla­sche zu ihrem Wägel­chen, kehrt zurück, nimmt sich die nächs­te Was­ser­fla­sche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägel­chen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heim­weg über die Stra­ße gezo­gen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hau­ses ange­kom­men. — Jetzt stellt sie das Wägel­chen neben die Trep­pe, die zur Haus­tü­re führt. — Jetzt ist sie mit einer der Fla­schen im Haus ver­schwun­den. — Zehn Minu­ten ver­ge­hen. Dann erscheint sie wie­der auf der Stra­ße. Sie hat ihren Man­tel aus­ge­zo­gen, trägt eine graue Jacke und Sport­schu­he. Kurz, für zwei oder drei Sekun­den, hält sie sich am Gelän­der der Trep­pe fest. — stop
ping

///

die liebe der zeppelinkäfer

pic

india : 2.12 — Schon weit nach Mit­ter­nacht, aber immer noch ein spä­ter Abend sum­men­der Luft. Habe drei lan­ge Stun­den ver­sucht 18.924.150 Zei­chen des mensch­li­chen Genoms als Sequenz in mein Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramm zu laden. Immer wie­der schei­tert die For­ma­tie­rung mit der Sei­te 32.678 des Doku­ments, als ob mei­ne Com­pu­ter­ma­schi­ne sagen woll­te, die­sen Unsinn mache ich nicht län­ger mit. — Nun aber rasch noch einen ernst­haf­ten Gedan­ken notie­ren. Neh­men wir ein­mal an, es wäre mög­lich, einen Käfer zu ent­wi­ckeln, sagen wir, einen Zep­pel­in­kä­fer, der nahe abso­lu­ter Schwe­re­lo­sig­keit unter letz­ten Mole­kü­len von Sau­er­stoff schwe­bend Ozon pro­du­zie­ren wür­de, dann könn­te man sich einen zwei­ten Käfer vor­stel­len, einen Zep­pel­in­kä­fer gleich­wohl, der eine Käfer­da­me sein soll­te, die sich natür­lich sofort ver­lie­ben wird, wes­halb wir bald einen Nebel kleins­ter, sehr gefrä­ßi­ger Zep­pel­in­kä­fer vor uns am Him­mel sehen wür­den. — Eine beru­hi­gen­de Vor­stel­lung, sagen wir, sehr beru­hi­gend. — Was aber fres­sen sie dort oben, wo es doch nichts gibt außer Mond, Stern und Son­nen­licht? Man könn­te eine Gat­tung wei­te­rer Käfer erfin­den, Käfer, die sehr schmack­haft sind und lei­den­schaft­lich ger­ne, sobald man sie frei­las­sen wird, hin­ter die Wol­ken stei­gen, um sich ihren Freu­den, den Zep­pel­in­kä­fern, mit allem, was sie sind und haben, hin­zu­ge­ben. — Ich soll­te sofort ein kom­bi­nier­tes Patent versuchen.

ping

///

caracas

picping

MELDUNG. Am gest­ri­gen Abend vor­zei­tig deto­niert, sind im Opern­haus zu Man­aus [ Bra­si­li­en ] Tei­le eines kost­ba­ren Fro­sches [ Gat­tung : dendro­ba­tes ama­zo­ni­cus ] gegen das Publi­kum geflo­gen. Ein Auge, ein gan­zer Damen­kopf, wur­de von Frag­men­ten aus Schä­del und Wir­bel­säu­le der Amphi­bie durch­schla­gen. Wei­te­re öffent­li­che Spren­gun­gen im Monat Mai : San­ta Cruz, 21. [ d. aura­tus ] : Por­to Veh­lo, 22. [ d. azu­reus ] : Cara­cas, 23. [ d. leu­co­me­las ] : San Jose, 24. [ d. reti­cu­la­tus ] : New Orleans, 25. [ d. pumi­lio ] : Phoe­nix, 26. [ d. gra­nu­li­fer ] : Chi­ca­go, 27. [ d. imi­ta­tor ]. Zün­dung je 22.00 Uhr Orts­zeit. Alle Vor­stel­lun­gen sind aus­ge­bucht. — stop
ping

