Aus der Wörtersammlung: hunger

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handschuhbäume

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alpha : 6.45 — Im Waren­haus ent­de­cke ich Prei­se, bei­spiels­wei­se den Preis von 1.99 für ein Paar Hand­schu­he, gestrickt. Das fünf­te Jahr in Fol­ge ist es gekom­men, dass die Prei­se für Hand­schu­he fal­len. Sie schei­nen inzwi­schen auf Bäu­men zu wach­sen wie Bana­nen. Auch Bana­nen wer­den immer bil­li­ger. An den Hand­schuh­spit­zen, dort wo man einen Zeig­er­fin­ger hin­ein­ste­cken kann, ent­kom­men dem Gewe­be Fäden. An die­ser Stel­le, so neh­me ich an, waren sie mit ihrem Baum ver­bun­den, hier wur­den sie getrennt vom Wind, der Schwer­kraft oder von Men­schen, die kaum etwas ver­die­nen, nur gera­de soviel, dass sie nicht ver­hun­gern oder ver­durs­ten, weil man sie noch gebrau­chen könn­te in den nächs­ten Jah­ren, geüb­te, gedul­di­ge Frau­en und Män­ner. Ver­mut­lich sind Hand­schuh­bäu­me ganz­jäh­rig blü­hen­de Wesen, irgend­wo ist immer Win­ter. Außer­dem las­sen sich Hand­schu­he gut auf­be­wah­ren, sie ver­der­ben nicht so schnell, man muss sie nicht ein­mal küh­len, nur gefrä­ßi­ge Tie­re ver­trei­ben. Das alles, dass Hand­schu­he von den Bäu­men kom­men, scheint noch sehr geheim zu sein. Ich habe vor weni­gen Minu­ten ver­sucht mit­tels der Such­ma­schi­ne Goog­le her­aus­zu­fin­den wo Bäu­me, wie ich sie mir vor­stell­te, wach­sen und wo man sie ihrer Früch­te beraubt. –stop

polaroidstrand5

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verona

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MELDUNG. Durch Minen­kraft wur­den bei Bre­za 1 Kuh und 1 Baum gefällt, bei Dobrace 1 Hir­te. Auf dem Markt­platz zu Kon­jic deto­nier­te 1 Hand­gra­na­te rus­si­scher Her­kunft. All das bereits ges­tern gegen Abend zu. 6 Hun­ger­künst­ler euro­päi­scher Her­kunft wer­den hin­ge­gen heu­te, Don­ners­tag, 8. Novem­ber, 1 Hun­ger­künst­ler afri­ka­ni­scher Her­kunft zu sich neh­men. Zeit: 15 Uhr MEZ. Ort : Are­na di Vero­na. Nur für Erwach­se­ne. Ein­tritt frei. — stop

ping

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siatista mittags

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tan­go : 0.02 — Man erzählt, aus Ver­zweif­lung über die poli­ti­sche Lage sei­nes Lan­des, ande­re mei­nen, weil er im hohen Alter noch hun­gern muss­te, soll sich ges­tern, gegen 14 Uhr mit­tel­eu­ro­päi­scher Zeit, ein alter Mann auf dem Markt­platz der male­ri­schen Stadt Sia­tis­ta, dem­zu­fol­ge in einer nörd­li­chen Pro­vinz Grie­chen­lands, erschos­sen haben. Er habe ein Sturm­ge­wehr für sei­nen letz­ten Schuss ver­wen­det, eine Waf­fe, die seit dem Jah­re 1944 im Kel­ler sei­nes Eltern­hau­ses in Ölpa­pier gewi­ckelt lager­te. Bei­na­he wäre das Gewehr, einst Stolz des jun­gen Man­nes im Kampf gegen deut­sche Faschis­ten, für immer in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Im Detail war zu erfah­ren, die Kugel habe zunächst den Unter­kie­fer des alten Man­nes durch­schla­gen, sei von dort aus in das Gehirn vor­ge­drun­gen und habe den Kopf über das lin­ke Auge wie­der ver­las­sen. Bruch­tei­le einer Sekun­de spä­ter töte­te das Pro­jek­til eine Flie­ge, die sich kurz zuvor auf den Weg süd­west­wärts gemacht hat­te, um sich zuletzt in den Ast eines Salz­bau­mes zu boh­ren. Ist das nun eine Geschich­te oder eine Nach­richt. — stop

