Aus der Wörtersammlung: ohr

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ein millionstel gramm wort

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sier­ra : 15.38 UTC — Ich ver­fü­ge jetzt über eine wei­te­re Schreib­ma­schi­ne. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn mei­ne neue Schreib­ma­schi­ne in der Hit­ze der Tag- oder Abend­luft atmet, um sich zu küh­len, ist von ihren Atem­ge­räu­schen nichts zu hören. Selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäu­se lege: Stil­le. Ich könn­te sie unter mei­nem Hemd ver­ber­gen, weil sie so flach ist, nie­mand wür­de sie bemer­ken. Ein­mal notier­te ich: Wenn das so wei­ter geht mit dem Leich­ter­wer­den der Schreib­ma­schi­nen, wer­de ich bald Schreib­wer­ke zur Ver­fü­gung haben, die von gerin­ge­rer Schwe­re sind als die Papie­re, die ich mit ihren Zei­chen fül­le. — Wie viel genau wiegt eigent­lich die­ses elek­tri­sche Wort, das gera­de vor mir auf dem Bild­schirm erscheint? S i e r r a. Wie vie­le Male wird das Wort S i e r r a heu­te oder mor­gen auf wei­te­ren Bild­schir­men auf­ge­ru­fen wer­den, wie lan­ge Zeit jeweils sicht­bar sein? Es ist denk­bar, dass das Wort S i e r r a , das in Euro­pa vor weni­gen Minu­ten ver­zeich­net wur­de, schwe­rer wiegt, sobald es in Aus­tra­li­en auf einem Bild­schirm erscheint, als das­sel­be Wort, wenn wir es in Euro­pa lesen, 1 Mil­li­ons­tel Gramm schwe­rer, sagen wir, um 1 Mil­li­ons­tel Gramm Koh­le schwe­rer und um den Bruch­teil einer Sekun­de. — stop

ping

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ich war im flur spazieren

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tan­go : 15.06 UTC — Über einen lan­gen Flur eines Schif­fes wan­dernd, begeg­ne­ten mir zwei Män­ner, ein jun­ger und ein etwas älte­rer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stim­men in mei­nen Ohren des­halb lau­ter wur­den, hör­te ich, dass sie sich über ein Büro unter­hiel­ten, in wel­ches einer der bei­den Män­ner vor weni­gen Tagen erst ein­ge­zo­gen war. Es ging in dem Gespräch außer­dem um Möbel. Die Män­ner waren sich, so mein Ein­druck, nicht ganz einig gewe­sen. Sie dis­ku­tier­ten, ein lau­tes, lachen­des, ein leben­di­ges Gespräch, wes­halb ich umdreh­te und den Män­nern in dezen­tem Abstand folg­te, ich woll­te Ihnen heim­lich zuhö­ren, was ver­mut­lich nicht ganz höf­lich gewe­sen war. Ich glau­be, die zwei Män­ner bemerk­ten mich glück­li­cher­wei­se nicht. War­um ist dein neu­es Büro so leer? Woll­te der eine Mann, er war wirk­lich noch sehr jung gewe­sen, von dem ande­ren, dem älte­ren Mann wis­sen? Das ist so, ant­wor­te­te der alte Mann dem jun­gen Mann, hör zu, ich will unab­hän­gig leben von mei­nem Büro, ich will nicht mit ihm ver­wach­sen sein. Wenn ich von mei­nem Büro ein­mal getrennt wer­den soll­te, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit mei­nem Büro ver­wach­sen sein wür­de, könn­te man mir Schmer­zen zufü­gen, man könn­te sagen, Sie dür­fen blei­ben, wenn sie folg­sam sind, man könn­te mich erpres­sen, ver­stehst Du, man könn­te mich mit leich­ter Hand fer­tig machen. Des­halb sind in mei­nem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papie­re, ein Obst­korb, eine beson­de­re Tafel, die beschrif­tet wer­den kann und wie­der gerei­nigt von Far­be, eine Zeich­nung wei­ter­hin, die einen Mann zeigt, der sein Fahr­rad zer­leg­te, außer­dem sind da noch, eine Kaf­fee­tas­se, drei Stüh­le für Gäs­te, ein klei­ner Kühl­schrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Tep­pich, wel­chen ich auf einer Rei­se nach Marok­ko ent­deck­te, eine Steh­lam­pe, die sich gleich hin­ter mei­nem Schreib­tisch befin­det, ein wun­der­bar war­mes Licht strömt von dort, eine zwei­te Lam­pe auf dem Schreib­tisch, die im Win­ter zusätz­lich Licht spen­den wird, ein klei­nes Sofa, Blei­stif­te in einem Blei­stift­ge­fäß, ein Tele­fon, zwei Kak­teen, fünf Orchi­deen auf der Fens­ter­bank, ein Käfig mit einem Zei­sig­pär­chen, drei Schreib­ma­schi­nen, eine Foto­gra­fie, die mei­ne Gelieb­te zeigt, wie sie lächelt, ist das nicht wun­der­bar. — stop

