romeo : 6.18 — Im Gespräch mit einer jungen Muslima. Aus heiterem Himmel erzählt sie von ihrem Haar, das seit 25 Jahren vor den Blicken fremder Männer geschützt unter einem Kopftuch verborgen liegt. Mein Erstaunen zunächst, dass ich mit den Ohren erfahren darf, was ich mit den Augen nicht wahrnehmen kann. Ich vermag Dein Haar mit den Ohren zu betrachten! Antwort: Alles, was Du in Deiner Vorstellung mit den Ohren siehst, hast Du niemals wirklich gesehen! Sie lacht jetzt, setzt hinzu: Aber den Imamen würde nicht gefallen, was wir hier erzählen. — stop
Aus der Wörtersammlung: remington
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romeo : 1.55 — s e h n e n f a d e n
zivilisation
romeo : 5.51 — Ein schwergewichtiger Mann unlängst am Ende der Nacht während einer Straßenbahnfahrt. Drückt mich samt Schreibmaschine zur Seite. Ein harter, zunächst schweigender Körper, fahles Gesicht. Dann mit gepresster Stimme. Ich sei einer, der in der 1. Klasse reisen sollte. Unterdrückte, massive Gewaltbereitschaft, die bei leisester Provokation hemmungslos auszubrechen droht. Enormer Hass aus kleinen Augen. Ein Moment, da ich glaube, dem Bösen höchstpersönlich zu begegnen. Der massige Mann folgt mir an diesem Frühlingsmorgen klarer Luft über die Straße. Das Singen der Amseln in den Bäumen. Der glühende Wunsch in meinem Kopf, die Gestalt hinter mir mittels eines Skalpells sorgfältig in kleinste Teile zu zerlegen. Ein Hauch nur, so fein die Haut der Zivilisation, die mich im Innern schützt. — Erneut endende Nacht. Ein Reporter stand gerade noch vor mir auf einem Dach in Tokio. Er sagte, diese Situation, morgens zu erwachen und zu bemerken, dass wieder ein Kernreaktor explodiert ist, sei surreal. — Man müsste, denke ich, auf der Stelle Käferwesen erfinden, die sich rasch vermehren, Milliarden Käfer Stunde um Stunde, Wesen, die sich unverzüglich auf die Jagd nach kleinsten Teilchen in der Atmosphäre machen würden, um sie zu verspeisen, weil das ihre Bestimmung ist, ihre Leidenschaft, das Jagen, das Fangen und das Segeln auf strahlenden Flügeln weit aufs Meer hinaus. — stop
luftteilchen
romeo : 6.02 — Wie mich das begeistert, Details einer Geschichte nachzudenken, feinsten Teilchen einer Wirklichkeit, die später einmal unsichtbar sein werden in der Zeichenlinie auf Papieren, nur für mich wahrnehmbar im Moment der Erfindung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Farbe der Wolken über einer Landschaft. Oder eine Bewegung. Die Bewegung einer Hand, eines Mundes, einer Schrift. Das Murmeln einer Stimme im Schlaf. Gestern habe ich darüber nachgedacht, welcher Art ein Geschenk sein könnte, das ich mit mir nehmen würde, wenn ich ein befreundetes Ehepaar besuchte in seiner wohlgestalteten Wohnung, die eine menschliche Wohnung ist, aber eben vollständig mit Wasser gefüllt. Ich dachte, dass ich ihnen eine Schmuckschnecke zum Geschenk machen sollte, ein ganz besonderes Exemplar von der Größe einer Hand, das nun über die Wände der unterseeischen Behausung gleiten und musizieren würde, warme, leise pfeifende Geräusche. Diese freundliche Molluske könnte von innen her blau beleuchtet sein, so weit lässt sich das gut denken. Wie aber verpacke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teufel lassen sich 2 Pfund Süßwasserschnecke artgerecht verschnüren? — stop
lufteisschrift
romeo : 2.18 — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Guten Morgen. Heute ist Mittwoch. — stop
