alpha : 22.55 – Die Geste des Schneidens. Wie man mit einem Stift eine Substanz zu einem Zeichen auf Papier setzt, wird mit dem Skalpell die Atmosphäre des Präpariersaal’s in einen Körper eingetragen. Zergliedern heißt zunächst, Räume zu schaffen für das Licht. — stop
Aus der Wörtersammlung: eiche
djuna barnes
tango : 6.38 – Mit Blitzen, die Himmel und Erde verbinden, ist das so eine Sache. Man hört sie nicht kommen. Sie sind immer Erinnerung, nie Ereignis, haarfeine Dampfluftröhren, die Erscheinung erzeugen. Unlängst, während ich im Regen spazierte, muss ich von einem Blitz dieser Art getroffen worden sein, weil ich kurz darauf auf einer Rolltreppe Djuna Barnes gesichtet habe. Sie fuhr nach unten, ich nach oben. Ein faszinierender Anblick. Da waren ein Paar heller, eleganter Schuhe, ein dunkelgrünes, verwegen geschnittenes Kleid, weiterhin ein blauer Sommerhut. Dieser Hut nun brannte lichterloh auf ihrem Kopf. Eine Art Feuer war das gewesen, das ölig rußte, und als sie nahe herangekommen war, auf gleiche Höhe ungefähr, Ruß auch auf ihrer Nase. Dann wachte ich auf und hörte noch, wie ich zu mir sagte: Es regnet. – Diese kleine Geschichte ereignete sich vor etwa einer Stunde. Gerade eben wird es hell und es regnet tatsächlich, weshalb ich im Moment nicht ganz sicher bin, wo ich mich eigentlich befinde. — stop
lichtpelz
lima : 0.02 – In einer frühzeitigen Erinnerung, die ich gestern, während ich eine filmische Erzählung der Stadt Istanbul beobachtete, erreichen konnte, sind keine menschlichen Wesen zu entdecken, doch Körper von Licht. Ich liege in einem schwankenden Schiff, das durch eine Straßenbahn fährt. Über mir die Wärme der Glühbirnen, Glaskolben, in welchen wirkliches Feuer enthalten ist. Draußen, im Dunkeln, Schneeflocken, die aus sich selbst heraus zu leuchten scheinen, Lichtpelzfetzen. — Ich frage mich gerade, ob diese Erinnerung nicht eine ausgemalte Erinnerung sein könnte, Filmbildern nachgezeichnet. Aber da sind der Duft von gebrannten Mandeln und das Schrillen einer Klingel und das Geräusch einer Stimme, die später einmal sagen wird: Max-Weber-Platz. — stop
korrespondenz
echo : 0.02 — Wieder wirkliche Briefe schreiben, Briefe, die man in die Hand nehmen kann, Briefe, auf kostbare Papiere notiert, Botschaften, die in ebenso kostbaren Couverts durch die Luft fliegen werden. Folgendes habe ich mir ausgedacht. Ich könnte zunächst einen Bleistift besorgen und ein wenig üben, mit der Hand Zeichen auf unsichtbaren Linien zu Wörtern zu setzen. Ein oder zwei Wochen der Probe sollten genügen. Dann nach feinen Briefmarken suchen, nach Miros und Zeppelinen und Leuchttürmen und anderen Ikonen unserer Zeit. Ich stehe in einer Kolonialwarenhandlung und glühe vor Begeisterung, weil die Segel, die ich in Händen halte, eigentlich nicht anwesend sind, so leicht, so licht. — Existieren eventuell Papiere, die Korrespondenzen unter Kiemenmenschen zugeeignet sind? — stop
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlief ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
lichtforscher
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : TRAUMLICHT
Lieber Mr. Kekkola, ahoi! Was machen Sie denn so? Seit Tagen keine Nachricht aus der Wildnis. Sind Sie noch am Leben oder wurden Sie bereits heimlich von Bären gefressen? Vermutlich haben Ihnen lüsterne Fliegen derart zugesetzt, dass Sie kaum noch aus den Augen sehen können. Hörte, kühlende Moose, sollen helfen, dass Sie wieder in die Welt hinaus schauen und mir schreiben werden. Nach einer kleinen Reise südwärts wird nun wieder über Tiefseeelefanten nachgedacht. Das ist schon seltsam, wenn ich Stunden an ein und dieselbe Sache denke, dann wird sie so vertraut, dass ich sie mit mir ins Bett nehmen kann, ich meine, ich träume, ich träume, mein lieber Kekkola, mit Elefanten über atlantischen Tiefseeboden zu spazieren. Erinnere mich gerade an einen Forscher des Lichts. Wenn Du einem Problem, einer Idee, einer Spur wirklich nahe kommen willst, sagte mein Vater, dann musst Du so intensiv daran arbeiten, dass Du nachts im Schlaf nicht davon ablassen kannst. Das hab ich nun also gemacht. Ich betrachtete fünftausend Meter lange Rüssel und Paternosteraufzüge, die es bei Ihnen in Amerika nicht gibt, aber bei uns in Europa, endlos dahinfahrende Koffer ohne Deckel, in die man einsteigen kann, einsteigen wie jene Luft, die Tiefseeelefanten in kleinen Paketen atmen, Meereswinde in Beuteln von Haut. Die fahren dann perlend abwärts, ein Beutel nach dem anderen Beutel, zur Lunge hin, die riesig ist und rosa und kühl, wie das Moos, von dem ich Ihnen erzählte. Mein lieber Kekkola, was halten Sie davon? Schreiben Sie mir, sobald Sie wieder schreiben können, ja, schreiben Sie mir! Ich komm Sie sonst holen! Ihr Louis.