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in zeitlupe

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nord­pol : 15.12 UTC — Ein­mal beob­ach­te­te ich, wie mir ein schwar­zes Käst­chen gesam­mel­ter digi­ta­ler Infor­ma­ti­on aus den Hän­den glitt und zu Boden fiel. Eine Bewe­gung wie in Zeit­lu­pe, eine Bewe­gung, ohne die Mög­lich­keit ein­zu­grei­fen, da ich mich selbst in dem Fens­ter mei­ner Wahr­neh­mung wie in Zeit­lu­pe beweg­te. Ich hob das Käst­chen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näher­te, hör­te ich ein selt­sa­mes, lei­ses Ticken. Jene Schreib- und Lese­ma­schi­ne, die in dem Käst­chen gebor­gen war, war blind gewor­den. Kurz dar­auf kauf­te ich ein wei­te­res Käst­chen und dach­te tage­lang dar­über nach, wie ich von nun Daten, Spu­ren, Zei­chen, Ver­zeich­nis­se mei­ner Arbeit bewah­ren könn­te. — Zwei Jah­re ver­ge­hen. ‑Heu­te wan­der­te ich eini­ge Stun­den durch einen wil­den Wald, ohne ver­mut­lich irgend­ei­ne digi­ta­le Spur zu hin­ter­las­sen, nicht 1 Byte. Sehr merk­wür­dig. Noch zu tun: Lek­tü­re Nichol­son Bak­er Eine Schach­tel Streich­höl­zer. — stop

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lappo

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nord­pol : 12.30 UTC — Ein ande­res Mal beob­ach­te­te ich einen Film­be­richt, der von Men­schen erzähl­te, die auf der Insel Lap­po in Mee­res­nä­he sehn­süch­tig den Win­ter wie einen Besu­cher erwar­ten, dass das Meer end­lich gefriert, dass sie bis nach Tur­ku über das Was­ser lau­fen kön­nen. Eine Frau sagt, sie lie­be die Stil­le im Ohr. Die­se Stil­le sei wie ein Geräusch für sich. Man kön­ne der Stil­le zuhö­ren. Manch­mal knis­te­re das Eis, im Som­mer summ­ten Insek­ten­tie­re durch Luft und Stil­le. — Eben fällt mir ein, dass ich vor län­ge­rer Zeit bereits den Auf­trag for­mu­lier­te, Schnee­li­bel­len zu erfin­den. Fan­gen wir an. — stop

