india : 8.32 – Im Zuckerwarenladen in der Manoelstreet No 15 pendelt über der Ladentheke ein hölzerner Käfig, nicht größer als ein Schuhkarton, in dem sich ein Stieglitz befindet, ein Männchen genauer, das bis in den Abend hinein, ohne je eine Pause einzulegen, sofort mit der Öffnung des Ladens gegen acht Uhr morgens zu singen beginnt. Das ist eine Art von Gesang, die kaum in Geräuschwörtern wiedergegeben werden kann, ich höre ein dududide oder ein didididu oder ein tschirrrzid. Der Käfig hängt dicht unter der gewölbten Decke. Er scheint sich stets in leichter Bewegung zu befinden, obwohl kein Windzug zu spüren ist in den schattigen Räumen. Eine schläfrige Frau sitzt dort hinter einem Tresen von Glas, unter dem mit Whiskey, Pinienkernen und Kirschen gefüllte Pronjolatataschen sorgfältig gestapelt lagern, Kastanientorten, Orangenkuchen, kandierte Früchte aller Art, und darüber eben jener Vogel, der unentwegt jubiliert oder nach Hilfe ruft. Er sitzt auf einer Stange immer an derselben Stelle, dreht oder neigt ein wenig seinen Kopf zur Seite hin und scheint die Bewegung seiner Wohnung in der Luft, allein durch die Vibration seines Körpers im Gesang hervorzurufen. Manchmal verschließt der Vogel mittels eines silbernen Häutchens, das weitgehend durchsichtig sein könnte, ein Auge. Nach ein oder zwei Sekunden nur ist er wieder zurück. Er scheint aufmerksam zu beobachten, wie ich in mein Notizbuch notiere, was ich von ihm höre. Ein sanfter Irrer. — stop
Aus der Wörtersammlung: luft
malta : eine scheeweiße frau
tango : 10.18 – Kurz nach 10 Uhr morgens sind heute ein paar seltsame Dinge geschehen. Ich saß auf einem schmalen Balkon in angenehmster Luft und hörte dem bezaubernden Gesang eines nicht sichtbaren Vogels zu. Eine Fähre, vielleicht von Sizilien her, kreuzte indessen den Ausschnitt des Meeres, den ich von meinem Stuhl aus wahrnehmen konnte. Sobald sie verschwunden gewesen war, öffnete ich die Times vom Vortag und las, dass noch immer nicht bekannt geworden sei, wo der chinesische Künstler Ai Weiwei gefangen gehalten wird. In Japan versuchte man weiterhin unter höchster Gefahr in verseuchtem Gebiet, Opfer des Tsunami zu bergen. In diesem Moment öffnete sich ein Fenster jenseits der Straße, eine Frau, deren Gesicht schneeweiß gewesen war, starrte mich für einige Sekunden an. Das war ein merkwürdiger Blick, ein Blick, als ob sie mich in diesen Sekunden mit ihren Augen fotografieren würde. Bald zog sie ihren Kopf wieder zurück in den Schatten des Raumes, um kurz darauf wiederzukehren, mit einem Korb in der Hand, der an einer Schnur befestigt war. Sie seilte den Korb zur Straße hin ab, sah mich in dieser Bewegung wieder fotografierend an, beobachtete demzufolge, wie ich ihrem Korb mit den Augen folgte. Vor dem Haus weit unter uns wartete ein Briefträger. Der junge Mann entnahm dem Korb ein Schriftstück und legte stattdessen eine Flasche hinein. Unverzüglich holte die Frau den Korb wieder zu sich nach oben. Kräftige Bewegungen ihrer dürren Arme. Auch ihre Arme waren so strahlend weiß, dass ich den Eindruck hatte, sie wären aus Licht gemacht oder von der Einsamkeit des Zimmers. — stop
malta : 81er bus
