olimambo : 6.28 — Nehmen wir wieder einmal an, ich könnte die Geschwindigkeit meines Denkens für einen ganzen Tag vorausbestimmen, etwa so, als würde ich die Drehgeschwindigkeit einer Schallplatte durch das Umlegen eines Hebels verändern. Würde ich mich beschleunigen oder würde ich mich bremsen? Denke ich so schnell oder so langsam wie vor Jahren noch? — stop
Aus der Wörtersammlung: ränder
nahe montauk
charlie : 3.28 — Z. erzählte vor wenigen Tagen, sie habe einen Freund besucht, der in einem Strandhaus nahe Montauk auf Long Island lebe. Er habe ihr im wortwörtlichen Sinne sein Herz geschenkt. Dieses geschenkte Herz soll sich seit zwei Jahren freischwebend in Konservierungsflüssigkeit befinden, indessen das neue Herz ihres Freundes, ein tatsächlich sehr junges Herz, sich inzwischen mit einem sehr viel älteren Körper gut angefreundet habe. Z. sagte, sie habe das Herz, welches von Glas ummantelt sei, sorgfältig in ihrem Rucksack verstaut und sei damit in den Zug gestiegen. Im Zug habe sie das Herz hervorgeholt und vor sich auf den Tisch des Abteils gestellt. Sie habe während der langen Fahrt nach New York zurück das alte Herz ihres Freundes eingehend studiert, vor allem wie sich im Meereslicht, das durch das Zugfenster einströmte, die Konturen des Herzens und seine Farben lebhaft veränderten. — stop
nachtmann
victory : 0.55 — Es ist 1 Uhr mitten in der Nacht und es regnet. Ein Mann kommt auf seinem Fahrrad weit unten pfeifend die Straße entlang. Irgendetwas ist seltsam, er kommt sonst zu anderer Zeit, er kommt sonst immer um 3 Uhr, niemals früher, und niemals, wenn es nach halb 4 Uhr geworden ist. Ich habe vor einiger Zeit von diesem Mann bereits berichtet, dass ich ihn einmal von oben her beobachtet habe, dass er sich in einer Weise verhält, als würde er selbst eine abgeschlossene Geschichte sein, zu der sich nichts wirklich Neues hinzufügen lässt. Heute Nacht stellte ich mir vor, seine Erscheinung könnte vielleicht glänzen, weil er nass ist, seine Haube, sein Mantel, sein Fahrrad. Vielleicht wird er hoch schauen zum Dach, wird das Licht sehen hinter meinen Fenstern, wird sagen: Der Nachtmensch ist wieder da! — Ich muss mich geirrt haben, es ist tatsächlich so, dass sich dieser Mann irgendwie zu verändern scheint, seine Geschichte, nicht nur die Geschichten in den Zeitungen, die er zu schlafenden Menschen bringt, mindestens wird der Mann immer älter, wie ich immer älter werde, und sein Fahrrad, als ich vor drei Wochen verreiste noch ohne, verfügt plötzlich über einen Motor, der knattert. — stop
vom zeitfalten
alpha : 0.55 — Ich erinnerte mich, ich weiß nicht warum, an eine Geschichte Julio Cortázars, die von einer Fliege erzählt, die auf dem Rücken geflogen sein soll, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege nach und nach derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Sicher ist, dass diese Geschichte von einer Fliege erzählt, die auf dem Rücken fliegt, und auch, dass ich nicht sagen kann, warum ich mich plötzlich an sie erinnerte, und auch nicht, ob ich mich jemals wieder an sie erinnern werde. — stop
tintenfinger
lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in sehr kleine Teile zerlege. — stop
zerzaust
victor : 0.55 — L. erzählt, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafes, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, sehr selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein bisschen wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, irgendjemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau anderherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mit Hilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
nazamins schwester
