tango : 6.58 UTC — Im Traum lese ich ein Buch von Papier. Das Buch ruht auf meinem Schreibtisch. Schriftzeichen sehr gut lesbar, ein Buch, das ich ohne Brille verstehe. Ich lasse das Buch geöffnet auf dem Schreibtisch liegen, wenn ich spazieren gehe. Oder zum Einkaufen. Oder ins Kino. Sobald zurückgekehrt, lese ich weiter. Der Eindruck plötzlich, der Text des Buches, den ich zuletzt noch gelesen hatte, würde sich verändert haben, während ich dem Buch den Rücken kehrte. Ich lese einen Satz und präge mir ein, was ich gelesen hatte. Dann stehe ich auf und trete ans Fenster. Ein Eichhörnchen sitzt im Baum jenseits der Straße, es scheint zu grüßen. Kaum zurück vor dem Schreibtisch, der Verdacht, nein, die Gewissheit, dass sich wiederum Zeichen des Buches in meiner Abwesenheit verändert haben oder sich verändert haben könnten. Ich suche nach meinem Fotoapparat. Ich nehme eine Fotografie des geöffneten Buches aus nächster Nähe. Ich wache auf. Es ist Samstag. Feuchte Luft. 30° Celsius. Wunderbar. — stop
Aus der Wörtersammlung: ränder
louis
alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wilhelm Genazino Folgendes > Geheimnisse des Wohnens: Im Sommer: eine einzelne Fliege ist im Zimmer: Sie stößt manchmal an eine Scheibe, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewohner in Ruhe. Angenehmes Gefühl, mit einem solchen Tier einen Nachmittag zu verbringen. — Fliege Louis, von der ich kürzlich erzählte, sitzt seit drei Tagen bereits reglos auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Es ist hell geworden, dann wieder dunkel, und wieder hell. Unverändert sitzt Fliege Louis, seit drei Phasen der Dunkelheit bereits auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Noch immer bewege ich mit behutsam. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre
von handboten
sierra : 22.01 UTC — Terroristen planten einen Angriff auf zivile Menschen im Süden Israels jahrelang. Ihre Kommunikation, bis zuletzt unbemerkt, muss über Papiere und menschliche Boten organisiert worden sein. Später höre ich, sie telefonierten mittels von Hand gelegter Telefonleitungen in Tunneln unter der Stadt Gaza. Ich stelle fest, die Folgen ihrer Tat, werden noch immer in der digitalen Sphäre verhandelt. Ich beobachte diese freundlichen Vögel, die rücklings in Händen der Menschen liegen, indessen sie mit ihren Fingern durch blutige Kanäle segeln. Nie könnte ich präzise sagen, wie sich jene Menschen, die ich beobachte, in dieser Zeit ihres Segelns verändern, ihr Gehirn, ihre Ansichten, ihre zukünftige Handlungsweise. — stop
Mutters letzter
Sommerhut der ihr immerzu
in die Stirn rutschte
als noch Sommer mit
Mutter war
15 Uhr 12
echo : 15.12 UTC — Die Welt der Wörter gleicht sich der veränderten Weltlage an. Seit einer halben Stunde das Wort Aerosolbombe in meinem Gehör, wie viel Gramm? — stop
zerzaust
zoulou : 12.28 UTC — L. erzähle vor langer Zeit, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — Das Radio erzählt von einer Reporterin der Besatzungsarmee, sie habe Menschen, welche vor Lastkraftwagen warteten, um Brot zu erhalten, geraten, dankbar zu sein. — stop
voliere
echo : 18.58 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in Blau, Orange, Grün und Rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. Das Radio erzählt, in Mariupol würden Telefonsimkarten wie Brot verteilt. Menschen standen, so wird berichtet, mit versteinerten Gesichtern in Reih und Glied vor Lastkraftwagen. — stop
im schachtelzimmer
echo : 0.02 UTC — Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege nach und nach derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zurzeit außer Reichweite, aber ich werde die Geschichte so bald wie möglich überprüfen. Es ist eine Geschichte, die behilflich sein könnte, schnelle Drohnenvögel einzufangen, wenn man ihrer Gattung einmal zufällig begegnen sollte oder von einer Mikrodrohne verfolgt sein würde. — Seltsame Wörter kehren zurück: Waffenstillstand . Bunker . Flugverbotszone . humanitärer Fluchtkorridor. Auch wird laut und deutlich über Machiavelli nachgedacht, über den Vorteil, in Kriegs- oder anderen Zeiten als verrückt zu gelten. — stop
vögel
india : 18.55 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss irgendwo in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in blau, orange, grün und rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. — stop
maskentier No 1
tango : 0.06 UTC — In einer gezeichneten Vorstellung der Maskentiere sind Augen zu bemerken. Das ist sehr seltsam, weil Augen nicht eigentlich sinnvoll oder unverzichtbar sind für den Zweck, dem Maskentiere bald einmal dienen werden. Es ist nämlich so, dass Maskentiere in der Lage sein sollten, sich auf menschliche Münder und Nasen niederzulegen, um dieselben zu beatmen, demzufolge Luft aus der Atmosphäre zu entnehmen, um diese eventuell kontaminierte Luft für Menschen oder andere Tiere sorgfältigst zu filtern, indem sie in Stunden, da sie ihrer Bestimmung folgen, auf vielfältig gestalteten Wangen, Nasenrücken, Halspartien so dicht zu liegen kommen, dass kein Gramm einer Virenlast je an ihren Rändern oder Enden entweichen könnte. Es ist stattdessen ganz wunderbar saubere Luft, die sie spenden, und es ist ganz wunderbar saubere Luft, die sie im Gegenzug wieder an die Welt zurückgeben werden. Natürlich ist denkbar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Lederhaut hindurch nach draußen dringen wird, es wird also stiller unter den Menschen, die schweigen und sich sicher fühlen, sobald sie mit ihren wärmenden Masken über Straßen und durch Warenhäuser spazieren. Dann ist Abend geworden, und man legt das getragene Tier zurück in einen Behälter, der mit Wasser gefüllt ist. Dort schwimmen sie dann aufgeregt unter weiteren Maskentieren herum und erzählen sich Geschichten, was sie hörten und was sie gesehen haben, während des Tages, indessen sie sich säubern und paaren, um weitere Maskentiere zu erzeugen. — Auch Ohren, jawohl! — stop
variationen
echo : 20.08 UTC — Ein Programm existiert, welches digital verzeichnete Geräusche zu analysieren vermag. Ich entdeckte mit seiner Unterstützung den Titel eines Standards von Benny Goodman. Beobachtete Konzertfilme, Variationen ein und desselben Stücks, ähnlich der anatomischen Variationen, die in menschlichen Körpern zu finden sind. Schallplatten, digitale Kopien wie gefroren. Zeitkapseln, die wie kleinste Teilchen durch den Raum reisen, Moleküle treffen, Informationen verändern. — stop