echo : 22.05 – Sagen wir das so: Ich bin heute, an diesem sonnigen Montag mit dem Bus hin und her übers Land gefahren, mit einem 81er-Bus, mit Luca’s Bus, und zwar die Strecke von Valletta nach Rabat bis rauf zu den Dingli Cliffs, von wo man weit aufs Meer hinaus südwärts nach Afrika schauen könnte, wenn die Erde nicht rund wäre wie wir sie vorgefunden haben. Luca ist ein Busfahrer aus Leidenschaft. Er trägt ein blaues Hemd, seine Arme sind gebräunt wie sein Gesicht, rechts, von wo die Sonne kommt, etwas stärker als von links. 47 Cent kostet eine einfache Fahrt nach Rabat. Jeder, der hereinkommt, wird begrüßt: Welcome, welcome! Dann 15 Kilometer stetig dem Himmel zu, links und rechts der Straße, Spuren von Weizen, Tomaten, Kartoffeln, Inseln blühender Blumen, Mohn und Margeriten und Linien von Kakteenpflanzen, als seien Meereswellen zu fleischigen Blattkörpern gefroren für alle Zeit. Da und dort ein Dorf, Büsche, Orangenbäume, Windräder, Funkantennen. Nach einer Stunde kommt man dann an in Rabat oder Mdina, man weiß jetzt, dass man über einen Knochenkörper verfügt, und man ahnt, dass Luca seinen Weg noch finden würde, wenn er einmal blind geworden sein sollte. Luca sammelt Marienbilder wie ich Überraschungen sammle, Momente wie diesen, da Luca bemerkt, dass ich nicht aussteigen, dass ich wieder mit ihm zurückfahren werde, dass der Bus und er selbst für mich bedeutender sind, als Orte und Landschaft, die wir durchreisen. Jetzt darf ich ihn fotografieren und sein Armaturenbrett, Diesel, Diesel! Und ich darf ihm eine Frage stellen, ich wollte nämlich wissen, ob es für ihn denkbar ist, seinen Bus einmal bis hin unter die Decke mit Wasser zu füllen, ob er sich vorstellen könne, mit einem Bus voll lebender Fische über Land zu fahren. Luca’s Hupe, eine Lufttrompete. — stop
malta : fallschirmregen
nordpol : 16.22 – Aus heiterem Himmel setzt sich vor der Nationalbibliothek eine uralte britische Lady zu mir in den Schatten. Helle, faltige Haut, die sich mit dem Seewind über ihren dürren Körper hinzubewegen scheint. Sie trägt einen grünen Sonnenhut, gelbe Ledersandalen und einen langen beigefarbenen Rock; hellblaue Augen, Stecknadelpupillen, die mich fixieren, kein Lidschlag. Wo ich herkomme, will sie wissen, was ich da notiere, ob ich mit dem Internet verbunden sei. Indem sie mir zuhört, lehnt sie sich in ihren Stuhl zurück, um sich sofort wieder zu nähern, wenn sie selbst zu sprechen beginnt. Dass es ein Wunder sei, wie schnell die Deutschen nach dem Krieg wieder wohlhabend geworden sind. Ja, die Deutschen, sagt sie mit ihrer hellen Stimme, alles, was die Deutschen tun, machen sie gründlich. Einmal, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, regneten eines frühen Morgens Fallschirme auf die Ebenen Maltas herab. Sie hatten es nicht leicht mit der Landung, da waren überall steinerne Wälle zum Schutz vor dem Wind. Kurz darauf fielen Bomben auf den kleinen Ort Mosta. Wenn Sie Zeit haben, besuchen Sie Mosta, das müssen Sie unbedingt tun! Eine Bombe traf die Kirche, dorthin hatten sich hunderte Menschen geflüchtet, aber die Wände, das Gewölbe waren unbesiegbar gewesen. Eine weitere Bombe traf den Marktplatz und tötete ein Dutzend Hühner. Die alte Frau spricht jetzt langsam und präzise, als erwartete sie, dass ich ihre Erzählung Wort für Wort im Kopf mitschreiben würde. Eine ihrer Schwestern sei verwundet worden, ein Splitter habe den Onkel, der sich auf sie geworfen habe, glatt durchschlagen. Ihr Vater habe dann ein Zelt im Haus für die Familie errichtet, weil das Haus sein Dach verloren hatte durch den Luftdruck, als ein benachbartes Grundstück einen Volltreffer erhielt. Es ist schon ein Wunder, sagt sie und lächelt, es ist schon ein Wunder. - stop
malta : lower barracca gardens
india : 23.37 – Samstag. stop. Seit bald zwei Tagen keine Zeitung gelesen. Über den wolkenlosen maltesischen Himmel streunen Wasserflugzeuge. Es ist heiß in der Sonne, aber es weht ein angenehm kühler Wind durch die Gassen der alten Stadt. Habe in den Lower Barracca Gardens Stunden versucht, seltsam luftige Wesen zu fotografieren, sie sind ohne Ausnahme, sobald ich auf den Auslöser drücke, Flüchtende, das heißt, Abwesende, als ob sie meine planenden Gedanken lesen könnten, segeln mit einem sirrenden Geräusch unter verwitterten Bäumen davon, Grillen vielleicht, Grillenvögel, weil sie nicht springen, sondern fliegen, aber nicht von der Gestalt der Vögel, sondern von der Gestalt der Insekten sind. Goldgelb die Farbe ihres Körpers, wie die Steine der Stadt so goldgelb, für einen Moment dachte ich, dass sie selbst steinerne Wesen sein könnten, dass sie den Wänden der Häuser entkommen, dass die Stadt in dieser Weise in kleinen Teilen gegen die Abendluft zu entweichen wünscht, eine Stadt kurz vor dem Abflug, aber noch nicht entschlossen, kehrt sie zurück, ehe die Sonne ganz verschwunden ist. Da sind Fühler an den fliegenden Steintieren befestigt, länger als ihr Hauptkörper sind sie, und hauchdünne Segelflügel, die Dämmerung vom Himmel rufen. Lotsenschiffe verlassen den Hafen. Gegen Mitternacht werden sie zurückkommen, Tankschiffe, riesigen gewässerten Zeppelinen ähnlich, im Schlepp. — stop
luftgespräch
echo : 8.18 – Ich spazierte in einer Stadt seltsamer Menschen. Diese Menschen waren Wesen ohne Augen in ihrem Gesicht, weswegen ich sie nicht begrüßen konnte, was ich natürlich schon deshalb versuchte, weil ich herausfinden wollte, ob diese Menschen, die sich in engen Straßen fortbewegten, ohne je aneinanderzustoßen, eventuell über geheime Augen verfügten, sehr kleine Augen in den Nasenflügeln, sagen wir, oder ihren Wangen, feinste Facetten. Als ich einmal den Himmel über mir betrachtete, bemerkte ich wegweisende Sätze auf Schildern und Pfeile und Spiegel, sodass ich mich selbst betrachten konnte, meinen in den Nacken geworfenen Kopf. In einer Bahnhofshalle ruhten wartende Reisende auf Bänken. Sie lagen so zueinander, dass ihre Schädeldächer sich fast berührten. Manche schliefen, andere unterhielten sich. Je ein Auge dort pro Kopf von feinem Haar umgeben. Aus der Ferne betrachtet sah das ganz so aus, als würden jene Liegenden Selbstgespräche führen oder mit der Luft. Dann wach. — stop. — Montag. Acht Uhr zweiundzwanzig Minuten in Bengasi, Libyen. — stop
zivilisation
romeo : 5.51 — Ein schwergewichtiger Mann unlängst am Ende der Nacht während einer Straßenbahnfahrt. Drückt mich samt Schreibmaschine zur Seite. Ein harter, zunächst schweigender Körper, fahles Gesicht. Dann mit gepresster Stimme. Ich sei einer, der in der 1. Klasse reisen sollte. Unterdrückte, massive Gewaltbereitschaft, die bei leisester Provokation hemmungslos auszubrechen droht. Enormer Hass aus kleinen Augen. Ein Moment, da ich glaube, dem Bösen höchstpersönlich zu begegnen. Der massige Mann folgt mir an diesem Frühlingsmorgen klarer Luft über die Straße. Das Singen der Amseln in den Bäumen. Der glühende Wunsch in meinem Kopf, die Gestalt hinter mir mittels eines Skalpells sorgfältig in kleinste Teile zu zerlegen. Ein Hauch nur, so fein die Haut der Zivilisation, die mich im Innern schützt. — Erneut endende Nacht. Ein Reporter stand gerade noch vor mir auf einem Dach in Tokio. Er sagte, diese Situation, morgens zu erwachen und zu bemerken, dass wieder ein Kernreaktor explodiert ist, sei surreal. — Man müsste, denke ich, auf der Stelle Käferwesen erfinden, die sich rasch vermehren, Milliarden Käfer Stunde um Stunde, Wesen, die sich unverzüglich auf die Jagd nach kleinsten Teilchen in der Atmosphäre machen würden, um sie zu verspeisen, weil das ihre Bestimmung ist, ihre Leidenschaft, das Jagen, das Fangen und das Segeln auf strahlenden Flügeln weit aufs Meer hinaus. — stop
fernsehmaschine
tango : 22.08 — Bilder von der Fernsehmaschine, die einem Albtraum entkommen. Das Meer reißt menschliches Leben an sich, eine gewaltige, flüssige Faust, die auf schwankendes Land niedergeht. Atomare Höllenhitze in zerbrechlichen Gefäßen. Ein kleiner Junge steht unter Nadelbäumen, erhobene Hände, vor einer erwachsenen Person, die einen Schutzanzug trägt. Der Astronaut misst, ob das Kind gefährlich geworden ist. Uralte Menschen ruhen in der kalten Luft auf Bahren in Decken gewickelt dicht über dem Boden, Neugeborene in ihren letzten Lebenstagen, die mit wild gewordenen Augen den Himmel betasten. Von Stunde zu Stunde zählen Kommentatoren in den Sprachen dieser Welt Geisterzahlen, Tote, Vermisste, Verletzte. Da ist ein brausendes Geräusch, schwarzes Wasser, das Autos, Schiffe, Häuser durch enge Straßen landeinwärts drückt, Hupen, blechernes Krachen, keine menschlichen Stimmen. Am Strand dann aber ein Mann, der zu einer Kamera spricht. Er sagt, er glaube, sich in einem Horrorfilm zu befinden, er wisse nicht, ob er träume. Mit einem festen Griff reißt er an der Haut seines Gesichtes. Das Unsichtbare schon anwesend. Weit draußen auf dem offenen Pazifischen Ozean treibt ein weiterer Mann. Er steht auf dem Dach seines eigenen Hauses. — stop
luftteilchen
romeo : 6.02 — Wie mich das begeistert, Details einer Geschichte nachzudenken, feinsten Teilchen einer Wirklichkeit, die später einmal unsichtbar sein werden in der Zeichenlinie auf Papieren, nur für mich wahrnehmbar im Moment der Erfindung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Farbe der Wolken über einer Landschaft. Oder eine Bewegung. Die Bewegung einer Hand, eines Mundes, einer Schrift. Das Murmeln einer Stimme im Schlaf. Gestern habe ich darüber nachgedacht, welcher Art ein Geschenk sein könnte, das ich mit mir nehmen würde, wenn ich ein befreundetes Ehepaar besuchte in seiner wohlgestalteten Wohnung, die eine menschliche Wohnung ist, aber eben vollständig mit Wasser gefüllt. Ich dachte, dass ich ihnen eine Schmuckschnecke zum Geschenk machen sollte, ein ganz besonderes Exemplar von der Größe einer Hand, das nun über die Wände der unterseeischen Behausung gleiten und musizieren würde, warme, leise pfeifende Geräusche. Diese freundliche Molluske könnte von innen her blau beleuchtet sein, so weit lässt sich das gut denken. Wie aber verpacke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teufel lassen sich 2 Pfund Süßwasserschnecke artgerecht verschnüren? — stop
kairobildschirm
sierra : 6.28 — Regen, erste Milde des Jahres. Ein Freund, arabischer Jazzmusiker und stark wie ein Bär, erzählte vor wenigen Stunden, er sei versucht gewesen, während der Rede Husni Mubaraks am Donnerstagabend, sein Fernsehgerät zu zertrümmern. Kann ich nun von einem Wunder sprechen, dass in der zurückliegenden Nacht in den Straßen Kairos nicht rasende Gewalt ausgebrochen ist? Merkwürdig der Augenblick, als sich nachmittags über den hellblauen Himmel der riesigen Stadt ein Hubschrauber fortbewegte, sandfarben und so klein, dass er kaum noch sichtbar gewesen war, ein Luftfahrzeug, in dem sich vielleicht ein Menschendespot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je verstehen wird, was geschehen ist. Kurz darauf das Beben des Bodens, seismografisch messbar unter Tausenden tanzender Füße, die ihre Schuhe wieder tragen. Auf meinem Fernsehbildschirm erweist ein General mit einer irritierenden militärischen Geste den Opfern des Aufstandes seine Ehre. — stop