gesendet am
20.08.2009
5.32 MESZ
1650 zeichen
kolibri
romeo : 0.15 – Ein Flugtierchen, das auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine kauerte. Ich näherte mich mit dem Zeiger meiner Mouse, tauchender Schatten. Kurz, als würde es den Atem anhalten, hielt das Tierchen inne. Ich notierte: 22 Uhr und 12 Minuten. Der Besuch eines zarten, eines Licht naschenden Wesens. Wie es ein wenig bebt unter den Anschlägen dieser Zeichen, wie es die Beine auseinander stellt. Wie es sich behauptet, wie es mich zu betrachten scheint. — stop
appalachian trial
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : NACHTBÄREN
Lieber Mr. Kekkola, haben Sie sich also auf den Weg gemacht! Wie sehr ich mich für Sie freue! Den Appalachian-Trail einmal anstatt von Süden kommend, von Norden her zu bewandern: feine Idee. Ich bin begeistert! Aber Sie sind spät, sehr spät sind Sie, viele Tage werden Sie unter Regenwolken wandern. Ich hoffe, man hat Sie gut vorbereitet, hoffe, dass Sie über ein wasserfestes Telefon und eine gleichwohl wasserfeste Schreibmaschine verfügen. Ihre erste Nachricht ist heute Morgen jedenfalls bei mir eingetroffen. Eine E‑Mail, der nicht anzusehen ist, dass sie in der Wildnis geschrieben wurde. Wir leben doch in seltsamen Zeiten. Ich habe mir sofort eine kleine Karte ihrer Route besorgt. Was machen die Bären? Und die Bienen? Und die Ameisen? Natürlich werde ich unverzüglich an Sie schreiben, sobald ich einen ersten tieferen Eindruck vom Rüsselprinzip der Tiefseeelefanten gewonnen habe. Ich denke Tag und Nacht über das Atmen in großer Tiefe nach. Ganz vorsichtig teile ich Ihnen mit, dass ich vielleicht bereits eine Ahnung habe. Bis bald, mein lieber Kekkola. Passen Sie gut auf sich auf! – Ihr Louis
gesendet am
27.07.2009
18.58 MESZ
1074 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
anatomische stille
himalaya : 6.05 — Vielleicht kann ich sagen, dass ich dann leidenschaftlich an einem Gegenstand, an seiner Verwandlung in Zeichen, in Sprache arbeite, wenn ich immer und immer wieder zu einzelnen Wörtern zurückkehre, weil sie bisher nicht die richtigen Wörter sind für dies oder das, oder weil überhaupt noch kein geeignetes Wort bekannt geworden ist, um einen bestimmten Ort, eine seltene Stimmung, eine besondere Farbe, ein atemloses Geräusch wiedergeben zu können. Mein Präpariersaal beispielsweise, fast vollständig schon in Zeilen übersetzt, da und dort aber noch die weiße Stille des Papiers, eine Morgenstille, sagen wir, wie ich allein dort im Saal unter Toten sitze. Sie sind noch bedeckt von feuchtem Tuch, und so schließe ich die Augen und notierte, was ich hören kann. Das knisternde, sausende Geräusch einer Ventilatormaschine. Eine Ambulanz von der Straße her. Das Ticken der Saaluhr minutenweise. Die Körper aber, einhundert Körper, sind still. Und doch sind sie nicht ohne Laut, weil ich ihre Stille zu hören meine. Auch in dieser Nacht wieder vergeblich nach dem einen möglichen Geräuschwort ihrer Abwesenheit gesucht. — stop
tiefseeelefanten
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : MONTAUK
Lieber Mr. Kekkola, haben Sie vielen Dank für die feine Fotografie, die Sie mir gestern Abend übermittelten. Wie ich mich herzlich freue, dass Sie sich an mich erinnerten, an die Geschichte uralter Elefantenwanderwege, die den Grund des Karibasees durchkreuzen. Und doch glaube ich, ist der See, an den ich vor langer Zeit einmal dachte, viel zu tief und viel zu breit, als dass Elefanten ihn passieren könnten, ohne Schaden zu nehmen. Nun, wir werden sehen. Ich bin beruhigt, weil Sie mir schreiben, dass ich Ihren Namen als Pseudonym weiterhin verwenden darf, auch für unheimliche Geschichten, wie die Geschichte meiner speziellen Käferwesen von Menschenhaut. Schön muss es bei ihnen sein, in Montauk. Ich besuchte Ihre Gegend mit der Google — Earthmaschine, habe ihr Haus beobachtet und am Strand den Schatten einer menschlichen Gestalt. Denkbar, dass Sie das gewesen sind, so klein, so winzig. Habe ich Ihnen berichtet, dass ich ein Wunschbuch für Träume führe seit einigen Tagen? Ich könnte, nein, ich sollte für die kommende Nacht notieren: Schlafen gegen zwei! Erzähl dir Elefantenherden, die den Atlantik durchqueren. Schwebend unter Rüsseln von fantastischer Länge, leicht, wie Menschen auf dem Mond, spazieren sie schnorchelnd über schneeweißen Tiefseesand. Herzlich grüßt Sie Ihr Louis. Ahoi!
gesendet am
12.07.2009
22.58 MEZ
1425 zeichen