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menkem

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nord­pol : 4.56 — Flug­ha­fen. Frü­her Mor­gen. Regen. Das Licht ver­spä­tet sich, Flug­zeu­ge, die wei­te Stre­cken gegen die Nacht geflo­gen sind, rei­hen sich, eine Ket­te zit­tern­der Lich­ter, hin­ter­ein­an­der bis zum Hori­zont. Neben mir auf einer Bank, den Blick auf die Lan­de­bahn gerich­tet, sitzt ein alter Mann. Er heißt Men­kem. Men­kem lebt seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land, ein afri­ka­ni­scher Mann, der Ita­lie­nisch flie­ßend spricht, Trig­r­in­ja und auch Deutsch, eine Spra­che, die ihm nicht so leicht von den Lip­pen gehen will, wes­we­gen er sehr lang­sam, Wort für Wort, for­mu­liert. Wir war­ten auf einen wei­ßen Vogel, einen Air­bus 380, Lini­en­flug LH 401 New York JFK – Frank­furt am Main, um 5 Uhr 15 soll das Flug­zeug ein­tref­fen. Da noch Zeit ist, fra­ge ich, ob sich Men­kems Fami­lie in Sicher­heit befin­den wür­de oder ob sie viel­leicht von Hun­ger bedroht sei in die­sen Wochen. — Lan­ge andau­ern­des Schwei­gen. — Dann ant­wor­tet mir der alte Mann. Er sagt: Afri­ka ist groß, sehr, sehr groß. Wir essen in Eri­trea nicht vom Boden, wir sit­zen immer auf einem Stein oder auf einem Stück Holz, wenn wir eines fin­den, oder wir haben ein Tuch, auf das wir uns set­zen kön­nen. Wir sind ein­fa­che Mahl­zei­ten gewöhnt, wir essen nicht kom­pli­zier­te Din­ge wie die Men­schen in Äthio­pi­en, sofern sie nicht in Armut leben. Aber wir essen nie­mals vom Boden. Unse­re Spei­sen sind scharf gewürzt. Oft haben wir sehr wenig. Immer müs­sen wir uns beei­len, essen, und dann sofort wei­ter. Der alte Mann macht eine schnel­le Bewe­gung mit sei­ner Hand, als woll­te er etwas von sich wer­fen. — stop

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panther

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lima : 1.42 – Etwas Merk­wür­di­ges muss gesche­hen sein, wäh­rend ich schlief. Als ich erwach­te, konn­te ich nicht sagen, ob ich eine Frau bin oder ein Mann. Ich öff­ne­te die Augen und bemerk­te einen Pan­ther, der vor mei­nem Bett auf und ab spa­zier­te. Das war ein merk­wür­di­ger Pan­ther gewe­sen, der vor mei­nem Bett spa­zier­te. Der Pan­ther war schwarz wie alle Pan­ther, wenn sie wirk­li­che Pan­ther sind. Die­ser wirk­li­che Pan­ther nun aber trug Men­schen­haut und hat­te grü­ne, anstatt gel­be Augen. Wenn ich mich beweg­te, fauch­te der Pan­ther und mach­te einen Satz auf mich zu, so dass ich mich ent­schloss abzu­war­ten, viel­leicht weil ich hoff­te, er wür­de bald schla­fen oder ganz aus mei­nen Zim­mern ver­schwin­den. — Es ist jetzt wie­der Nacht gewor­den. Noch immer habe ich mein Bett nicht ver­las­sen. Der Pan­ther ruht vor mir auf dem Boden. Wei­ter­hin genies­se ich sei­ne unge­teil­te Auf­merk­sam­keit. Nicho­las Bak­ers Buch der Streich­höl­zer, das ich in der Nähe auf dem Boden gefun­den hat­te und gera­de noch unter mei­ner Decke ver­ste­cken konn­te, ist kreuz und quer zu Ende gele­sen. Ich spü­re ein lei­ses Hun­ger­ge­fühl in mir auf­stei­gen, der quä­len­de Durst der Wüs­ten­wan­de­rer klebt schon seit Stun­den an mei­nem Gau­men. Soll­te, sobald in fünf Stun­den die Däm­me­rung ein­set­zen wird, zum Angriff über­ge­hen. Ich muss, kein Aus­weg, die Küche, das heißt, die nächs­te Was­ser­stel­le errei­chen. Viel­leicht sind die­se Zei­len, die ich in weni­gen Minu­ten über mein Funk­netz abset­zen wer­de, die letz­ten Zei­len, die ich als leben­der Mensch notierte.