///

memory

pic

oli­mam­bo : 3.02 — Vor einer Stun­de unge­fähr, aus hei­te­rem Him­mel, erin­ner­te ich mich an eine Brief­mar­ke, die sich zu einer Zeit in mei­nem Besitz befun­den hat­te, als ich noch ein Kind gewe­sen war. Die­se Mar­ke, obwohl sehr vie­le Jah­re weit von mir ent­fernt, war so gegen­wär­tig von einer Sekun­de zur ande­ren, als hät­te ich sie weni­ge Minu­ten zuvor einem Sam­mel­al­bum ent­nom­men und auf einen Luft­post­brief geklebt. Zu Ehren des Schim­pan­sen Ham, der in den Welt­raum gereist war, um dort eini­ge Übun­gen in der Schwe­re­lo­sig­keit zu absol­vie­ren, war sie in einer begrenz­ten Auf­la­ge gedruckt gewor­den. Das Beson­de­re an Ham war ohne Fra­ge sei­ne Men­schen­ähn­lich­keit gewe­sen, auch dass Ham, im Gegen­satz zu Lei­ca, einer rus­si­schen Hun­de­da­me, sei­nen Aus­flug in den Kos­mos über­leb­te. Der klei­ne Brief­mar­ken­af­fe trug einen Helm, genau genom­men einen wei­ßen Astro­nau­ten­helm, der unglück­li­cher­wei­se von einem Stem­pel getrof­fen wor­den war. In die­sem Moment, da ich notie­re, erin­ne­re mich an einen Riss, der mein Brief­mar­ken­al­bum bedroh­te, weil er mit jeder Besich­ti­gung der Samm­lung, knis­ternd wuchs. Ein­mal habe ich einem Mäd­chen, in das ich ver­liebt gewe­sen war, mein Album mit Riss gezeigt, eine selt­sa­me Erfah­rung, wes­halb ich das Sam­meln der Brief­mar­ken auf­ge­ben habe und mich den Schall­plat­ten zu wid­men begann. Die­ses Mäd­chen, das mich von den Brief­mar­ken ent­fern­te, hieß Patri­zia und trug sehr klei­ne blaue Knöp­fe in bei­den Ohren, die herr­lich fun­kel­ten, sobald sie sich beweg­te. Ja, sie fun­kel­ten damals bis in mei­ne Träu­me hin­ein und sie fun­keln noch heu­te oder wie­der, wäh­rend ich hier still in einer küh­len Nacht her­um­sit­ze und mich wun­de­re, dass ich an Din­ge den­ke, die ich vor einer Stun­de noch nicht wuss­te. — stop

///

blutgefäss

pic

romeo : 0.05 — Ein­mal, an einem hei­ßen Som­mer­abend, habe ich eine Stadt durch­wan­dert. Sie lag bereits unterm Nacht­zep­pe­lin, wes­halb ich nicht sofort bemerk­te, dass an der Innen­sei­te mei­nes lin­ken Ober­schen­kels ein volu­mi­nö­ses Blut­ge­fäß aus der Fas­sung gesprun­gen war. Der selt­sa­me Ein­druck, wäh­rend ich spa­zier­te, ein klei­nes Tier wür­de mich kosend berüh­ren. Kurz dar­auf notier­ten Fahr­gäs­te eines U‑Bahnwagons, ich wür­de, der­art weit geöff­net, viel­leicht bald ernst­haf­ten Scha­den erlei­den. Und tat­säch­lich, da war ein Schlauch von dun­kel­blau­em Gum­mi, der nahe mei­ner Leis­ten­ge­gend unru­hig durch die Luft zap­pel­te. Ich konn­te sei­ne Bewe­gung gut erken­nen, weil ich, weiß der Him­mel war­um, ins­ge­samt nicht beklei­det gewe­sen war. Eine älte­re Dame, eine Ärz­tin, nahm dann Platz in mei­ner Nähe. Mit blo­ßen Hän­den erwei­ter­te sie mei­nen Schen­kel bis hin zum Knie, sodass wei­te­re Schläu­che aus dem Ober­schen­kel fie­len, die sie sor­tier­te, wäh­rend sie gelas­sen eine Melo­die vor sich hin summ­te. Da waren Struk­tu­ren, kein Blut, in gel­ber, in roter, in grü­ner, in blau­er Far­be. Indem sie an einem der geschmei­di­gen Röhr­chen zog, an einem fili­gra­nen Gefäß, nein, an einem hauch­dün­nen Seil­zug, sand­far­ben, schloss sich das Lin­ke mei­ner Augen gegen mei­nen Wil­len, und die Ärz­tin lach­te und sag­te, schau her, wie schön bunt Du doch bist. Wenn ich hier ein wenig zie­hen wer­de, machst Du auch noch das rech­te Auge zu. Dann wach. — Heu­te ist Sonn­tag, bald wie­der Nacht. Geträumt habe ich bereits am Sams­tag. — stop

ping

///

nachtmensch

2

romeo : 0.08 – Man­che Men­schen, zum Bei­spiel, wenn ich ihnen nachts auf der Stra­ße begeg­ne, grü­ßen mich, als wür­den wir uns gera­de im Hoch­ge­bir­ge oder in einer ande­ren Wild­nis befin­den. Wir set­zen uns dann auf die nächs­te Bank, tau­schen ein wenig Pro­vi­ant und die letz­ten Nach­rich­ten aus, und füh­len ein­an­der ver­bun­den, sagen wir, durch den Man­gel an Licht. Ande­re Men­schen wie­der­um fürch­ten sich vor mir, wie jene uralte Dame mit ihrem noch älte­ren Hund, sie fletscht die Zäh­ne, sobald sie mich sieht gegen drei Uhr auf dem Ador­no­platz. Viel­leicht gehört sie bereits in den her­an­rü­cken­den Mor­gen, ist Tag­mensch, nicht Nacht­mensch, hält mich für licht­scheu­es Gesin­del. Obwohl ich ihr längst in mei­ner gan­zen Harm­lo­sig­keit bekannt sein müss­te, doch stets die­sel­be urmensch­lich dro­hen­de Hal­tung. Viel­leicht ist sie halb­wegs schon blind gewor­den. Oder aber ich wer­de ver­ges­sen, immer wie­der ver­ges­sen, ein­mal um die eige­ne Ach­se gedreht, und schon bin ich zu wei­te­rem tau­fri­schen Schre­cken geworden.
ping