taschenspielzeug
romeo : 2.01 — Träumte, obwohl ich New York besuchen wollte, nahe Montauk gelandet zu sein. Hatte meinen Impfpass vergessen und man sagte mir noch an Bord des Flugzeuges, dass ich ohne Impfpass niemals nach New York hineingelassen werden würde. Man landete also rasch an nächster Küste und setzte mich dort ab. Die Stadt Montauk nun bestand aus flachen Hütten. Seltsame Menschen lebten in diesen Hütten. Sobald ich mich einer Hütte näherte, traten sie zu mir auf die Straße und erzählten, wie ich den Flughafen wieder finden könnte, weil ich mich in der Stadt sofort verirrt hatte. Als sie hörten, dass ich ohne Impfpass sei, sagten sie: Vergessen Sie New York. Alle diese freundlichen Menschen, denen ich auf der Straße vor ihren hölzernen Häusern begegnete, führten eine Plastiktasche mit sich, die sie an einem Lederriemen nahe der Achselhöhle befestigt hatten. In dieser Tasche lebten ihre Kinder in einer weiteren Stadt, die den Namen Montauk trug. Die Stadt musste jeweils sehr leicht gewesen sein, weil die Menschen weder gebückt gingen, noch ihre Taschen auf den Boden stellten, um sich mit mir über meine vergebliche Reise nach New York zu unterhalten. Manchmal, wenn es leise wurde, wenn die Wellen des nahen atlantischen Meeres gerade einmal Pause machten, konnte ich sehr feine, helle Stimmen vernehmen, Automobilhupen und Flugzeuge, Geräusche direkt von der nächsten Tasche her. — stop
time
quentin crisp
romeo : 18.12 — Samstag. Regen. Knisternde Fenster. Beobachtete die Filmbiografie des homosexuellen Schriftstellers Quentin Crisp vor und zurück. Gegen Ende seines Lebens folgende Sätze: Beharrlichkeit ist Ihre stärkste Waffe. Es liegt in der Natur von Barrieren, dass sie fallen. Versuchen Sie nicht so zu werden wie Ihre Widersacher. Sie tragen die Bürde und haben die große Freude, Außenseiter zu sein. Jeder Tag, den Sie leben, ist eine Art Triumph, daran sollten Sie immer festhalten. Sie sollten sich nicht bemühen und versuchen, sich der Gesellschaft anzuschließen. Nein, bleiben Sie stets da, wo Sie sind. Geben Sie Ihren Namen und Ihre Seriennummer und warten Sie darauf, dass die Gesellschaft sich um Sie herum bildet. Denn das wird sie höchstwahrscheinlich tun. Schauen Sie niemals nach vorn, wo es die Zweifel, und niemals zurück, wo es das Bedauern gibt. Nein, schauen Sie immer nach Innen, und fragen Sie sich nicht, ob es in der Außenwelt etwas gibt, was Sie wollen, sondern ob es Innen irgendetwas gibt, das Sie noch nicht ausgepackt haben. / zitiert nach der Tonspur des Films “An Englishman in New York”
fächer
romeo : 2.33 — Meine blauen Kinderschuhe. — stop
juli 14
romeo : 22.38 — Stunde um Stunde auf Fährschiffen zwischen Staten Island und der südlichen Spitze Manhattans hin und her. Ein schaukelnder Ort. Ein Ort, der im Moment meiner ersten Begegnung schon vertraut gewesen war, als ob ich vor langer Zeit geboren wurde auf einer der brummenden Bänke, ein früher Blick, Schatten riesiger Möwen hinter Scheiben, auf welchen Salzkristalle funkelten, der Klang der Nebelhörner, und wieder oder immer noch seither dieser rote Ball, den die Bewegung des Meeres über das untere Deck der Fähre spielt. Heiß und stickig, der Tag meiner Notiz, auch über der Upper Bay ruhte bewegungslos die Luft, bereit zu sinken. Lungerte mit Reiseschreibmaschine auf den Knien hechelnd, Luvseite, herum und wartete. — stop