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am viktoriasee

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lima : 5.18 — Am Vik­to­ria­see Men­schen, jun­ge Men­schen und alte Men­schen, wie sie sich durch modern­de Abfäl­le einer Fisch­fa­brik wüh­len. Gel­be Augen. Salz­wun­de Hän­de. Ver­ei­ter­te Füße. Bauch­bal­lo­ne. stop. Beob­ach­te­te zum fünf­ten Male den Doku­men­tar­film Dar­wins Alb­traum war­um? Kurz dar­auf notier­te ich: Licht fällt in klei­nen Pake­ten vom Him­mel. Und ich dach­te noch, das geht heu­te nicht, so ein Satz doch nicht nach jenem Film in die­ser Nacht. Lan­ge Zeit schon ist von afri­ka­ni­schen Eis­fi­schen zu erzäh­len, von Luft­rei­sen­den in rus­si­schen Waren­trans­port­flug­zeu­gen gegen den Nor­den zu, von all dem Elend erzäh­len, das sie bewir­ken, vom Hun­ger, von dem ich mit eige­nen Ohren hör­te, von Nil­barsch­fi­lets, vom rosen­höl­zer­nen Fleisch auf kost­ba­ren Tel­lern euro­päi­scher Sand­ma­nu­fak­tu­ren. stop. Wie erzäh­len? stop. Wem erzäh­len? stop. Bald wie­der Däm­me­rung. stop. Licht fällt in klei­nen Pake­ten vom Him­mel. stop. 

ping

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simbabwe

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del­ta : 0.02 — Ges­tern, am frü­hen Nach­mit­tag, leg­te ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nacht­ar­beit sehr müde war. Ich stell­te mein Fern­seh­ge­rät an, dort lief ein klei­ner Char­lie Chap­lin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wie­der wach wur­de nach zwei Stun­den, war der klei­ne Film zu Ende und ich sah in einem ande­ren Film eine Frau in einer grü­nen Land­schaft auf dem Erd­bo­den lie­gen. Die Frau, die ich sah, war eine afri­ka­ni­sche Frau, eine Bür­ge­rin des Staa­tes Sim­bab­we. Sie lag dort in Sim­bab­we auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sit­zen konn­te. Sie war unge­fähr so alt wie ich oder sehr viel jün­ger, der täg­li­che Hun­ger hat­te sie viel­leicht älter gezeich­net, und sie schau­te in die Kame­ra, eine euro­päi­sche Kame­ra, und sag­te, dass sie so ger­ne eine Apfel­si­ne haben wür­de. — stop

ping

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Port-au-Prince

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marim­ba : 1.05 — Auf Hai­ti, einer Insel, essen Men­schen, sobald sie ein Gefühl des Hun­gers ver­spü­ren, Plätz­chen, das heißt, sie ver­zeh­ren von der Son­ne getrock­ne­te Schei­ben von Lehm, der mit Mar­ga­ri­ne und einer Hand­voll Salz in Metall­fäs­sern ver­rührt wor­den ist. Kurz dar­auf haben die Men­schen Schmer­zen, aber kei­nen Hun­ger für drei Stun­den. Wenn sie auf die Stra­ße gehen, um der Welt von ihrem Hun­ger, der bald wie­der­kom­men wird, und ihren Schmer­zen im Bauch zu erzäh­len, wer­den sie von Sol­da­ten der UN und Poli­zis­ten ihres Lan­des erschos­sen. stop.  Von mei­nem Fern­seh­bild­schirm abge­nom­men. stop. Zwan­zig Uhr und zwölf Minu­ten in Port-au-Prin­ce, Hai­ti. — stop

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karusell

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0.24 — Ein seit lan­ger Zeit arbeits­lo­ser Mann sei in einen Wald gefah­ren, habe sich auf einen Hoch­stand für Jäger gelegt und zu Tode gehun­gert. Sein lang­sa­mes Ster­ben, so schreibt man, habe der Mann in einem Schul­heft doku­men­tiert. Er habe notiert, wie sich sein Kör­per nach und nach auf­zu­lö­sen begann, wie sei­ne Orga­ne ver­sag­ten, wie der eige­ne Tod näher rück­te. Er wünsch­te in einer letz­ten Notiz, dass sei­ne Auf­zeich­nun­gen sei­ner Toch­ter über­ge­ben wer­den. Wie ver­zwei­felt muss die­ser Mensch gewe­sen sein, um sich wie ein tod­kran­kes Tier zurück­zu­zie­hen und nach 24 Tagen zu ster­ben, wie ver­bit­tert, um die­se furcht­ba­re Gewalt sei­ner Toch­ter anzu­tun! Oder aber die­ser Mann ahn­te, dass auf dem Markt sel­te­ner Papie­re ein hoher Preis für sein fürch­ter­li­ches Doku­ment erzielt wer­den könn­te. — Eine Wert­stei­ge­rung. — Was ist gesche­hen? — stop

ping

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liebeslaute

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1.55 — Seit ich ges­tern, gegen den Mor­gen zu, erfah­ren habe, dass Buckel­wa­le zur Paa­rungs­zeit über eine Spra­che ver­fü­gen, die ein­fa­chen mensch­li­chen Spra­chen ähn­lich ist, immer wie­der die Fra­ge, was ich unter einer ein­fa­chen mensch­li­chen Spra­che ver­ste­hen soll­te, die atem­lo­se Spra­che der Lust viel­leicht oder die Spra­che der Chat­räu­me? Ob eine die­ser mensch­li­chen Spra­chen viel­leicht geeig­net wäre, sich mit­tels einer Pro­ze­dur der Über­set­zung von Wal zu Mensch zu ver­stän­di­gen? Wir könn­ten uns vom Land und von der Tief­see erzäh­len. Eine gran­dio­se Vor­stel­lung, auf hoher See Luft per­lend vor einem Wal zu schwe­ben und zu war­ten und zu wis­sen, dass er gleich, nach ein wenig Denk­zeit, zu mir spre­chen wird. Etwas also sagen oder sin­gen, das nur für mich bestimmt ist. Viel­leicht eine Fra­ge: Wie heißt Du, mein Freund? Oder : Ich hör­te von Bäu­men! - Es ist 2 Uhr 10 und ich bin sehr gut gelaunt, weil ich etwas Lich­ten­berg gele­sen habe. Er schreibt um das Jahr 1774 her­um: Eine Fle­der­maus könn­te als eine nach Ovids Art ver­wan­del­te Maus ange­se­hen wer­den, die, von einer unzüch­ti­gen Maus ver­folgt, die Göt­ter um Flü­gel bit­tet, die ihr auch gewährt wer­den. – Wie aber soll­te ich einem Wal­freund Abu-Ghraib, Gros­ny, Dar­fur, Sim­bab­we, Tibet und Bur­ma erklä­ren, das Fol­tern, das Okku­pie­ren, das offe­ne und das heim­li­che Töten von Men­schen­hand? Und wie den Hun­ger? Und wie das Schwei­gen? — stop

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