echo : 5.08 — Ich träumte von merkwürdigen Tieren, die sehr flach sind und weich und außerdem sehr schön gestaltet. Wenn man eines dieser Tiere auf einem Tisch in der Wirklichkeit vor sich liegend betrachten könnte, würde man vielleicht die Ähnlichkeit zu Briefmarken erkennen, so wie wir sie als Kinder entdecken und zu sammeln beginnen. Tatsächlich handelt es sich bei jenen Tieren, welche ich träumte, um Briefmarkentiere, die sehr leicht sind, manche tragen die Zeichnung weiterer Tiere auf ihrem Körper, Zebras oder Schmetterlinge oder Singvögel sind häufig auf ihrem Rücken zu erkennen. An einem ihrer gezahnten Ränder sitzen sehr kleine Augen fest, dort soll sich gleichwohl ein Mund befinden, der feinste Stäube aus der Luft entnimmt, Pollensamen, Bakterien, Sporen jeder Art, davon ernähren sich Briefmarkentiere vornehmlich, es sein denn, sie werden mit feinstem Puderzucker vorsätzlich gefüttert. Briefmarkentiere sollen dort zu erwerben sein, wo man auch herkömmliche Postwertzeichen bestellen kann, sie sind zunächst nicht so preiswert wie das papierene Material, dafür mehrfach verwendbar. Um einen Brief mit einem Briefmarkentier zu versehen, legt man das betreffende Schriftstück im Kuvert auf einen Tisch, setzt nun behutsam eines der Briefmarkentiere an geeignete Stelle, nämlich genau dorthin, wo normalerweise papierene Briefmarken aufzutragen sind, und schon wird man beobachten wie sich das Briefmarkentier mit seinem neuen Zuhause verbindet, es schmiegt sich an und ist fortan vom Brief nur noch mittels Gewalt zu trennen. Wie es jetzt leuchtet, wie es seine wunderbaren Farben zeigt, wie es mit Mustern spielt und mit Bildern, die zu Filmen werden, zu Geschichten, die das Briefmarkentier irgendwo gelernt haben muss. Und wenn nun der Brief auf die Reise geht, reist das Briefmarkentier mit ihm mit, und bleibt dem Brief solange verbunden, bis der Brief geöffnet wird. In diesem Moment der Öffnung, löst sich das Briefmarkentier von seinem Brief, der nun nicht mehr sein Brief sein kann. Es ist kaum zu glauben, aber es ist wahr, ich hab’s geträumt, das Briefmarkentier segelt sogleich durch die Luft davon, es ist sehr schnell unterwegs, schnell wie ein Zugvogel kehrt es zu seinem Absender zurück, Tage oder auch Wochen ist es unterwegs, Schwärme von Briefmarkentieren wurden bereits in großer Höhe über dem Erdboden beobachtet. Zuhause endlich angekommen, lungern sie dann gern an den Fenstern und warten. stop. Ende meines Traumes. stop – Nazamins Schwester wurde am vergangenen Samstag in den Bergen nahe Semdinli vermutlich von türkischer Militärpolizei getötet. Nazamins Schwester wird nie wieder erwachen. – stop
vom tattermandl
ulysses : 0.12 — Ich stellte mir, aus gutem Grund, einen Feuersalamander vor, der über zwei Köpfe verfügt. Inwiefern, fragte ich mich, würde sich seine besondere anatomische Gestalt auf die Art und Weise seiner Fortbewegung auswirken? Wäre der Feuersalamander noch in der Lage, sich fortzubewegen, wie es für Feuersalamander leicht schaukelnd üblich ist, oder würde sich das kleine Tier etwa im Kreise drehen, vielleicht deshalb, weil der linke seiner Köpfe, sein Hauptkopf, etwas schwerer wiegt als sein rechter Kopf, der überhaupt nur deshalb existiert, weil ein früherer Salamanderkörper von einem Strahlenteilchen getroffen wurde, weswegen sich sein Zelltext veränderte, weswegen für einen späteren, unseren illuminierten Salamander bereits im Larvenstadium ein zweiter Kopf vorgeschrieben war. Ich könnte vielleicht sagen, dass der zweite Kopf des Salamanders mit dem Eintreffen des strahlenden Teilchens zu einem Zeitpunkt, da er selbst noch gar nicht existierte, unvermeidbar wurde. Vier Augen nun, von welchen zwei unmittelbar in der Lage sind, sich zu betrachten, weil sie sich gegenüberliegen, weil sie je seitwärts, eben nicht geradeaus, in die Welt hinaus schauen. Ich erinnere mich an eine Fotografie, auf der ich selbst zu sehen bin, wie ich schlafe. — stop
apollo
sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop