india : 4.18 — Wie in die Leere, die ein geliebter Mensch im Leben hinterlässt, nach und nach tröstend erzählte Geschichten fließen, feinstes Gewebe, Licht und Schatten, eine Stimme aus den Stimmen, Land. — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
avenue of the americas
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : AVENUE OF THE AMERICAS
Ich muss Euch nicht erzählen, wo ich mich gerade befinde, liebe Violet, liebe Daisy, ich höre Euere Stimmen, hör, wie Ihr scherzt, was macht er nun schon wieder, warum ist er eingeschlafen, das muss ein betäubendes Buch gewesen sein. Jetzt also bin ich wach geworden. Ich notiere diese Sätze in dem Wissen, dass Ihr lesen werdet, Zeichen für Zeichen, wie in diesem Augenblick erscheint, was ich schreibe. Das Notieren ist so etwas wie das Sichtbarmachen des Denkens, nicht wahr, so könnten wir das vielleicht sagen. > …
… > Spazierte in Euerer Angelegenheit, wie versprochen, durch Manhattan. Ich hatte meinen kleinen Fotoapparat in der Hand, stand mitten auf der Avenue of the Americas, um das neue Hippodrom-Gebäude abzulichten. Auch das wisst Ihr natürlich, wie wir dann Richtung Bryant Park spazierten, unser Gespräch über geheime Tentakeln der Bäume, die den Lärm der Stadt aus der Luft zu fangen scheinen. Und mein Begehren, gewiss, ein Eichhörnchen zu fangen, das warme Licht des hupenden Abends, meine Überlegung, wie ich Euch eines Tages einmal persönlich begegnen könnte, und mein Versprechen, ein weiteres Euerer Jugendbilder zu senden. Was Euch nicht bekannt sein wird, weil ich’s nur dachte, ich hatte in all den gemeinsamen Stunden eine verwegene Frage in meinem neugierigen Kopf. Nun, es ist kurz nach Mitternacht, werde ich diese Frage für Euch buchstabieren, unsicher ein wenig, was geschehen wird, ob ich Euch nicht zu Nahe komme, sodass Ihr aus meinen Augen verschwinden werdet. Gebt gut acht! Es ist nämlich so, dass ich mich frage, wie auch immer die Räume beschaffen sind, die für Euch ausgedacht, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
gesendet am
18.05.2010
0.05 MESZ
1775 zeichen
andrea faciu — touching the city
hibiskus : 18.02 — Fangen wir noch einmal von vorn an. Wie das ist, eine Stadt zu berühren, touching the city. Die Hand einer Frau, gefilmt von einer Kamera, die sich in einer weiteren Hand, der zweiten Hand derselben Frau befindet, streicht über Häuserwände, Klingelknöpfe, Briefkästen, Namensschilder. Filmpartikel, in einen verdunkelten Raum getragen, wo sie sich wiederholen, verwinkelt zu zarten, bebenden Geräuschen des Lichts. — In Florenz, an einem herbstlichen Abend, erzählt die Künstlerin Andrea Faciu derart spannend von ihrer Arbeit, dass ich einen Tag später meine eigenen Hände beobachte, indem sie die Stadt Florenz berühren. Diese Hände nun tasteten in New York nach der silbernen Haut eines Subway-Waggons, Gesten der Begrüßung vielleicht. Da war eine mühevoll gehende Frau gewesen, ich erinnere mich, eine Indianerin unter einem Poncho, gebeugt von der Last einer Christusfigur, die sie durch einen Tunnel nahe dem Times Square schleppte. Ihre murmelnd betende Stimme. Christus blinkte. — stop
iris
tango : 0.05 — 1500 Meilen Wolkentüll über atlantischem Ozean. Fünf weitere Stunden, bald hellblau der Himmel, das Wasser, man könnte die Welt dort oben auf den Kopf stellen und würde es mit den Augen nicht bemerken. Höhe 11887 Meter. Wellen, leichteste Wellen, — 55° Celsius, Eis wispert in der Paukenhöhle. Reptilien von Dunst recken geschärfte Rücken aus der Tiefe. Dann wieder sanfte Gebilde, Wolkenlamellen vom Meer an den Himmel geatmet. Von dort aus fällt man zu Boden, öffnet Iris der Behörde, fährt im luftfedernden Taxischiff über alte Brücke, Nacht, sandmüde Augen spazieren unter dem Regenschirm. Der erste Blick ins irre Licht. — stop
animals
tango : 22.12 — Ich notiere so leise und behutsam wie möglich. Das erste noch winzige Blatt eines beschreibbaren Wesens ist in meiner Nähe gelandet. Spazierte, beobachtete den Himmel und als ich zurückkehrte, war dann alles bereits fertig gewesen. Noch leichte Unruhe auf meinem Schreibtisch, sobald ich mich vorsichtig nähere. Ein wundervolles Gefühl, die Blicke abertausender Augen, deren Licht ich nicht sehen, doch spüren kann. Und so sitze hier nun seit Stunden und überlege, welchen ersten Satz ich mit meinem Lichtstift in das lebende Blatt vor mir eintragen könnte. — stop
feuerblume
marimba : 6.28 — Kurz nach Mitternacht. Hunderte gestrandeter Menschen liegen, Flughafenterminal 2, auf Feldbetten, schlafen unter grauen Decken, still, als seien sie ohne Träume, bewegungslos, verpuppt. Saß auf einer Bank in nächster Nähe, wartete, notierte: Die Augen der Papiertierchen befinden sich im Zentrum ihrer Körperscheibe, eines erhaben aufwärts, das andere erhaben abwärts gerichtet. Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, so ist ihre Welt beschaffen. stop – Nie werden diese Augen sehen, was ich in vergangenen Stunden mit menschlichen Augen auf dem Bildschirm meines Computers beobachtete. Fotografien einer Feuerblume aus dem Eis, ihr tiefschwarzer Atem, das Blut der Erde, ursprünglichste Kraft. — Bleibt noch, mit den Winden zu sprechen.