///

karpfenzungen

pic

18.15 — Ich hör­te, eine U‑Bahn-Linie soll ein­mal vor lan­ger Zeit Euro­pa mit dem nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent ver­bun­den haben. Sie folg­te dem 55. Brei­ten­grad unter atlan­ti­schen Gestei­nen, nahe Bryant Park, Man­hat­tan, stieg man zu. Dann fuhr man los. Man fuhr zwei Tage und drei Näch­te, Zeit, viel Zeit, Geschich­ten zu erzäh­len. Wenn Nacht gewor­den war unter dem Mee­res­bo­den, schlief man auf Hän­ge­mat­ten gebet­tet tief und fest, war wie­der Tag gewor­den, saß man plau­dernd vor den Fens­tern zu den Stei­nen. Am letz­ten Abend der Rei­se end­lich wur­de getanzt bis spät in die Nacht. Schon mit­tel­eu­ro­päi­scher Zeit, ser­vier­te man über offe­nen Feu­ern gebra­te­ne Täub­chen. Die waren prall gefüllt mit Karp­fen­zun­gen. Dann war’s fünf und Mor­gen über Buda­pest. Metro Vörös­mar­ty tér stieg man aus und jeder ging sei­ner Wege. – Zwei Uhr fünf­und­zwan­zig in Lha­sa, Tibet. — stop

ping

///

coco chanel

pic

1.18 — Ein­mal, in den Mona­ten der Vogel­grip­pe, kam mir bei klei­ne­ren Tur­bu­len­zen im Gang eines Flug­zeu­ges eine uralte Lady ent­ge­gen, deren Gesichts­zü­ge mich sofort an Coco Cha­nel erin­ner­ten. Sie war von zier­li­cher Gestalt, trug einen dunk­len Man­tel, sport­li­che Schu­he und mach­te Schrit­te wie ein Matro­se auf hoher See. Vor allem ihr schloh­wei­ßes Haar und ihr äußerst wil­lens­star­ker Blick sind nah geblie­ben, auch ihr hell­rot geschmink­ter Mund, der min­des­tens acht­zig Jah­re alt gewe­sen sein muss­te und doch bei­na­he wirk­te wie der Mund einer jun­gen Frau. Eines Abends, wäh­rend ich einer Nach­rich­ten­sen­dung folg­te, erin­ner­te ich mich an die­se selt­sa­me Frau, und ich stell­te mir vor, wie sie aus der drit­ten Eta­ge eines Miets­hau­ses in den Kel­ler steigt, um ein Roll­wä­gel­chen zu suchen, das sie dort — für immer — abge­stellt hat­te, nach­dem sie beim Ein­kau­fen um ein Haar gestürzt war. Es ist also frü­her Mor­gen, es ist Win­ter und noch dun­kel, als die alte Dame das Haus ver­lässt. Ich sehe sie mit vor­sich­ti­gen Schrit­ten in ihrem dunk­len Man­tel und Win­ter­stie­feln über die Stra­ße gehen. An der ers­ten Ampel biegt sie nach links ab, über­quert einen Platz, folgt einer wei­te­ren schma­len Stra­ße, jetzt ist sie vor einem Super­markt ange­kom­men. Sie stellt ihr Roll­wä­gel­chen in der Nähe der Kas­se ab, geht in die Geträn­ke­ab­tei­lung und nimmt eine Fla­sche Was­ser aus dem Regal. Sie trägt die Fla­sche zu ihrem Wägel­chen, kehrt zurück, nimmt sich die nächs­te Was­ser­fla­sche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägel­chen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heim­weg über die Stra­ße gezo­gen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hau­ses ange­kom­men. — Jetzt stellt sie das Wägel­chen neben die Trep­pe, die zur Haus­tü­re führt. — Jetzt ist sie mit einer der Fla­schen im Haus ver­schwun­den. — Zehn Minu­ten ver­ge­hen. Dann erscheint sie wie­der auf der Stra­ße. Sie hat ihren Man­tel aus­ge­zo­gen, trägt eine graue Jacke und Sport­schu­he. Kurz, für zwei oder drei Sekun­den, hält sie sich am Gelän­der der Trep­pe fest. — stop

ping

///

gorilladame

2

18.52 — Wäh­rend einer U‑Bahnfahrt eine zar­te Hand in einem schwar­zen Leder­hand­schuh, die sich mit ihrer Rück­sei­te in mei­ne Hand schmiegt. Für einen Augen­blick der Ein­druck, neben einer fein­glied­ri­gen Goril­l­a­da­me zu sit­zen. — stop
ping



ping

ping