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turingluftmaschine

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sier­ra : 0.05 UTC — Bis in den spä­ten Abend bei geöff­ne­ten Fens­tern über das Wesen nicht­de­ter­mi­nis­ti­scher Algo­rith­men nach­ge­dacht. Da war plötz­lich wie­der ein hel­les Pro­pel­ler­ge­räusch an mei­nem Ohr, ein ver­trau­ter Ton, den ich seit Kin­der­zeit erfin­de, aber immer dann, wenn ich die­ses Geräusch sum­mie­ren woll­te zu einem Geräusch hun­dert­tau­sen­der Flie­gen­tie­re, der Ver­dacht, dass mit mei­ner Erin­ne­rung etwas nicht ganz in Ord­nung sein könn­te. Ein Schwarm der Ord­nung Eph­emer­op­te­ra ist in der Luft kaum zu ver­neh­men. Habe fünf oder sechs Schwar­m­er­schei­nun­gen in der Wirk­lich­keit beob­ach­tet, sie sind laut­los wie wir­beln­der Schnee. Und doch war da stets ein beson­de­rer Ton, sobald eine Flie­ge dicht an mei­nem Ohr vor­über gekom­men war oder in nächs­ter Nähe auf mir lan­de­te. – Ein zar­tes Klap­pern viel­leicht? – Wei­ter­hin Luft­ge­räu­sch­wor­te erfin­den. — stop

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glück

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char­lie : 20.52 UTC — Am Ufer eines klei­nen Sees auf einer Bank in einem Park kurz vor der Däm­me­rung. Da und dort Karp­fen­schnä­bel, die etwas von der regen fri­schen Luft zu trin­ken schei­nen. Drei Amei­sen has­ten gleich neben mir hin und her über war­mes, ver­wit­ter­tes Holz. Und da ist ein Fal­ter. Er tas­tet mit sei­nen Füh­lern nach Wort­zei­chen auf mei­nem Bild­schirm, viel­leicht des­halb, weil das strah­len­de Weiß des Bild­schirm­hin­ter­grundes Luft, Zei­chen hin­ge­gen ein Etwas bedeu­ten, einen Schat­ten, mit dem kommu­ni­ziert wer­den kann. — Ich habe wie­der ein­mal  beob­achtet, dass ich, wenn ich mit mei­nen Ohren nach Geräu­schen suche, die nicht hör­bar sind, mei­ne Augen öff­ne so weit ich kann. Der Wunsch, ein­mal in mei­nem Leben, für eine hal­be Stun­de nur, über das Ver­mö­gen zu ver­fü­gen, den Sonar­hupen der Abend­segler lau­schen zu kön­nen. — stop

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in der schnellbahn

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zou­lou : 10.12 UTC — Ges­tern in der Schnell­bahn las ich in mei­nem elek­tri­schen Notiz­buch fol­gen­den Hin­weis: Geschich­te vom Papier­seg­ler. Ich habe die­sen Ver­merk einer Geschich­te, die sich  in mei­nem Kopf befin­den muss, im August des ver­gan­ge­nen Jah­res fest­ge­hal­ten, ver­mut­lich in einer Schnell­bahn fah­rend. Auch in die­sem Moment, wie­der sit­ze ich in einer Schnell­bahn, kom­me ich an mei­ne Geschich­te nicht her­an. Sie ken­nen das viel­leicht. Wie man nach einem Wort sucht oder einer Tele­fon­num­mer, in die­ser Art und Wei­se such­te ich vor weni­gen Minu­ten nach mei­ner Geschich­te. Ich schloss also mei­ne Augen oder öff­ne­te sie, um vor­über­zie­hen­de Wald­land­schaft zu betrach­ten, der eigent­li­che suchen­de Blick aber war nach Innen gerich­tet. Auch mei­ne Gedächt­nis­oh­ren waren indes­sen äußerst auf­merk­sam gewe­sen. Vie­ler­lei Geräu­sche, aber nicht ein ein­zi­ges Geräusch, das mich zu mei­ner Geschich­te führ­te. Ich ahne, dass ich Geschich­ten oder Wör­ter, sobald ich sie gefun­den habe, zunächst höre, mit mei­nem Kopf, erst dann ver­mag ich sie zu lesen. Ich will das wei­ter beob­ach­ten. Jetzt muss ich aus­stei­gen. — stop

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vom drohnenvögelchen

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echo : 17.18 UTC — Er fliegt nicht, sag­te die klei­ne S. am Tele­fon. Es ist frü­her Abend, die hel­le Stim­me am Tele­fon klang ängst­lich. — Wer fliegt nicht, woll­te ich wis­sen? — Na, der Vogel, den Du mir geschenkt hast, er sitzt auf dem Boden und bewegt sich nicht. S. war beun­ru­higt, sie sag­te, der Vogel sei gera­de noch durch die Küche geflo­gen, dann sei er vor dem Küchen­tisch gelan­det, jetzt sit­ze er reg­los auf dem Boden. Sind denn sei­ne Lich­ter noch an, erkun­dig­te ich mich. Nein, sag­te S., auch die Lich­ter bren­nen nicht, und er sagt nichts, kei­nen Pieps. — Ich über­leg­te kurz, wech­sel­te den Hörer mei­nes Tele­fons vom lin­ken an mein rech­tes Ohr: Ich glau­be, ich weiß, war­um Dein Vogel gera­de nicht fliegt. Hör zu, ich wer­de mich ein wenig umhö­ren, dann rufe ich Dich wie­der an! — Viel­leicht soll­te ich an die­ser Stel­le schnell erzäh­len, dass ich mei­ner Nich­te S. im ver­gan­ge­nen Jahr zu Weih­nach­ten eine fin­ger­lan­ge Droh­ne für Kin­der schenk­te, die wun­der­bar blin­ken kann in blau­en und roten Far­ben. Bis­wei­len gibt sie Geräu­sche von sich, als wäre sie eine Loko­mo­ti­ve. Die­ses Wesen, dem Ver­neh­men nach welt­weit die ein­zi­ge Loko­mo­ti­ven­gat­tung, die zu flie­gen ver­mag, lässt sich über eine hand­li­che Funk­steue­rung manö­vrie­ren. Ich habe das selbst aus­pro­biert, das ist nicht ganz ein­fach für Kin­der, und auch für erwach­se­ne Per­so­nen eine Her­aus­for­de­rung. Ich ver­mu­te­te nun, dass die Strom­ver­sor­gung der Droh­ne mög­li­cher­wei­se aus­ge­fal­len sein könn­te. Kurz nach­dem ich her­aus­ge­fun­den hat­te, wie man die Bat­te­rien der Loko­mo­ti­ve aus­wech­seln könn­te, rief ich mei­ne Nich­te wie­der an. Ihre Mut­ter kam ans Tele­fon, Sekun­den spä­ter S., die fröh­lich erzähl­te, der Vogel sei wie­der in der Luft, sie kön­ne im Moment nicht reden, sie müs­se auf­pas­sen, dass der Vogel sich nicht wie­der auf den Boden setzt. Ein lei­ses Sur­ren war zu hören, dann Schrit­te, dann eine hel­le Stim­me, die bereits zum Vogel sprach: Komm, wir flie­gen jetzt ins Wohn­zim­mer. — stop

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oder ein fernrohr

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del­ta : 10.08 UTC — Lie­ber Theo, ich dan­ke Ihnen für Ihren Brief, in dem Sie sich so freund­lich nach der Bedeu­tung des Wor­tes Fin­ger­bril­le erkun­di­gen. Tat­säch­lich kann ich bestä­ti­gen, um eine Fin­ger­bril­le in der Wirk­lich­keit her­zu­stel­len, sind bei­de Hän­de vor Augen zu füh­ren, außer­dem der lin­ke und der rech­te Dau­men je mit einem Fin­ger der­sel­ben Hand an den Spit­zen zu ver­bin­den, sodass die Anmu­tung eines Krei­ses ent­ste­hen wird. Soll­ten Sie dau­er­haft oder für kur­ze Zeit über nur eine Hand ver­fü­gen, ist doch immer­hin die Gestalt eines Mon­okels zu errei­chen oder eines Fern­roh­res, das ist denk­bar. Mit herz­li­chen Grü­ßen — Ihr Lou­is — stop
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