animals
kilimandscharo : 0.58 — Die wirklich kleinen Dinge dieser Welt sind dem menschlichen Auge nicht sichtbar. Sie befinden sich in Räumen des Ahnens, des Wünschens, des Erfindens. Niemand könnte je sagen, ob man von dort aus betrachtet wird. Wenn ich nun ein Papiertierchen ganz für sich allein belichte, dann erkenne ich zunächst, seine Gestalt ist rund. — stop
schirme
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : SCHIRME
Rasend, lieber Jonathan, vergeht die Zeit! Ein Jahr ist es nun her, seit ich das erste Mal von Ihnen hörte. Viele Stunden, ganze Tage, Wochen habe ich an Sie gedacht, und doch keine durch belichtete Vorstellung gewonnen. Ihre Augen, hell oder dunkel? Wie werden Sie mir begegnen, mit welcher Stimme sprechen? An diesem schönen Morgen darf ich berichten, dass ich mich gut erholen konnte. Fühle mich wohl in meiner Haut. Sieben Uhr. Sie werden sicher noch schlafen, da drüben in Amerika, und sofort, wenn Sie in Kürze erwachen, einen ersten tiefen Zug kühler Waldluft zu sich nehmen. Ihre Verwunderung, wie immer, dass Sie nicht länger unter Wasser leben, dass Sie frei sich zu bewegen in der Lage sind. Wie oft schon habe ich den Versuch unternommen, mich einzufühlen in ihre Lage, unvollkommen, sagen wir, aber nicht vergeblich, wie ich hoffe, weil Sie bemerkt haben werden, dass ich mich um Sie kümmere, dass ich Fragen stelle, dass ich Sie nicht gedankenlos der Welt überantwortet habe. Noch zweiundzwanzig Tage, mein lieber Kekkola, hören Sie zu! Ich habe Wetterkarten studiert, fürchte, wir werden unter Regenschirmen sitzen. Ihren Eltern im Übrigen geht es gut! Ahoi! Ihr Louis
gesendet am
10.04.2010
6.01 MESZ
1612 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
herzgeschichte
olimambo : 0.02 — Das weiße Papier ist niemals leer. Diesen Satz habe ich gestern Nachmittag gegen 15 Uhr genau so notiert, wie er hier verzeichnet ist. Ich saß am kleinen See im Palmengarten und dachte an Herzen und solche Dinge, und als ich den Satz eine Stunde später noch einmal gelesen habe, konnte ich nicht sagen, warum ich den Satz eigentlich aufgeschrieben hatte. Das war ein merkwürdiger Moment gewesen, diese Sekunde, da ich bemerke, dass ich einen Satz, den ich selbst ausgedacht, nicht erkennen konnte. Trotzdem gefiel mir der Satz. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen wahren Satz handeln könnte, und dass ich nur abwarten müsse, bis sich sein feines Wesen zeigen wird. Und so lausche ich nun also. Irgendetwas brummt in meiner nächsten Nähe. Dämmerung. Und ich stelle mir vor, wie gut es doch wäre, wenn Menschen für eine gewisse Zeit ihre Herzen teilen könnten. Man meldet sich zum Beispiel in einem Hospital. Guten Abend, sagt man, guten Abend, wir haben heute Nacht etwas Zeit, mein Herz und ich. Und dann fährt man unverzüglich los, man fährt durch die Stadt und ihre Lichter und Düfte und legt sich sehr bald zu einem Menschen, dessen Herz schwach geworden ist, verbunden liegt man Stunden still.
am späten abend
delta : 6.28 — Es war am späten Abend und ich hatte meine Augen noch geöffnet, Cole Porter spielte ein paar feine Sachen, zwei golden braune Froschballone segelten durchs Zimmer, und da war noch mein kleiner Koffer, und ich sagte zu ihm, als könnte er mich versehen, um dich kümmere ich mich später! Und dann schlief ich ein und wachte wieder auf, noch immer spielte Cole Porter seine feinen Sachen, und ich dachte, du bist eingeschlafen und du bist wieder aufgewacht, das ist das Leben, einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Und da lag ein Engel, eine Mango so groß, auf meinem Bauch, und der Engel schlief, wie ich geschlafen hatte, und ich dachte, ist das nicht wunderbar, sein Herz, sein kleines Herz, wie es schlägt und schlägt und schlägt. Und dann schlief ich wieder ein und schlief und schlief so seltsam, ohne das Schlafen zu bemerken, dass ich vielleicht noch immer schlafe, indem ich gerade schreibe, indem ich gerade zärtlich denke, an das Leben, an das Schlafen, an das Wachen, an all die wilden Dinge, und daran, dass ich nun weiß, wir Menschen sind für letzte Geschichten niemals gemacht, auch in den Minuten schwerster Abschiede ist da immer noch dieser seltsam schwebende Punkt in der Luft, ein leises Licht, ein Blick, bis bald. — stop